J. Martschukat: Die Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika

Cover
Titel
Die Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika. Von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart


Autor(en)
Martschukat, Jürgen
Reihe
Beck'sche Reihe 1471
Erschienen
München 2002: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anja Becker, Leipzig

Nach "Inszeniertes Töten" 1 legt Jürgen Martschukat sein zweites Buch zum Thema Todesstrafe vor, das erstmalig sowohl im deutschen als auch im englischsprachigen Raum eine Überblicksdarstellung über die Geschichte der Todesstrafe in den USA gibt. Doch Martschukats Studie ist mehr als das: Sie ist gleichzeitig eine Kulturgeschichte der Vereinigten Staaten aus dem Blickwinkel der höchsten Strafe (corporal punishment). Martschukat verzichtet auf jegliche Art von moralisierenden Anmerkungen. Die Fakten sprechen in eindringlicherer und effektiverer Form als jede Polemik es könnte. Im Ganzen ergibt sich das erschreckende Bild einer Bestrafungsmethode, die bis in die Gegenwart durch verschiedene, schon in der Vergangenheit wiederholt auftretende schwere Verfahrensmängel keineswegs als gerechte Strafmethode angesehen werden kann. Todesstrafe als legale aber umstrittene Bestrafungsmethode zieht sich somit als ebenso roter Faden durch die amerikanische Geschichte wie die Selbststilisierung der US-Amerikaner als auserwähltes Volk seit Ankunft der Pilgrim Fathers oder die Geschichte von Gewalt. Deutlich wird die enge Verflechtung mit wesentlichen Motiven der amerikanischen Kulturgeschichte auch durch drei Leitmotive, die in den verschiedenen Kapiteln immer wieder auftauchen: öffentliches Interesse, die Mittlerrolle der Medien und politische Instrumentalisierung.

In prägnanter, sachlicher Form führt Martschukat einschlägige Beispiele von Hinrichtungen seit der Kolonialzeit an, wobei er chronologisch vorgeht und auch geografische Unterschiede in die Betrachtung einbezieht. Martschukat untergliedert seine Studie in ein Vorwort sowie 12 Kapitel inklusive Epilog. Das erste Kapitel über die Kolonialzeit folgt der üblichen Einteilung in die Massachusetts Bay Colony im Gegensatz zu Virginia, geht aber auch auf die mittleren Kolonien, speziell Philadelphia, ein; letztere Stadt wurde während der Aufklärungs- und Revolutionsepoche (Kapitel zwei) nicht nur politisch sondern auch in Sachen Rechtssystem und Bestrafung richtungweisend. Die Todesurteile der Hexenprozesse im Norden, wie die Salem Hysterie um 1692, werden zu Recht als frühe Form der Todesstrafe einbezogen. Vergleichbares hat es in den südlichen Kolonien nie gegeben. Für das 19. Jahrhundert wird besonders stark auf den Nord- Südkonflikt eingegangen, wobei Martschukat die Lynchings von vornehmlich afro-amerikanischen Männern als "extra-legale" Todesstrafe hervorstellt und somit in den legalen Diskurs einbezieht (Kapitel fünf). Während diese Herangehensweise das Bild um unvermutete aber sehr wichtige Nuancen erweitert, ist es gleichzeitig zu bedauern, dass in diesem Kontext "legale Tötungen" jener Zeit sowohl im Norden als auch im Süden ein wenig zu kurz kommen. D.h., inwiefern reflektierten, verstärkten oder widersprachen die Lynchings den legalen Tendenzen in punkto Todesstrafe? In welchem Zahlen- und Moralverhältnissen stehen beide zueinander? Gleichermaßen wäre auch ein Kapitel über den amerikanischen Westen und den Frontier-Lebensraum im Kontext der Todesstrafe interessant gewesen. Doch sind beide Mängel eher Ausgangspunkte für weitere Forschung auf dem Gebiet, die der Gesamtwirkung dieser ersten einführenden Überblicksdarstellung keinen Abbruch tun.

Öffentliches Interesse und Rolle der Medien sind schwer voneinander zu trennen, da das eine das andere bedingt. Bis in die frühe Phase der Republik fanden sich wie auch in Europa zahlreiche Schaulustige am Galgen ein, um dem "Tötungsspektakel" beizuwohnen. Schon damals stellt man auf offizieller Seite fest, dass bei weitem nicht die erwünschte, abschreckende Wirkung erzielt wurde. Stattdessen wurden bei solchen Gelegenheiten teilweise gehäuft Verbrechen begangen und spontan Volksfeste gefeiert (S. 50). Im Zuge von aus der Aufklärung erwachsenen Reformbestrebungen wurden Hinrichtungen daher nach und nach hinter die Gefängnismauern verlegt, ein Paradigmenwechsel in der Geschichte des "Überwachens und Strafens", der von Michel Foucault ausführlich beschrieben worden ist. 2 Die Frage, inwiefern die Öffentlichkeit einer Hinrichtung beiwohnen dürfe, ist jedoch nie wirklich verstummt. Im Zeitalter von Film, Fernsehen und Internet erlebt sie neuen Aufschwung (S. 169f., 191ff.).

Den Medien kommt, wie der Name schon andeutet, eine Mittlerrolle zu. Sie begannen seit den 1830er-Jahren in Form von jetzt billig produzierbaren, gedruckten Zeitschriften Prediger als moralisierende Instanz am Ort der Hinrichtung zu ersetzen (S. 39-40). Hinrichtungen wurden somit säkularisiert, aber auch entmoralisiert. Die Medien standen nun zwischen der Öffentlichkeit und dem "Tötungsspektakel", wodurch eine Beschäftigung mit sensationsträchtigen Details weniger verwerflich erschien. Martschukat bezweifelt jedoch, ob die neue, indirekte Anwesenheit bei der Hinrichtung tatsächlich eine größere Vernunft seitens des Publikums zum Ausdruck brachte; stattdessen schien sie eine neuartige (jedoch keine neue) Lust an Gewalt zu wecken (S. 58-59). Diese Lust kann heute durch Tonbandaufnahmen, Photos im Internet oder Spielfilme wie "Dead Man Walking" befriedigt werden, wobei letztere durchaus eine ernstzunehmende kritische Ebene in die Diskussion um Todesstrafe einbringen.

Politisch instrumentalisiert wurde die Todesstrafe immer wieder wenn Gouverneure oder Präsidenten das Thema gezielt im Wahlkampf einsetzten oder Todesurteile aufhoben bzw. vollstrecken ließen, sofern die öffentliche Meinung dies wünschenswert erscheinen ließ. Ein solcher gezielter Einsatz einer legalen Tötung erscheint allerdings ebenso fragwürdig wie das Argument der Medien, die Öffentlichkeit habe eine "Recht auf Information" und daher ein Recht auf Medienübertragung von Hinrichtungen. Der Fall Timothy McVeigh, den Martschukat im Epilog diskutiert, gibt ein Beispiel aus jüngster Zeit: der damalige Präsident Clinton und seine Justizministerin Janet Reno sprachen umgehend nach dem Attentat in Oklahoma City von strenger Gerechtigkeit und Todesstrafe für die Täter (S. 189). Doch auch schon früher wurde die Todesstrafe zum politischen Instrument, z.B. in Zeiten von Kriegs-, Nachkriegs- und Verbrecherhysterie wie während der 1920er und 1930er-Jahre (S. 108f.). Ein weiteres Beispiel wäre die politische Instrumentalisierung der Rosenbergs, die während der "Red Scare" des frühen Kalten Krieges zwischen den Fronten standen. Martschukat bleibt dabei stets bei einer sachlichen, knappen Darstellung der Fakten, ohne auf spätere Erkenntnisse z.B. zur Schuld der Rosenbergs einzugehen.3 Nicht die Beweislage einzelner Fälle ist ihm von Interesse, sondern deren Instrumentalisierung im Diskurs der amerikanischen Todesstrafe. Im Falle der Rosenbergs wurde nicht das Rechtssystem in Frage gestellt. Vielmehr wurde der weltweite Protest durch das persönliche Schicksal zweier Menschen motiviert (S. 119-120).

Aus zeitlichen und räumlichen Gegebenheiten der Vereinigten Staaten kristallisieren sich Rassismus, Klasse sowie Geschlecht als wesentliche Aspekte der Debatte um Todesstrafe heraus. Martschukat präsentiert wiederholt Daten die darauf hinweisen, dass trotz einschlägiger Studien auch heute noch afro-amerikanische Männer aus sozial weniger gut gestellten Schichten überproportional oft hingerichtet werden, besonders dann, wenn die Opfer weiß waren. Dieses eklatante Missverhältnis war bereits recht früh im 20. Jahrhundert bekannt. Die Ursachen liegen meist in schweren juristischen Verfahrensmängeln. So haben sozial schwache Menschen von vornherein schlechtere Karten, da sie sich nur Pflichtverteidiger leisten können, die sich weniger motiviert für ihre Fälle engagieren. Gleichzeitig kommt es noch immer vor, dass komplett weiße Geschworenengruppen schwarze Täter verurteilen, wobei unterschwellig stets die Frage der Rassendiskriminierung lauert. Darüber hinaus gibt es zu denken, so Martschukat, dass Frauen unterproportional oft mit ihrem Leben für eine besonders schwere Straftat büßen müssen. Dass aber auch Beweismaterial seitens der Behörden zurückgehalten wird, erscheint als weiterer, gravierender Schwachpunkt des Systems. Ein solcher Fall wird in Erroll Morris Dokumentarfilm "Thin Blue Line" aufgerollt, der somit der Rolle der Medien eine explizit investigative Rolle zukommen lässt und für zukünftige Studien interessant wäre.4

Martschukat belegt seine Argumente mit Zahlen, ohne jedoch den Leser zu überfordern. Allerdings würde man sich gerade für die Themen der ersten Kapitel wünschen, dass sie in zukünftigen, spezialisierteren Studien noch stärker thematisch miteinander verwoben werden, wie eben Unterschiede in den Kolonien oder die Rolle der Lynchings. Gerade die Diskriminierung der Schwarzen im geschichtlichen Kontext der Todesstrafe spiegelt sich auf beunruhigende Weise in den legalen Tötungsstatistiken des 20. Jahrhunderts bis hin zur Gegenwart wider. Dies gibt einmal mehr zu denken, wieso ein westliches demokratisches Land noch immer an einer nachweislich ungerecht ausgeführten und grausamen Form der Bestrafung festhalten kann. Immerhin räumt Martschukat ein, dass in jüngster Zeit die amerikanische Öffentlichkeit und damit auch vereinzelte Politiker immer stärker über diese Probleme nachdenken. Alles in allem ist Martschukats Buch eine anregende Lektüre, die einen wichtigen Beitrag zur amerikanischen Kulturgeschichte leistet. Es wäre wünschenswert, dass weitere, ausführlichere Studien folgen.

Anmerkungen:
1 Martschukat, Jürgen, Inszeniertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, Köln 2000.
2 Foucault, Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994 .
3 Zur fundierten Darstellung und Interpretation der Fakten im Fall Rosenberg, siehe Radosh, Ronald; Milton, Joyce, The Rosenberg File, 1983. Nach Ende des Kalten Krieges und der Öffnung sowjetischer und amerikanischer Archive wurden verschiedene Werke unter dem Stichwort "Venona" publiziert, die auch die Beweislage im Fall der Rosenbergs neu beleuchteten.
4 Morris, Erroll, Thin Blue Line, 1984.

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