: Herrschaft und Widerstand in der "Musterkolonie" Kiautschou. Interaktionen, 1897-1914. München 2000 : Oldenbourg Verlag, ISBN 3-486-56465-X 474 S. € 79,80

: Qingdao. Chinesen unter deutscher Herrschaft 1897-1914. Bochum 1999 : projekt verlag, ISBN 3-89733-038-5 356 S. DM 34,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thoralf Klein, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität

Die hundertjährige Wiederkehr der Besetzung von Kiautschou (Jiaozhou) durch deutsche Truppen im Jahre 1997 lenkte den Blick einer breiteren deutschen Öffentlichkeit auf diese kleine deutsche Kolonie mit der "Hauptstadt" Qingdao (Tsingtau) 1. Eine vom Deutschen Historischen Museum in Berlin durchgeführte Großausstellung 2 sowie ein öffentliches Symposium 3 boten in diesem Zusammenhang Gelegenheit, Ergebnisse der in den 1990er Jahren intensivierten, von Chinesen und Deutschen getragenen Forschungen zu präsentieren. Insofern ist es zu bedauern, daß die Studien von zwei der an diesen Forschungen Beteiligten erst jetzt vorgelegt werden, da das öffentliche Interesse wieder abgeflaut ist: die Berliner Dissertation von Klaus Mühlhahn und die Freiburger Doktorarbeit des Taiwanesen Huang Fu-teh.

Um es vorwegzunehmen: Beide Arbeiten eröffnen neue und bislang unberücksichtigt gebliebene Perspektiven auf die kurze Geschichte deutscher Herrschaft über Kiautschou, das 1914 von Japan erobert wurde. Dabei weisen sie trotz der Ähnlichkeiten im Titel eine sehr unterschiedliche Konzeption auf:

Huang konzentriert sich in seiner eher knappen, empirisch ausgerichteten und quellennahen Darstellung auf die Situation der Chinesen unter der deutschen Kolonialherrschaft. Dabei stützt er sich infolge der asymmetrischen Quellenlage in erster Linie auf deutsches Quellenmaterial.

Mühlhahns wesentlich breiter angelegte Studie unternimmt einen theoretisch abgestützten Versuch, die deutsche Kolonialherrschaft in Qingdao insgesamt zu deuten und im Grunde ein neues Deutungsmuster für die Kolonialgeschichte überhaupt zu etablieren. Im Zentrum seines umfangreichen theoretischen Apparats steht das Konzept der "interkulturellen Interaktion". Mühlhahn entwickelt so ein Analysemuster, das die aufeinander bezogenen Deutungen und Handlungen von Kolonialherren und Kolonisierten als gleichwertig erfassen soll (S. 29-33). Die in neueren Arbeiten zur europäischen Expansion beobachtbare Tendenz, die sozialen und kulturellen Handlungsspielräume der unterworfenen autochthonen Bevölkerung hervorzuheben 4, erhält somit ein theoretisches Fundament. In Abgrenzung von älteren, eindimensionalen und unilinearen "Großtheorien" der Imperialismusforschung (etwa Modernisierungstheorien, "Tradition-Moderne"-Dichotomie oder dem "impact-response"-Modell) plädiert Mühlhahn ferner für eine mikrohistorische Betrachtungsweise. Diese ermöglicht ihm, die zwischen Kolonialherrschaft und autochthoner Bevölkerung wechselseitig ablaufenden Prozesse flexibel zu erfassen.

Hier ist jedoch anzumerken, daß Mühlhahns Interaktionskonzept auf etwas anderes zielt als zumindest ein Teil der angesprochenen Theorien: Während diese die durch Imperialismus bzw. Kolonialismus ausgelösten soziokulturellen Wandlungsprozesse zu beschreiben suchen, rückt Mühlhahn weniger die Folgen als vielmehr die Struktur der wechselseitigen Beziehungen bei dieser gewaltsamen Form des Kulturkontakts in den Mittelpunkt. Vor dem Hintergrund eines diskursiven Kulturbegriffs erörtert Mühlhahn die Diskurse von Deutschen und Chinesen über die jeweils andere Seite und verleiht seiner Analyse so eine zusätzliche Tiefendimension.

Übereinstimmend schildern Mühlhahn und Huang die Besetzung von Kiautschou als einen Vorgang, bei dem die deutschen Besatzer China rücksichtslos einen auf 99 Jahre angelegten Pachtvertrag für die kleine Kolonie aufzwangen und außerdem wirtschaftliche Sonderrechte im Hinterland der Provinz Shandong ertrotzten. Widerstand der lokalen Bevölkerung wurde mit größter Brutalität gebrochen (Mühlhahn S. 118-134); viele Einheimische wurden von der immerhin mit Entschädigung verbundenen Zwangsevakuierung in Mitleidenschaft gezogen (Huang S. 98 f.). Mühlhahn kann jedoch erstmals in dieser Deutlichkeit zeigen, daß die chinesische Seite von Beginn an einen aktiven Part bei der Ausgestaltung der Rahmenbedingungen für die deutsche Kolonialherrschaft spielte und sich gewisse Mitspracherechte erhalten konnte. Vor allem gelang es ihr durch gezielte Förderung privatwirtschaftlicher Initiativen, eine wirksame Konkurrenz zu den deutschen Eisenbahn- und Bergbaugesellschaften in Shandong zu etablieren. Neben dieser gezielten Wirtschaftspolitik nach westlichem Muster, zu der auch die bislang wenig beachteten sog. "selbsteröffneten Handelszonen" (S.154-159) gehörten, waren die Beständigkeit der überkommenen Wirtschaftsstrukturen, das selbstbewußte Auftreten der chinesischen Kaufmannschaft in Qingdao sowie der aufkommende chinesische Nationalismus für die Tatsache verantwortlich, daß sich die wirtschaftlichen Hoffnungen der Deutschen nicht erfüllten.

Die Ordnung des kolonialen Raumes wird von Mühlhahn ausführlich erörtert, von Huang wiederholt angesprochen. Danach herrschte im Pachtgebiet eine abgestufte räumliche Hierarchie, innerhalb derer die Kontrolle und Intervention in der Stadt Qingdao selbst am größten, an der ländlichen Peripherie am geringsten war. Das Verhältnis zwischen Europäern und Chinesen beruhte auf zwei unterschiedlichen Diskursen auf deutscher Seite: einem rassisch-biologischen, der in den Chinesen das unveränderlich Andere erblickte, und einem ethnisch-kulturellen, der auf die Veränderung der chinesischen Kultur abzielte. Auf dem ersten der beiden Diskurse beruhte eine bis kurz vor Ende der deutschen Kolonialherrschaft gültige Politik der Segregation zwischen Chinesen und Deutschen, auf der zweiten eine auf die Vermittlung deutscher Kultur an die Chinesen abzielende Politik (Mühlhahn S. 282 ff., vgl. Huang S. 72 und 200). Insbesondere Mühlhahn sieht in der Schul- und Gesundheitspolitik des deutschen Gouvernements eine Strategie der Manipulation am Werk, die neben die Zwangsmittel der deutschen Verwaltung trat und die Integration der Chinesen in das auf Ungleichheit beruhende koloniale System fördern sollte.

Kontrovers beurteilen die beiden Autoren in erster Linie das Nebeneinander unterschiedlicher Rechtssysteme für Deutsche und Chinesen: Mühlhahn erblickt darin ein Instrument der Segregation, durch das den Chinesen die Vorteile des "modernen" europäischen Rechts vorenthalten worden sei (220 und 232 ff.). Huang verweist demgegenüber auf die Janusköpfigkeit des für die Chinesen geschaffenen, drakonische Härten chinesischer Rechtspflege vermeidenden Mischrechts: Einerseits habe darin eine Rücksichtnahme der Deutschen auf chinesische Traditionen gelegen, und im Landgebiet seien Streitigkeiten oftmals wie zuvor von den Ortsältesten geschlichtet worden, andererseits sei mit dem Chinesenrecht vor allem dem Interesse der Verwaltung an schnellen, kostengünstigen und unbürokratischen Verfahren entsprochen worden (77 ff.).

Was die chinesischen Reaktionen auf die deutsche Kolonialherrschaft betrifft, so konzentriert sich Mühlhahn fast ausschließlich auf Personengruppen, die außerhalb des Pachtgebiets lebten: Lokale Beamte hielten die Beziehungen zur Einwohnerschaft der Kolonie aufrecht, moderne Nationalisten kritisierten das Chinesenrecht Qingdaos als antiquiert, weil es u.a. an der in China mittlerweile abgeschafften Prügelstrafe festhielt, und Revolutionäre wie Sun Yatsen bewunderten in erster Linie die Techniken der Kolonialverwaltung zur sozialen Disziplinierung. Huang lotet demgegenüber die Situation der Chinesen in Kiautschou selbst aus. Anhand der Situation chinesischer Kaufleute, Arbeiter, Dienstboten und Polizisten bietet er immer wieder Beispiele dafür, daß der einheimischen Bevölkerung trotz des rigiden Kolonialregimes gewisse Handlungsspielräume im Umgang mit den Europäern zur Verfügung standen. Ausgehend von der wirtschaftlichen Lage der verarmten Landbevölkerung weist er darauf hin, daß Kiautschou für viele Chinesen die Möglichkeit zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen bot. Manchen wohlhabenden Kaufleuten wie dem mit einer Deutschen verheirateten (!) Li Deshun gelang es, sich im Europäerviertel niederzulassen, noch bevor solche Ausnahmen Anfang 1914 offiziell gestattet wurden (S. 112).

Während Huang sich auf die Verhältnisse in Kiautschou selbst konzentriert, geht Mühlhahn noch einen Schritt weiter und untersucht die Rolle der deutschen katholischen Mission außerhalb des Pachtgebiets. Dabei geht es ihm nicht nur um die Rolle der Mission bei der Besetzung Qingdaos, für die bekanntlich die Ermordung zweier Missionare den Vorwand lieferte. Vielmehr betrachtet er die Interaktionen zwischen Missionaren und Christen einerseits, Beamten und nichtchristlicher Bevölkerung andererseits unter dem Gesichtspunkt der gegenseitigen "religiösen Exklusion". Da die Missionare die chinesische Volksreligion als unvereinbar mit dem Christentum betrachteten, zwangen sie ihre Christen zur Trennung von allen überkommenen Kulten. Dadurch destabilisierten sie die religiös fundierte lokale Sozialordnung und provozierten nichtchristliche Bevölkerungsteile zum Widerstand, der sich gleichermaßen aus religiösen wie materiellen Motiven speiste. Die Spannungen entluden sich zunächst in der Aktivät von Faustkampfgesellschaften und kulminierten schließlich im für China so fatalen Boxeraufstand. Nach dessen Niederschlagung setzten die höheren Beamten Shandongs ein Modernisierungsprogramm in Gang, das den Einfluß der Volksreligion zurückzudrängen suchte.

Obwohl Mühlhahn um eine differenzierte Analyse aller an diesen Konflikten beteiligten Gruppen bemüht ist, kommt bei ihm doch die ambivalente Position der chinesischen Christen zu kurz, die einerseits im Konflikt mit den Nichtchristen lagen, andererseits sozial keineswegs völlig isoliert waren. Außerdem kann das Konzept der "religiösen Exklusion" nicht plausibel erklären, weshalb das Christentum so häufig als Bündnispartner in Auseinandersetzungen lokaler Gruppen hineingezogen und somit für Ziele der chinesischen Seite funktionalisiert wurde.

Überhaupt geht Mühlhahn vor dem Hintergrund seiner Diskursanalysen von einer grundlegenden kulturellen Dichotomie zwischen Deutschen und Chinesen aus. Auf die im Kontext kolonialer Interaktionen so wichtige Funktion der "cultural brokers" - wie z.B. Dolmetscher oder die im europäisch-chinesischen Handelsverkehr so wichtigen Kompradoren - geht er so gut wie gar nicht ein. Insgesamt gelingt es seiner faszinierend materialreichen, differenzierten und theoretisch fundierten Studie aber sehr wohl, etablierte holistische und unilineare Sichtweisen auf koloniale Kontaktsituationen aufzubrechen und ein flexibles, gleichwohl allgemeingültiges Interpretationsmuster zu entwickeln.

Bei Huang verhält es sich beinahe umgekehrt: Nicht nur schenkt er den kulturellen Schnittstellen große Aufmerksamkeit, sondern er betont auch die Fähigkeit der chinesischen Bevölkerung zu praktischen Arrangements mit den Kolonialherren: "Aus chinesischer Sicht war Qingdao keine deutsche 'Musterkolonie', aber immerhin eine Stätte, an der es sich leben ließ" (13). Insgesamt mißt er dem rassistischen Diskurs der Kolonialherren zu wenig Gewicht bei, so daß viele Entscheidungen der Kolonialverwaltung ausschließlich aus pragmatischen Motiven erklärt werden - zweifellos auch ein Resultat der Quellenlage. Trotzdem ist seine Arbeit von großer Bedeutung, vor allem, weil er die Situation der chinesischen Bevölkerung Qingdaos aus den Verhältnissen in der Kolonie selbst (und nicht in erster Linie aus der Situation in China) zu erklären versucht.

Insgesamt können weder Mühlhahn noch Huang ein Deutungsmonopol für die Geschichte der Kolonie Kiautschou beanspruchen. Bis auf wenige Details schließen sich ihre Interpretationen jedoch gar nicht aus, sondern ergänzen einander. Erst eine komplementäre Lektüre beider Arbeiten macht somit jene ambivalente Spannweite zwischen Konfrontation und Kooperation deutlich, wie sie für koloniale Systeme charakteristisch ist.

Anmerkungen:
1 Die Bezeichnungen "Kiautschou" und "Qingdao" werden in der Literatur in der Regel synonym zur Bezeichnung des Pachtgebiets verwendet, obwohl Qingdao eigentlich nur die Hafenstadt meint. Hinsichtlich der Schreibweise hat sich bei "Kiautschou" die deutsche Umschrift zur Bezeichnung des Pachtgebiets durchgesetzt (um es von der chinesischen Stadt Jiaozhou zu unterscheiden), bei Qingdao die chinesische.
2 Vgl. den Ausstellungskatalog von Hans-Martin Hinz/Christoph Lind (Hgg.): Tsingtau. Eine Kapitel deutscher Kolonialgeschichte in China 1897-1914. Berlin: Deutsches Historisches Museum 1998.
3 Dokumentiert in: Hermann Hiery/Hans-Martin Hinz (Hgg.): Alltagsleben und Kulturaustausch. Deutsche und Chinesen in Tsingtau 1897-1914. Wolfratshausen: Edition Minerva 1999.
4 Vgl. beispielsweise Reinhard Wendt: La Fiesta Filipina. Koloniale Kultur zwischen Imperialismus und neuer Identität. Freiburg: Rombach 1997 (Rombach Wissenschaft. Reihe Historiae 10); Peter Haenger: Sklaverei und Sklavenemanzipation an der Goldküste. Ein Beitrag zum Verständnis von sozialen Abhängigkeitsbewegungen in Westafrika. Basel/Frankfurt a.M.: Helbing & Lichtenhahn 1997.

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