V. Berghahn u.a. (Hgg.):Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert

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Titel
Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert. Kontinuität und Mentalität


Herausgeber
Berghahn, Volker R.; Unger, Stefan; Ziegler, Dieter
Reihe
Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte 11
Erschienen
Anzahl Seiten
463 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Ackermann, Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg

Wer heutzutage die deutsche Wirtschaftselite in den wissenschaftlichen Blick nimmt, fragt nicht mehr nur nach der ‚hardware’, also nach makroökonomischen und -gesellschaftlichen Prozessen, nach Produktion und Technik, sondern auch und vor allem nach der ‚software’, also nach individuellen Akteuren, nach Weltanschauungen und Geschlechterrollen. Längst schon hat die ‚kulturalistische Wende’ in der Sozialgeschichte auch die Unternehmensgeschichte erreicht. Diesen Forschungstrend spiegelt der anzuzeigende Sammelband wider, der Ergebnisse einer im Oktober 2001 im Bochumer Haus der Geschichte des Ruhrgebiets veranstalteten Tagung präsentiert. Weil ‚Kontinuität’ und ‚Mentalität’ im Zentrum der Analyse stehen, befassen sich die 22 AutorInnen fast ausschließlich mit Phänomenen von langer Dauer.

‚Erstaunliche’ und ‚zerstörte’ Kontinuitäten
Eine „erstaunliche“ personelle Kontinuität in der deutschen Luftfahrtindustrie hebt Lutz Budraß hervor. Zahlreiche Ingenieure, die im ‚Dritten Reich’ Flugzeuge entwickelten und produzierten, stellten nach 1945 eine Reserve von technischen Führungskräften für die westdeutsche Industrie dar und fanden sich sogar mit einem zeitweiligen Statusverlust ab. Als „erstaunlich“ bezeichnen auch Wilhelm Bartmann und Werner Plumpe die Kontinuität der Personalrekrutierung in der Vorstandsriege der I.G. Farben und ihrer Nachfolgegesellschaften; entscheidend für den Aufstieg in den Vorstand waren allerdings weniger persönliche Beziehungen und kulturelles Kapital als vielmehr Ausbildung, Kompetenz und Leistung, mithin die funktionalen Anforderungen des Unternehmens.

In der Eisen- und Stahlindustrie rückten nach 1945 zwar neue Führungskräfte in die Spitze auf, aber sie entsprachen Karl Lauschke zufolge immer noch dem Typ des ‚Schlotbarons’. Erst im Laufe der 1960er und frühen 1970er-Jahre traten Betriebswirte und Juristen an ihre Stelle; immer mehr griff man auf externe, branchenfremde Manager zurück. Einen ambivalenten Befund erhebt Heidrun Homburg am Beispiel der Warenhäuser: Dort gab es sowohl die konzerninterne Karriere als auch die Rekrutierung von Seiteneinsteigern, deren berufliche Laufbahn bislang außerhalb des Einzelhandels verlaufen war.

Nicht nur in den Produktionsbranchen, sondern auch auf dem Finanzsektor überwog die Kontinuität. Dieter Ziegler zufolge führte der Strukturwandel des Bankwesens nicht zu einem signifikanten Elitenwandel; lediglich die Elite der Privatbankiers wurde von einem doppelten personellen Austauschprozess betroffen: durch die Enteignung und Ausstoßung seitens der Nationalsozialisten sowie nach 1945 durch das alliierte Entnazifizierungsprogramm, das den Strukturwandel zur Universalaktienbank beschleunigte. Zerstört wurde eine Kontinuität allerdings bei den jüdischen Mitgliedern der deutschen Wirtschaftselite zwischen Weimarer Republik und früher Bundesrepublik, und daran konnten nach 1945 auch die Remigranten nichts ändern, wie Martin Münzel betont; nicht die verlorene Wirtschaftspotenz war nach dem Zweiten Weltkrieg das beherrschende Thema, sondern das Wirtschaftswunder und der Kalte Krieg.

Die funktionale und die unsichtbare Elite
Im Ruhrgebiet veränderte sich während der Zwischenkriegszeit die Selbstdarstellung von Unternehmern und Managern. Stefan Unger zeigt, wie sich seit den 1960er-Jahren die Elitenpräsentation funktionalisierte und versachlichte. Weniger von ‚Persönlichkeit’ und ‚Charakter’ war nunmehr die Rede, sondern von funktionaler Leistungsfähigkeit, also von Know-how, Ausbildung, Erfahrung und von der Fähigkeit zur Bewältigung des technischen Wandels. Auch Morten Reitmayer, der Tagungen von kirchlichen Akademien in den Blick nimmt, auf denen über die für die neuen Eliten gültigen Werte und Prinzipien diskutiert wurde, datiert die Durchsetzung des neuen, von der jüngeren Generation vertretenen Konzepts der ‚Funktionselite’ auf die 1960er-Jahre.

Zu dieser Zeit waren Frauen in Managementpositionen unterrepräsentiert: Bei der Beurteilung eines Kandidaten war ein männliches Erscheinungsbild offenbar ein wichtiges Kriterium, während eine ‚feminine’ Seite eher negativ zu Buche schlug. Barbara Koller sieht in solchen Stereotypisierungen einen wesentlichen Grund dafür, dass die Rolle von Unternehmerinnen weitgehend unsichtbar blieb. Frauen in Familienunternehmen gehörten als mithelfende Familienangehörige an die Seite des Unternehmers und standen nicht selbst im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Christiane Eifert zeigt, warum sie erst mit dem gesellschaftlichen Wandel Anfang der 1970er-Jahre gewissermaßen ‚entdeckt’ wurden: Sie verkörperten neue Formen der Unternehmensführung und versprachen, das stark in die Kritik geratene Unternehmerbild gleichsam zu humanisieren. Auch in Österreich organisierten sich Unternehmerinnen und beanspruchten einen Platz in den traditionell männlich dominierten Interessenverbänden, aber dieses Engagement bewirkte Irene Bandhauer-Schöffmann zufolge keine langfristigen und grundlegenden Veränderungen: Die männlich dominierte Wirtschaftswelt wurde durch das Hinzufügen von Frauen lediglich verändert, nicht aber grundsätzlich in Frage gestellt.

Fixsterne am bürgerlichen Wertehimmel: Familie, Arbeit und Leistung
Nach wie vor, so Michael Hartmann, rekrutiert sich die deutsche Wirtschaftselite ganz überwiegend aus dem gehobenen und dem Großbürgertum. Den Grund für diese hohe soziale Homogenität sieht er in der ausschlaggebenden Rolle des klassenspezifischen Habitus, also u.a. in der Beherrschung des Kleidungs- und Verhaltenscodes, einer breiten Allgemeinbildung sowie familiären Ressourcen. Immer noch verschafft die soziale Herkunft dem Nachwuchs der ‚besseren Kreise’ bei der Besetzung von Spitzenpositionen in der deutschen Wirtschaft einen meist uneinholbaren Vorsprung. Dass Netzwerke auch über politische Zäsuren hinweg stabil bleiben können, zeigen Martin Fiedler und Bernhard Lorentz: Nach 1933 gab es keinen spürbaren personellen Austausch und auch keine veränderte Rekrutierungspraxis des Führungspersonals in der Wirtschaft. Von einer Auflösung oder Erosion bürgerlicher Verhaltensformen kann nach Meinung von Jörg Lesczenski und Birgit Wörner keine Rede sein; sie entdecken Kontinuität auch in den Idealen und Alltagspraktiken wirtschaftsbürgerlicher Lebensführung. Weder die Jahrhundertwende noch der Erste Weltkrieg noch die Wirtschaftskrise der 1920er-Jahre stellten klassische bürgerliche Verhaltensstandards in Frage. Zu dem gleichen Ergebnis kommt Cornelia Rauh-Kühne in ihrem Beitrag über den langjährigen Präsidenten der Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeberverbände, Hans-Constantin Paulsen: Familie, Arbeit und Leistung blieben die Fixsterne am bürgerlichen Wertehimmel.

Deutsche Bürgerlichkeit war nach 1945 keineswegs ausgelöscht, sondern erhob sich wie Phoenix aus der Asche. Am Beispiel des 1879 gegründeten Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller weist Christof Biggeleben auf die Kontinuität bürgerlicher Ideale im Berliner Unternehmertum hin. Diese zeigten sich an der Bedeutung des Leitbildes ‚Kaufmann’ ebenso wie am kommunalen Engagement des Vereins sowie am Mäzenatentum und an der Wohltätigkeit - beides zählt zu den Kernbestandteilen von Bürgerlichkeit. Dem Faktor ‚Familie’ schreibt Hervé Joly eine wichtige Rolle sowohl bei großen als auch bei mittleren Unternehmen zu; auf den Familienkapitalismus zumindest in Westdeutschland wirkten sich die politischen Veränderungen der Nachkriegszeit nicht gravierend aus. Erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, so die These von Hartmut Berghoff, begann in der bislang durch ein hohes Maß an Kontinuität ausgezeichneten mittelständischen Wirtschaft ein Transformationsprozess im Zeichen der Globalisierung, der traditionelle Werte und Verhaltensmuster wie etwa die ‚Familie’ und den ‚Herr-im-Haus-Standpunkt’ langsam aushöhlte.

Der Sammelband bildet einen wichtigen Beitrag nicht nur zur Standortbestimmung der modernen deutschen Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, sondern auch zur aktuellen Debatte um das deutsche Bürgertum im 20. Jahrhundert. Er liefert all denen eine Fülle von Argumenten, die nicht von seiner Auflösung, sondern von seinem Formwandel reden - auch in diesem Bereich scheinen, zumindest in Westdeutschland, Kontinuitäten und Mentalitäten stabiler geblieben zu sein als bisher angenommen.

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