T. Serrier: Entre Allemagne et Pologne

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Titel
Entre Allemagne et Pologne. Nations et identités frontalières, 1848-1914


Autor(en)
Serrier, Thomas
Erschienen
Paris 2002: Belin
Anzahl Seiten
351 S.
Preis
€ 19,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Daniel Engeldinger, Centre Marc Bloch, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Region Großpolen gehört nicht zu den bevorzugten Gegenständen kulturwissenschaftlicher Forschungen. Zu Unrecht: In dem traditionellen Grenzgebiet zwischen dem alten Reich und der polnischen Adelsrepublik berührten und verflochten sich polnische, deutsche und jüdische Geschichte. Diese Verflechtungen machen die Gegend zwischen Birnbaum – Miedzychód und Kutno zu Zeiten, in denen Polen geteilt war, dann für kurze Zeit die Unabhängigkeit wiedererlangte und erneut von den Armeen der Nachbarn besetzt wurde, zu einem idealen Forschungsfeld für die histoire croisée. Der größte Teil Großpolens war zwischen 1793 und 1807 sowie zwischen 1815 und 1918 Teil des preußischen Teilungsgebiets.

Die Region (im 19. Jahrhundert "Großherzogtum Posen", nach 1848 nur "Provinz Posen" genannt) gehört zu den wichtigsten Schauplätzen der polnischen Geschichte. Hier war die „Wiege“ der ersten polnischen Dynastie, befand sich der Sitz des Primas von Polen. Im Mittelalter fanden Juden aus Westeuropa hier dauerhaften Schutz vor Verfolgungen. Eine kulturelle Blüte erlebte die Region in Polens goldenem Zeitalter, der Renaissance. Nach den Teilungen wurde sie zu einem der Brennpunkte des polnischen Unabhängigkeitskampfes. Dennoch entwickelte sich die moderne nationale Identität langsamer, vollzogen sich „nation building“-Prozesse in dieser multiethnischen Gemengelage verzögert, wurden aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit umso größerer Wucht wirksam.

Mit dieser Entwicklung beschäftigt sich in seiner Dissertation Thomas Serrier, Absolvent der Ecole Normale Superieure (Rue d’Ulm), Maitre de Conférence am Institut d’ Etudes Européennes der Universität Paris VIII.

In einer ausgewogenen Einleitung geht Serrier auf die Überlagerungen und vielfältigen Bezüge ein, die den Nationsbildungsprozess zwischen Märzrevolution und Erstem Weltkrieg prägten. Besonderes Gewicht legt der Pariser Kulturwissenschaftler auf die Versuche der deutschen Bevölkerung, sich in dieser polnischen Kernregion eine Tradition und eine regionale Ausprägung ihrer nationalen Identität zu erfinden – in einem Gebiet, das, von der mittelalterlichen Ostsiedlung abgesehen, keine über die gewöhnlichen europäischen Verflechtungen hinausgehenden Berührungspunkte mit der deutschen Geschichte hatte.

Aus dieser Region, deren Vergangenheit aus der Sicht dreier verschiedener Erinnerungstraditionen rekonstruiert werden konnte – der polnischen, jüdischen und deutschen – wurde durch das Zusammentreffen bestimmter politischer, wirtschaftlicher, demografischer und ideeller Komponenten (in Anlehnung an Hans-Ulrich Wehlers berühmtes Diktum) eine der brennendsten 'Krisenherde des Kaiserreichs'.1 Nach Ansicht Serriers stellen die untersuchten Differenzierungsprozesse ein Beispiel aus dem Lehrbuch für die Entstehung moderner Identitäten dar (S. 19). Mit den drei unterschiedlichen 'mémoires' beschäftigt sich der dritte Teil des Buches (S. 169 – 276).

Zunächst geht der Autor auf die besondere Bedeutung des historischen Raumes ein "Ce n'est pas [...] la frontière vue comme une ligne, mais au sein même de la région frontalière [...]" (S. 17). Die westliche Grenze Großpolens war bis ins 18. Jahrhundert hinein eine der stabilsten Staatsgrenzen in Europa. Erst mit den Teilungen begannen die Konflikte um diese Grenze und um die Grenzregion; zu einem Zeitpunkt also, als sie nicht mehr die Funktion der Staatsgrenze Polens hatte - das es als Staat nicht mehr gab -, sondern sie nur noch 'in den Köpfen' existierte. Dem Deutschen Bund von 1815 gehörte das Grossherzogtum Posen nicht an. 1867, als der Norddeutsche Bund gegründet wurde, verschob Preussen die nun deutsche Grenze nach Osten; dies war, so Serrier, der eigentliche Bruch des seit dem Mittelalter bestehenden Ordnungsgefüges (S. 45). Mit dem nationalen Anspruch auf den Besitz Großpolens begann der eigentliche Nationalitätenkampf.

Serrier vertritt die These, dass es erst dieser Bruch einer über Jahrhunderte festgelegten Ordnung war, der auch von polnischer Seite die Grenze in Frage stellte. Erst so sei das Streben Polens nach der vermeintlichen Rückkehr in die im Mittelalter beherrschten Gebiete an der Oder zu verstehen. " [...] le retour de la Pologne contemporaine s'explique par des causes plus profondes que la défaite allemande de 1945, autrement dit par la longue durée" (S. 10). Der Verlauf der deutsch-polnischen Grenze aber war im 20. Jahrhundert einer der vorrangigen Konfliktquellen zwischen beiden Staaten. Die deutsche nationale Entgrenzung provozierte als Reaktion eine analoge polnische Idee.

Methodologisch greift Serrier Ansätze von Anthropologen auf, die jene Prozesse betrachteten, in denen eine psychologische Grenze zwischen der eigenen Gemeinschaft und den Fremden gezogen wurde, unabhängig von der erfundenen nationalen Tradition (vgl. S. 15). Unterschiede zwischen den verschiedenen Teilen der Gesellschaft waren zunächst durch Muttersprache, familiäre Traditionen, kulturelle, historische und politische Bindungen bestimmt (vgl. S. 28). Serrier stellt anschaulich dar, wie diese Elemente zu sozial und politisch bedeutsamen Faktoren wurden. Korrespondierend zum Wandel der preußischen Polenpolitik zwischen 1793 und 1860, mit dem zunehmend restriktiven Verhalten der Staatsregierung, dem Auftreten radikaler Verbände (wie des Ostmarkenvereins) und dem Eintreten neuer Elemente in den Alltag, wie dem des wirtschaftlichen Boykotts, kam es zu immer stärkeren Dissimilations- statt Assimilationerscheinungen.

Mit diesem Phänomen beschäftigt sich der erste Teil der Arbeit (S. 25 – 108). Die polnischen Bildungseliten – unter ihnen der Arzt Marcinkowski, der Philosoph Libelt oder die Schriftsteller Kraszewski und Sienkiewicz - schufen Orte eines nationalen Gedächtnisses, wie Bibliotheken, Museen und gelehrte Gesellschaften. Sie nutzten dafür auch die zur Verfügung stehenden Massenmedien wie Presse und Buch. Den sozialen Veränderungen trugen diese Intellektuellen ‚avant la lettre’ durch neue Formen der Kommunikation zwischen Elite und anderen Teilen der Gesellschaft Rechnung. Erst verspätet, in den 1880er-Jahren, setzten Teile der deutschen Bevölkerung dieser Entwicklung Maßnahmen entgegen, die defensiven Charakter trugen. Sie waren weit weniger wirksam, obwohl sie massiv, auf Druck politisch einflußreicher nationalistischer Verbände, von der Regierung unterstützt wurden.

Allein der weitaus größte Teil der jüdischen Bevölkerung assimilierte sich stark an die Deutschen. Bedeutende Historiker wie Caro, Roepell und Warschauer, Buchhändler und Verleger wie Jolowicz, Vertreter des Bürgertums, herausragend der (konvertierte) Oberbürgermeister Posens zwischen 1891 und 1902, Witting, oder die Familien Kronthal und Jaffé spielten im intellektuellen und kulturellen Leben Posens eine grosse Rolle.

Der zweite Teil des Buches (S. 109-168) widmet sich, vor dem Hintergrund der außenpolitischen Verflechtungen, den Versuchen von privater Organisationen, identitätsstiftend zu wirken. Identitäten wurden häufig als Instrumente der Abwehr unliebsamer Einflüsse konstruiert: Das moderne polnische Nationalbewusstsein entwickelte sich aus dem geschlossenen Widerstand gegen den Kulturkampf. Immer weitere Teile der deutschen Bevölkerung dagegen fühlten sich durch das zunehmende quantitative Übergewicht der Polen und - unter den Bedingungen des politischen Massenmarkts - durch den wachsenden Einfluss der polnischen demokratischen Vertretung bedroht. Auf dieses Gefühl einer vermeintlichen Bedrohung reagierten der Alldeutsche Verband und der Ostmarkenverein. Aber auch der Verein für Sozialpolitik wirkte, unter Beteiligung bedeutender Wissenschaftler, in diese Richtung. Zu ihnen gehörten etwa die Historiker Hoetzsch und Lamprecht sowie die Nationalökonomen Schmoller und Max Weber. Konzepte wie 'Wacht an der Warthe' und 'Binnenkolonisation' hingen mit der zunehmenden Definition der Provinz als Bollwerk und Schutzwall gegen ein zum Feindbild stilisiertes "Slawentum" zusammen.

Im vierten Teil mit dem Titel "Wielkopolska, Posen, Ostmark: Palimpsestes germano-polonaises" (S. 277-293) greift Serrier schliesslich die Vielzahl unterschiedlicher Begriffe für die Region wieder auf, die er in der Einleitung bereits behandelt hat. Während er anfangs im Zusammenhang mit Raum- espace auf die Konnotation unterschiedlicher Begriffe eingegangen war, wie: des jiddischen Begriffs 'Polin Gadol' (S. 21), 'Preußisch-Polen', 'preußischer Osten', 'polnische Provinzen Preußens' – von ihm leitet er den Begriff 'polnisches Preußen' ab (Prusse polonaise, S. 29) -, setzt er sich am Ende des Buchs mit den zeitgenössischen Konzeptionen auseinander, die polnischerseits in der Historiografie, deutscherseits vor allem in der 'Heimat- und Ostmarkenliteratur' deutlich wurden. Die unterschiedlichen Namen für die Region standen stellvertretend für die geistigen Welten und unterschiedlichen Traditionen, denen sich die jeweiligen Teile der Bevölkerung zuordneten. In diesen "Denkwelten" vollzog sich ihre Wahrnehmung und spiegelte sich die jeweilige Assoziationsebene wieder.

Serriers Buch ist eine inhaltlich sehr lesenswerte Studie. Sie ist besonders hilfreich als Einführung in das Thema doppelter Identitätsbildung in einer ursprünglich multiethnischen Region. Sie besticht durch die Vielfalt der benutzten Quellen und die Herstellung bisher ungekannter Kontexte. Für sein Thema darf Thomas Serrier die kritische 'Distanz' zum Forschungsobjekt in Anspruch nehmen, die schon Marc Bloch für die Behandlung der mittelalterlichen Ostsiedlung herbeigewünscht hat.2

Einen kleinen Nachteil hat das Buch: Es benutzt, leider typisch für wissenschaftliche Publikationen aus der französischsprachigen Welt, eine, komplizierte wissenschaftliche Sprache, die eine Rezeption in Deutschland eher erschwert und manchmal sogar verhindert.

Anmerkungen:
1 Wehler, Hans-Ulrich, Krisenherde des Kaiserreichs 1871-1918, Studien zur deutschen Sozial-und Verfassungsgeschichte, Göttingen 1970.
2 Bloch, Marc, "Un problème de contact social: la colonisation allemande en Pologne", in: Annales d'histoire économique et sociale VI (1934).

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