T. Bendikowski u.a. (Hgg.): Die Macht der Töne

Titel
Die Macht der Töne. Musik als Mittel politischer Identitätsstiftung im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Bendikowski, Tillmann; Gillmann, Sabine; Jansen, Christian; Leniger, Markus; Pöppmann, Dirk
Erschienen
Anzahl Seiten
219 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Sporn, Leipzig

Die Wirkung, die Musik auf den Menschen, seine Handlungen oder auf Gruppen von Menschen haben kann (bzw. soll), standen bereits in der griechischen Antike im Zentrum ethischer Überlegungen und wurden im Fortgang der (Musik-)Geschichte regelmäßig neu thematisiert. Auch und besonders im 20. Jahrhundert haben sich nicht nur Ästhetiker, sondern auch Künstler aller Sparten und Genres für eine gesellschaftlich, im engeren Sinn politisch wirksame Kunst ausgesprochen. Mit der Vorstellung einer „Macht der Töne“ verband sich im 20. Jahrhundert andererseits mehrfach eine ideologisch (und staatlich) geprägte Erscheinung von „Tönen der Macht“: Nutzbarmachung, Vereinnahmung von Musik in totalitären und autoritären Regimen.

Ist das wissenschaftliche Interesse an diesem Themenkreis vor allem seit den Achtziger-Jahren enorm gestiegen, so ist das Gebiet „politische Musik“ noch immer nicht gebührend beachtet und folglich auch nicht ausreichend erforscht. Die seit kurzem vorliegende Aufsatzsammlung „Musik als Mittel politischer Identitätsstiftung“ schließt nun die Lücke wieder ein wenig mehr und ist darüber hinaus zunächst wegen ihrer interdisziplinären Anlage und den unterschiedlichen Blickwinkeln auf das Phänomen beachtenswert.1

Zwei einführende Texte skizzieren die Grundlagen des Verhältnisses zwischen den Gegenstandsbereichen „Musik“ und „Politik“ aus physiologisch-psychologischer und aus historischer Perspektive. Es folgen chronologisch geordnete Beiträge mit teilweise engen Querbezügen, welche die US-Linke der 30er-50er-Jahre, Komponistenporträts (Ruth Crawford Seeger, Stefan Wolpe, Rudolf Wagner-Régeny), die Musikpolitik der DDR, politischen Anspruch in der westlichen Avantgarde-Musik und „Funktion und Bedeutung der Musik für den Rechtsextremismus in Deutschland“ thematisieren. Einführend erläutert Christian Jansen den zugrunde liegenden Begriff des Politischen: Politische Identität beziehe sich „stets auf im öffentlichen Raum agierende Gruppen“. Deren Identitätsbildung funktioniere „immer in doppelter Abgrenzung zu Nicht-Identitäten“, nämlich „über die Auswahl des hervorgehobenen und entscheidenden Gemeinsamen, das das ‚Wesen’ der Gruppe“ ausmache und zu „nicht-gemeinsamen Eigenschaften, die innerhalb der Gruppe als kontingent und unwichtig verstanden werden“ (S. 10). In den unterschiedlichen Themenbereichen der Aufsätze sollen ausgehend von diesem Begriff der politischen Identität unterschiedliche Formen und Inhalte von Identitätsstiftungen durch Musik vorgestellt werden. Ausgehend von diesem Konzept beansprucht die Publikation, einen Beitrag zur Beantwortung der „klassischen“ Fragen aus dem Bereich der politischen Musikforschung zu leisten: Inwiefern bildet „die musikalische Form mit ihren politischen Inhalten eine Einheit“; „kann also Musik selbst einen politischen Charakter haben? Oder sorgt allein der sie begleitende Text für politische Unterscheidbarkeit? [...] Kann dieselbe Musik oder Musikgattung zur Schaffung ganz unterschiedlicher Identitäten eingesetzt werden? Oder gibt es genuin konservative, aufklärerische oder demokratische Musikformen?“ Aus all dem schließlich resultiert die Frage, ob „Musik selbst als ein politisch wirksames Element der Kultur begriffen werden kann oder ‚nur’ ein [...] für beliebige Ziele einsetzbares Mittel“ darstellt (S. 10).

Diese Fragen haben in der Musikwissenschaft zu konträren Standpunkten über Musik und den „Grad“ ihrer gesellschaftlichen Prägung wie Wirksamkeit geführt.2 Der an der Problematik interessierte Wissenschaftler verspricht sich also vom interdisziplinären Zugang und den daraus resultierenden anderen Fokussierungen auf das Problem neue Erkenntnisse. In einigen Fällen allerdings wird diese Hoffnung enttäuscht, wenn die herangezogenen Beobachtungen und Einsichten zu einzelnen Fragestellungen nicht auf die übergeordnete Problematik bezogen werden: So wirft Sabine Gillmann in ihrem Aufsatz zu „Amerikanische[n] Gewerkschaftslieder[n]“ im Zusammenhang mit der New-Deal-Politik die Frage nach dem politischen Eigengehalt von Musik im Kontext von Umdichtungen leider erst am Ende auf und verbleibt hier nur in der allgemeinen Feststellung, dass eben diese Frage „erneut gestellt werden“ muss. (S. 53). Thomas Pfeiffer hat dagegen in seinen Ausführungen zum Rechtsextremismus den Zusammenhang von Text, Musik und musikalischer Wirkung etwas genauer thematisiert, bleibt jedoch ebenfalls in der Aussage vage und macht die identitätsstiftende Wirkung des „aggressiven [Text-Musik-]Konglomerat[s]“ letzthin von der (nicht-)vorhandenen Autonomie des Individuums abhängig (S. 213).

Bleibt also die „Macht der Töne“ weiterhin eher dahingestellt, so wird den „Tönen der Macht“ in den betreffenden Aufsätzen gleichwohl große Bedeutung beigemessen. Den Komponisten Rudolf Wagner-Régeny (1903-1969) untersucht Christoph Schwandt als „Diener zweier Diktaturen“. Wenngleich schon durch die Überschrift Polemik in das Thema gebracht wird, so ist es prinzipiell ein wichtiger Forschungsgegenstand, denn Wagner-Régenys Aktivitäten während der NS-Herrschaft in Deutschland sind bislang nur wenig bekannt. Allerdings tut Schwandt der Forschung keinen Gefallen, wenn er seine Behauptungen und Schlussfolgerungen nahezu nie mit Quellen belegt. Zudem ignoriert der Autor die wichtige Funktion, die Wagner-Régeny in der DDR bei der Ausbildung des Komponistennachwuchses einnahm – und zwar nicht als „Diener der Diktatur“, sondern indem er Interessierten die im Nationalsozialismus als „entartet“ geltende und an den Hochschulen der DDR als „formalistisch“ abgeurteilte Zwölftontechnik Arnold Schönbergs beibrachte und sie zu vielseitigem Literaturstudium anregte.3 Ohne die von Schwandt genannten Anpassungsaktivitäten Wagner-Régenys grundsätzlich abstreiten zu wollen, ist doch davon auszugehen, dass das Spezifische der Biografie Wagner-Régenys eben nicht mit dem Diktum eines „Diktatur-Dieners“ zu erfassen ist.

Ebenso pauschal schätzt David Tompkins, der sich mit dem Thema einer „Musik zur Schaffung des neuen sozialistischen Menschen“ beschäftigt hat, Zielsetzung und Funktionsweise der Musikpolitik der SED ein. Glaubt man seiner Darstellung, so hat es ein lückenloses Zusammenspiel von Ideologie, Organisationsstruktur von Partei und Musikleben sowie der in der DDR komponierten Musik gegeben. Weshalb der Autor am Schluss seiner Darstellung dennoch zu der Feststellung gelangt, „eine totale Kontrolle jedoch [habe] es nicht gegeben“, und „der Traum vom ‚neuen Menschen’, den es zu erschaffen galt, [...] [sei] am Ende wohl nur sehr bedingt Wirklichkeit geworden“ (S. 113), bleibt inhaltlich vollkommen unklar. Außerdem sei noch auf seine katastrophale Fehleinschätzung der Forschung verwiesen, dass nämlich das Faktum, Kunst sei „ein wichtiger Teilbereich der Politik der SED“ gewesen, „bislang zu wenig in der Historiographie der DDR berücksichtigt wurde“ (S. 113).

Lesenswert und informativ, zudem vielfältig auf die Bedeutung gesellschaftlicher Gegebenheiten im Komponieren bzw. im Denken über Musik bezogen sind die Aufsätze Reinhardt Voigts (Stefan Wolpe), Dirk Pöppmanns (Komponieren nach Auschwitz), Beate Kutschkes (Die Huber-Gottwald-Kontroverse) und Frank Sieleckis (Politische Avantgarde-Musik in den 60er/70er-Jahren). Dass die eingangs gestellten Fragen nach Musik als politisch wirksames Element der Kultur einerseits „oder“ als einzusetzendes Mittel für beliebige Zwecke andererseits nicht voneinander zu trennen sind, hat Beate Kutschke am Ende ihres Textes explizit herausgestellt. Denn Musik könne erst dann identitätsstiftend wirken, wenn „ihre identitätsstiftenden Eigenschaften ihr von außen, durch verbale Attribuierung, durch deren Anwendung in einem bestimmten Kontext, aber auch bereits durch deren Schöpfung durch ein Subjekt zugeschrieben werden [...]“ (S. 162). Interessant wäre es deshalb gewesen, die Veranstalter der Tagung hätten nicht nur auf vorrangig funktionale Musikkonzepte bzw. individuelles Musik-Denken orientiert, sondern auch einen Beitrag aufgenommen, der dieses Problem einmal im Zusammenhang mit den Traditionen der „Konzertsaalmusik“ beleuchtet.

Anmerkungen:
1 Die Publikation geht zurück auf eine gleichnamige Tagung, die unter Beteiligung von Historikern, Musikern, Musikwissenschaftlern, Hirnforschern vom 11.-13. 10. 2002 an der Katholischen Akademie Schwerte stattfand.
2 Vgl. dazu: Heister, Hanns Werner, „Politische Musik“, in: MGG2, Sachteil 7, Kassel 1997, Sp. 1661-1682; Federhofer, Helmut, Politisch engagierte Musik (1998), in: Ders., Neue Musik als Widerspruch zur Tradition. Gesammelte Aufsätze, Bonn 2002, S. 356-373.
3 Vgl. z.B. die Erinnerung Paul-Heinz Dittrichs an den Kompositionsunterricht bei Wagner-Régeny: Zur Weihen, Daniel, Komponieren in der DDR. Institutionen, Organisationen und die erste Komponistengeneration bis 1961, Weimar 1999, bes. S. 399.

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