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Titel
Jedwabne. Kollektives Gedächtnis und tabuisierte Vergangenheit


Autor(en)
Kowitz, Stefanie
Reihe
Sifria - Wissenschaftliche Bibliothek 6
Erschienen
Berlin 2004: be.bra Verlag
Anzahl Seiten
262 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas R. Hofmann, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Universität Leipzig

Das am 10. Juli 1941 von polnischen Nachbarn an den jüdischen Bewohnern der nordostpolnischen Kleinstadt Jedwabne begangene Massaker war in den Jahren 2000 und 2001 Gegenstand einer intensiven historischen Debatte in Polen. Auslöser dieser die Gemüter über ein Jahr lang aufwühlenden Diskussion war die Veröffentlichung des Buches „Nachbarn“ des New Yorker Soziologen Jan Tomasz Gross1, der mit der ausdrücklichen Intention angetreten war, durch den Nachweis eines ohne Zutun der deutschen Besatzer von Polen ausgeführten Pogroms das hergebrachte historische Selbstverständnis der polnischen Gesellschaft zu erschüttern.

Gross’ Buch brachte nicht nur eine selbst im europäischen Vergleich einzigartige öffentliche Debatte über die Neubestimmung der eigenen Vergangenheit in Gang, sondern war auch der Anlass einer von dem polnischen Institut des Nationalen Gedenkens (Instytut Pamięci Narodowej, IPN) durchgeführten historischen und juristischen Untersuchung, deren Ergebnisse im Jahre 2002 in zwei umfangreichen Bänden vorgelegt wurden.2 Während die Fallstudie von Gross auf einer sehr schmalen Quellenbasis beruhte, erfassten die im Auftrag des IPN arbeitenden Autoren alle noch auffindbaren Dokumente in polnischen, deutschen und weißrussischen Archiven, die Aufschluss über den Tathergang und -zusammenhang zu liefern versprachen. Sie konnten sich außerdem auf die Ergebnisse einer am Tatort vorgenommenen Exhumierung und umfassende Zeitzeugenbefragungen stützen. Abgesehen von Korrekturen im Detail, bestätigte die Untersuchung des IPN den von Gross angenommenen Tathergang, denn eine aktive Beteiligung von Angehörigen der deutschen Besatzungsmacht konnte nicht nachgewiesen werden. Eingehender als Gross jedoch ordnete die IPN-Studie den Pogrom von Jedwabne in den historischen Zusammenhang der regionalen polnisch-jüdischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit und ihre weitere Entwicklung seit der sowjetischen Besetzung des Gebiets 1939, während des deutschen Einmarsches im Juni/Juli 1941 und der Aktivitäten der deutschen Einsatzgruppen in der darauf folgenden Zeit ein.

Stephanie Kowitz geht es nunmehr um eine diskurstheoretisch angeleitete Analyse der polnischen Debatte über den Jedwabne-Pogrom. Dazu wertet sie einschlägige Beiträge in vier ausgewählten polnischen Zeitungen aus, die im Zeitraum vom November 2000, als die Debatte mit einer halbjährigen Verzögerung nach Erscheinen der polnischen Fassung von Gross’ Buch begann, bis zur Rede von Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski bei der Gedenkfeier in Jedwabne am 60. Jahrestag des Pogroms (10. Juli 2001) erschienen sind. Obwohl die Debatte über diesen Zeitpunkt hinaus fortgesetzt wurde und erst etwa an der Jahreswende 2001/02 abflaute, mag der frühere Zeitschnitt aus arbeitsökonomischen Gründen gerechtfertigt sein, zumal sich die Argumente der Debattenteilnehmer inhaltlich wie strukturell bereits deutlich erschöpft hatten.

Die Autorin macht zu Beginn ihrer Untersuchung den für die gegenwärtig überaus zahlreichen Arbeiten zum Themenfeld „Erinnerung und Gedächtnis“ mittlerweile obligaten Dreisprung von Maurice Halbwachs’ Klassiker zum „kollektiven Gedächtnis“3 über deren theoretische Erweiterungen durch den Ägyptologen Jan Assmann4 hin zur Postulierung eines diskurstheoretischen Ansatzes. Es stellt sich die Frage, ob denn ein Sample aus vier Zeitungen (der auflagenstarken, linksliberal-populären „Gazeta Wyborcza“, der konservativen „Rzeczpospolita“, des katholischen „Tygodnik Powszechny“ und des antisemitisch-chauvinistischen, von Kowitz eher verharmlosend als „katholisch-nationalistisch“ eingestuften „Nasz Dziennik“) für eine Diskursanalyse ausreicht, die nicht weniger als die Veränderungen des „Kollektivgedächtnisses“ der polnischen Nation nachzuzeichnen beabsichtigt. Die Einbeziehungen der elektronischen Medien, von Fernsehen, Radio und besonders des Internet als Meinungsträger und –bildner sollten inzwischen eine Selbstverständlichkeit sein. Überdies lässt sich einwenden, dass Kowitz’ Studie einmal mehr das bekannte Quellenproblem ungelöst lässt, inwieweit die „veröffentlichte Meinung“ professioneller oder semiprofessioneller Autoren, die in den Massenmedien ein Forum haben, als hinreichend genaue Widerspiegelung des gesellschaftlichen Gesamtdiskurses betrachtet werden kann. Die Autorin hätte zwei Möglichkeiten gehabt, mit diesem Problem umzugehen: Entweder Leserbriefspalten und die immer wichtiger werdenden Internetforen auszuwerten, um für die fehlende Abbildung der vox populi einen gewissen Ausgleich zu schaffen, oder aber den eigenen Ansatz bescheidener zu formulieren und auf die Analyse von Mediendiskursen einzuschränken. Obwohl sie sich in ihrer methodologischen Einleitung auf ein eben darauf ausgerichtetes Verfahren beruft (S. 16-18), hat sie diesen Weg jedoch nicht konsequent beschritten.

Kowitz benutzt eine Überschau über die Entwicklung der polnisch-jüdischen Beziehungen seit der Zwischenkriegszeit und die Problematik des polnischen Antisemitismus als Folie, auf der sie die Diskursänderungen diagnostiziert, die in der Publizistik ihren Niederschlag gefunden haben. Dabei fällt auf, dass sie sich auf (teilweise ältere und von der Forschung überholte) deutsch- und englischsprachige Veröffentlichungen stützt, die gerade im vergangenen Jahrzehnt fast explosionsartig angewachsene polnischsprachige Forschung zum Thema aber praktisch unberücksichtigt lässt. Allzu häufig ist ihre Verfahrensweise überdies nicht darstellend-rekonstruktiv, sondern referentiell, indem sie das Zitat der Expertenmeinung an die Stelle der zu rekonstituierenden Faktizität setzt.

Auch inhaltlich kann ihr Text an vielen Stellen nicht zufrieden stellen. So entsteht z.B. der Eindruck, dass das antisemitische Schlagwort der żydokomuna („Judenkommune“) erst mit der Installierung des volkspolnischen Systems nach 1945 aufgekommen sei; tatsächlich stammt es aber aus dem nationalistisch-antikommunistischen Vokabular der Zwischenkriegszeit. Erstaunlich ist die Tatsache, dass Kowitz ausgerechnet den Holocaust und die für ihr Thema zentral wichtigen Einstellungen, welche die polnische Gesellschaft unter der deutschen Besatzung zur Judenvernichtung einnahm, auf ganzen drei Seiten (S. 29-31) abhandelt. Auch ansonsten zeugen ihre Ausführungen nicht von einer souveränen Beherrschung der komplexen Thematik: So finden bei ihr stalinistische antisemitische Schauprozesse „Mitte der fünfziger Jahre“ statt (S. 36), und die vor allem innerhalb der Staatspartei angesiedelten Ursachen der antisemitischen Kampagne von 1968 bleiben unklar. Sie spricht von den großen jüdischen Auswanderungswellen aus Polen im 19. Jahrhundert und nach 1968, streift aber die fluchtartige Emigration der überlebenden Juden nach der Shoah und infolge des polnischen Nachkriegsantisemitismus nur ganz am Rande im Zusammenhang mit dem Kielce-Pogrom von 1946. Schließlich gelingt es ihr nicht, überzeugend herauszuarbeiten, worin die Ursachen für den das Wendejahr 1989 überdauernden, in politischen und sozialen Diskursen in Polen weiterhin virulenten Antisemitismus der Gegenwart zu suchen sind. Kowitz’ simplifizierende Darstellung wird der komplexen Gemengelage aus traditionalem, volkstümlichen, von ökonomischen und konfessionellen Motiven durchsetzten Antijudaismus und der fallweisen Instrumentierung eines „Antisemitismus ohne Juden“ zu Zwecken antiwestlicher Feinbildproduktionen durch das volkspolnische Regime wie auch durch rechtsnationalistische Politiker der Nachwendezeit insgesamt nicht gerecht.

Noch problematischer sind Kowitz’ Ausführungen, wenn es um den eigentlichen Kern der Studie geht, die Diskursanalyse selbst. Soll „Diskursanalyse“ mehr sein als ein modisches Plastikwort, muss sie eine philologisch sorgfältige Analyse des Textmaterials in Beziehung setzen zu einer soziologisch informierten Zuordnung der Textproduzenten und Diskursteilnehmer. Methodisch kann sich die Autorin nicht so recht zwischen einer nach den sozialen Trägergruppen (z.B. dem katholischen Klerus) oder nach bestimmten thematisch-inhaltlichen Schwerpunkten vorgenommenen Systematisierung ihres Materials entscheiden. Dabei kommt sie insgesamt nicht über das Niveau des kommentierten Textreferats hinaus. In ihrem Material differenziert sie zudem nicht zwischen solchen Texten, die als – antisemitische, liberale, nationalkonservative oder wie auch immer gefärbte und politisch gerichtete – Beiträge zur Debatte das eigentliche Material für die Diskursanalyse hergeben, und solchen Texten, die bereits den Diskurs selbst thematisieren, sich auf einer analytischen Metaebene bewegen und deswegen als Sekundärtexte anzusprechen wären, wie z.B. der Beitrag der Psychologin Hanna Świda-Ziemba (S. 82f.). Überhaupt verlässt sich Kowitz auch in diesem Teil ihrer Untersuchung eher auf Expertenmeinungen als auf ein selbständig ermitteltes Analyseergebnis.

Bei allem Aufwand bleibt dieses Ergebnis entschieden eindimensional. Denn Kowitz legt sich gleich zu Anfang auf den Befund fest, dass die Polen infolge der Jedwabne-Debatte darangegangen seien, sich von dem überlieferten Opfermythos (Polen als „Christus der Nationen“, der stellvertretend für andere alle Unbill der Geschichte auf sich zu nehmen habe) zu verabschieden und in die öffentlichen Diskurse erstmals die Vorstellung eingezogen sei, dass Polen in der Vergangenheit auch Täter sein konnten. Das ist sicherlich nicht falsch, aber kaum ausreichend, denn alle anschließenden Textanalysen dienen nur noch dazu, diesen einzigen Befund jeweils zu bestätigen. Irgendwann befällt dann auch den geduldigsten Leser eine gewisse Ermattung. Dabei lieferte Kowitz’ Material, schmal wie es ist (ihr Quellenverzeichnis nennt insgesamt lediglich 54 ausgewertete Zeitungsartikel), durchaus den Stoff für weitere Einsichten, z.B. über die soziokulturellen In- und Exklusionsmechanismen, die in Diskursen über nationale Selbstverständnisse, zumal in Polen, eine eminent wichtige Rolle spielen. Überdies sitzt die Autorin anscheinend selbst einem zentralen semantischen Strukturmerkmal des Jedwabne-Diskurses auf, nämlich der dichotomischen Gegenüberstellung von Opfer- und Täterstatus, die sich wechselseitig ausschließen. Denn in ihrer Analyse fehlt der fast an eine historische Binsenweisheit grenzende Hinweis, dass eine Nation nie ausschließlich aus Opfern oder Tätern besteht und das Individuum gelegentlich von einem zum andern übergehen kann.

In ihrer Reihung von Debattenbeiträgen gelangt Kowitz vielleicht zu einem vielfältigen, insgesamt aber eher verwirrenden Spektrum von Meinungsäußerungen, die sie jedoch nicht aus ihren jeweiligen politischen, soziokulturellen und nicht zuletzt auch generationellen Zusammenhängen heraus zu erklären vermag. Gerade letztere sind bei Assmann konstitutiv für das „kulturelle“ (und eben nicht „kollektive“) Gedächtnis. Umso weniger gelingt es Kowitz, die Heftigkeit der Debatte und den in ihr zu suchenden Diskurswechsel im Sinne von Assmann auch aus der sozioökonomischen Krisenhaftigkeit der Umbruchsituation der 1990er-Jahre zu erklären.

Bleibt der Dokumentenanhang, der immerhin zwei Fünftel des Buchtextes ausmacht (S. 147-257). Hierzu ist mit einer gewissen Verwunderung festzustellen, dass sechs der insgesamt dreizehn ausgewählten Textbeispiele aus den von Stephanie Kowitz untersuchten Zeitungen bereits in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurden5, ihr erneuter Abdruck also nicht gerade zwingend erscheint. Immerhin bekommt der Leser drei Kostproben aus dem rechtsextremen „Nasz Dziennik“ geboten, die zuvor meines Wissens noch nicht in deutscher Sprache vorlagen und die einen Einblick in den polnischen antisemitischen Diskurs geben.

Überdurchschnittlich häufige Druckfehler besonders auf den ersten Seiten der Publikation, zahlreiche Stilblüten in der Art von „marginale Randerscheinungen“ (S. 82), die durchgehend gebrauchte Hybridform „Częnstochau“ (anstelle von Częstochowa oder Tschenstochau) und eine offensichtlich nicht von einem deutschen Muttersprachler verfertigte Übersetzung der Jedwabne-Rede Kwaśniewskis (mit grammatischen Fehlern wie „wir huldigen die Opfer“ oder dem Polonismus „böser Dienst“, S. 87f.), zeigen eine, gelinde gesagt, mehr als nachlässige Endredaktion des Bandes an. Auch im durchgängigen Gebrauch des Präsenz als Darstellungstempus sowie etlichen weiteren stilistischen Unschönheiten und inhaltlichen Redundanzen macht sich das Fehlen einer von der Autorin unabhängigen Redaktion bemerkbar. Was den Herausgeber Julius H. Schoeps bewogen haben mag, dieses unfertige, sein wichtiges und spannendes Thema weitgehend verschenkendes Werk in die Publikationsreihe des Potsdamer Mendelssohn-Zentrums aufzunehmen, bleibt dem Rezensenten ein Rätsel. Dem interessierten Publikum ist damit nicht gedient, am wenigsten aber fördert der einmal mehr zu konstatierende Sittenverfall der wissenschaftlichen Publikationspraxis die Interessen noch unerfahrener NachwuchsautorInnen.

Anmerkungen:
1 Die polnische Ausgabe erschien im Mai 2000: Gross, Jan; Tomasz, Sąsiedzi, Historia zagłady żydowskiego miasteczka [Nachbarn. Die Geschichte der Vernichtung eines jüdischen Städtchens], Sejny 2000. Dt. Ausgabe: Gross, Jan, Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001.
2 Machcewicz, Paweł; Persak, Krzysztof (Hgg.), Wokół Jedwabnego [Um Jedwabne], Bd. 1: Studia [Studien], Bd. 2: Dokumenty [Dokumente], Warszawa 2002.
3 Halbwachs, Maurice, Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt am Main 1985. Die für Jan Assmanns fortführende Arbeiten noch wichtigere Publikation fehlt allerdings in Kowitz’ Literaturhinweisen: Halbwachs, Maurice, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin 1966.
4 Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2. Aufl. München 1997.
5 Henning, Ruth (Hg.), Die „Jedwabne-Debatte“ in polnischen Zeitungen und Zeitschriften. Dokumentation (Transodra 23), Potsdam 2001. Siehe hierzu auch meine Besprechung in: H-Soz-u-Kult, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=1287&type=rezbuechercher.

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