I. Schröder: Frauenbewegung und Sozialreform 1890-1914

Titel
Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform 1890-1914


Autor(en)
Schröder, Iris
Reihe
Geschichte und Geschlechter 36
Erschienen
Frankfurt am Main 2001: Campus Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Hering, Fachbereich Erziehungswissenschaft/Psychologie, Universität Siegen

Anmerkungen zu einer wechselseitigen Nichtbefassung – Iris Schröders Dissertation zu Frauenbewegung und Sozialreform und deren mangelnde Rezeption

Der folgende Text stellt keine klassische Rezension dar. Meine Absicht ist vielmehr, anhand der 2001 erschienenen Dissertation von Iris Schröder und deren (Nicht-) Rezeption das konflikthafte Verhältnis von HistorikerInnen (die sich mit der Geschichte Sozialer Arbeit befassen) und SozialpädagogInnen (die ihrer eigenen Geschichte nachgehen) in der Absicht zu beleuchten, gegebenenfalls zu einem Brückenschlag beizutragen. Wer an einer ausführlichen Darstellung des Inhalts der Publikation interessiert ist, sei auf die Rezension von Franz-Michael Konrad verwiesen.1

Die allseitige Blockade ist perfekt: Die Historikerin Iris Schröder hat mit ihrer Betrachtung der Einflüsse der Frauenbewegung auf die Entwicklung der Sozialen Arbeit im deutschen Kaiserreich ein Thema aufgegriffen, in dessen Umfeld sich seit vielen Jahren eine namhafte und engagierte Schar von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen tummelt. Sie hat sich aber mit deren vielfältigen Ergebnissen nur sehr ephemer auseinandergesetzt, obwohl sie fast zehn Jahre darauf verwendet hat, Material zum Thema „Frauenbewegung und Sozialreform“ aus den Jahren 1890 bis 1914 zusammenzutragen. Sie hat den Schwerpunkt ihrer Bemühungen vielmehr darauf gelegt, die einschlägigen Bestände aus zehn Archiven auszuwerten (darunter das Caritasarchiv in Freiburg, die Central Archives for History of the Jewish People in Jerusalem, das Archiv des Diakonischen Werkes in Berlin, das Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel usw.). Sie hat weiterhin eine gewaltige Literaturliste zusammengestellt, in der sie gedruckte Quellen und Literatur im Umfang von über 1000 Titeln (teilweise schwer nachvollziehbar) getrennt ausweist. Und sie hat sich der Aufgabe unterzogen, ihre Befunde in die Historiografie der „Semantik“ des Bürgertums um 1900 einzubetten.

Auf der Rückseite der Publikation ihrer Arbeit steht der Satz: „Das Buch untersucht einen vergessenen Teil der Geschichte der Frauenbewegung und eine bislang wenig erforschte Seite der Sozialreform im deutschen Kaiserreich: die soziale Arbeit.“ Selbst wenn der Satz nicht von Schröder selber, sondern von einem schlecht informierten Lektor stammen sollte, befindet er sich in gewisser Kongruenz mit weiten Teilen des Inhalts des Buches – und hat sich aus verschiedenen Gründen als ärgerlich erwiesen.

Zum einen stimmt er selbst für die Zunft der Historiker/innen nicht mehr, die sich auch – wenngleich nach langem Zögern – dem Wohlfahrtssujet zugewendet hat. Prominente Beispiele hierfür sind Peukert, Prestel oder Conrad.2 Ganz sicher stimmt es nicht für alle diejenigen, die sich von der Gegenstandsseite her – sei es aus dem Blickwinkel der Frauenbewegung oder der Sozialen Arbeit - seit Jahren mit der eigenen Geschichte befassen, wie C.W. Müller, Monika Simmel oder Susanne Zeller.3 Schröder hält jedoch den Habitus einer Neuland Betretenden auch dann aufrecht, wenn sie einschlägige Titel zwar nennt (z.B. Sachße oder Lange-Appel4), sich aber nicht mit ihnen im eigentlichen Sinne des Wortes befasst, geschweige denn auseinandersetzt. Ob diese Unterlassungen erfolgt sind, weil die entsprechenden Aussagen ihrer Auffassung nach nicht hinreichend „quellengesättigt“ sind, weil sie nicht in ihre eigenen Denkschemata passen, oder weil sie eine solche Menge an Material und Literatur zusammengetragen hat, dass am Ende der Durchblick verloren ging – das bleibt offen.

Wie auch immer, die Reaktion darauf konnte nicht ausbleiben: Die Zunft nimmt das Buch von Schröder nun ihrerseits kaum zur Kenntnis. Es liegen bisher nur zwei mir bekannte Rezensionen vor: Eine von Franz-Michael Konrad (HBO), die im Ton und in der Sache eher kritisch ist, und eine von Carola Kuhlmann (EWR), die insgesamt moderater klingt, ihre Enttäuschung aber auch nicht zu verhehlen vermag. Ansonsten herrscht das von Marcel Reich-Ranicki so treffend formulierte über alles gefürchtete „Schweigen der Kritik“. Damit ist eine (wie ich es anfangs schon formuliert habe) allseitige Blockade eingetreten, die ärgerlich ist, weil sie hie wie dort von einer Ignoranz geprägt ist, die dem gemeinsamen Forschungsgegenstand in keiner Weise nützen kann. Es bringt nichts, das Buch von Iris Schröder nach ein paar Seiten Lektüre „verschnupft“ aus der Hand zu legen; es bringt aber eine ganz Menge, darin nach all jenen Informationen und Erklärungsansätzen zu suchen, die vor allem die Geschichtswissenschaft in die allgemeine Debatte einzubringen in der Lage ist. Denn das Buch enthält jede Menge „facts“, die bisher in der Tat von anderen ForscherInnen nicht einbezogen worden sind oder nicht einbezogen werden konnten, weil wohl niemand bisher vergleichbar ausgiebig in den Archiven „gegründelt“ hat.

Die Erkenntnisse, die uns dadurch z.B. über die Strukturen und die Binnendifferenzierung des sozialen Engagements der konfessionellen Frauenbewegung zugänglich geworden sind, finde ich überaus nachdenkenswert. Ähnliches gilt für die exemplarischen Untersuchungen zum Eintritt der Frauen in die kommunale Armenpflege am Beispiel der Städte Leipzig und Frankfurt. Vor allem aber ist die Literaturliste trotz der bereits erwähnten Unstimmigkeiten eine wahre Fundgrube. Das Resümee lautet deshalb aus meiner Sicht: Die Schlussfolgerungen von Schröder mag man teilen oder nicht, aber vieles von dem Material, das sie vorlegt, stellt „Wiederentdeckungen“ dar, deren Unkenntnis oder Nichtbeachtung zukünftigen Forschungen in diesem Bereich zum Nachteil gereichen dürfte.

Dies ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil die unterschiedlichen Gruppierungen der scientific community, die im Bereich der Wohlfahrtsgeschichte arbeitet, noch lange nicht so weit sind, einen umfassenden und in sich geschlossenen Entwurf des Gegenstands vorzulegen. Es fehlt an Komparatistik bezüglich des Einflusses der sozialen Bewegungen. Es fehlt ganz massiv an Regionalstudien. Es fehlt auch an einer grundlegenden Bewertung des Wohlfahrtssystems als Teil der Zivilgesellschaft. Der Weg zur Bearbeitung dieser Fragen kann nur ein interdisziplinärer sein. Iris Schröder hat Teile dieses Weges gesichtet und geebnet. Das bringt uns aber nur dann voran, wenn wir darauf weiter gehen.

Anmerkungen:
1http://www.bbf.dipf.de/archiv/2002/rez-002.htm
2 Detlev Peukert hat sich in richtungsweisender Manier mit der Geschichte der Jugendfürsorge in Deutschland befasst (vgl. 1982/1983 und 1986); Claudia Prestel hat eine ganze Reihe von wichtigen Beiträgen vor allem zur Geschichte der jüdischen Wohlfahrtspflege verfasst (vgl. 1991/1994/2002); Christoph Conrad hat sich vor allem komparatistischen Aspekten der Wohlfahrtsforschung zugewendet (in: Haupt; Kocka 1996).
3 Hier seien beispielhaft folgende Titel der genannten Autor/innen genannt: Müller, C. Wolfgang, Wie Helfen zum Beruf wurde. Eine Methodengeschichte der Sozialarbeit, in 2 Bde., Weinheim 1988, 1992; Ders., Helfen und Erziehen. Die Soziale Arbeit im 20. Jahrhundert, Weinheim 2002; Simmel, Monika, Alice Salomon. Vom Dienst der höheren Tochter am Volksganzen, in: Sachße; Tennstedt 1981; Zeller, Susanne, Maria v. Graimberg. 40 Jahre Sozialarbeiterinnenausbildung in Heidelberg, Freiburg im Breisgau1989.
4 Sachße, Christoph, Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871-1929, Opladen 1994; Lange-Appel, Ute, Von der allgemeinen Kulturaufgabe zur Berufskarriere im Lebenslauf. Eine bildungshistorische Untersuchung zur Professionalisierung der Sozialarbeit, Frankfurt am Main 1993.

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