S. Handro: Historisch-politische Sozialisation in der SBZ und DDR

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Titel
Geschichtsunterricht und historisch-politische Sozialisation in der SBZ und DDR (1945-1961). Eine Studie zur Region Sachsen-Anhalt


Autor(en)
Handro, Saskia
Reihe
Schriften zur Geschichtsdidaktik 13
Erschienen
Weinheim 2002: Beltz Verlag
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Baumgärtner, Didaktik der Geschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München

"Eine Geschichte des Geschichtsunterrichts in Deutschland existiert bis heute nicht". 1 Diese Feststellung des Geschichtsdidaktikers Bernd Mütter aus dem Jahr 1985 trifft nach wie vor zu: Zwar wurde dieses Feld seitdem immer wieder einmal beackert, der Forschungsertrag ist jedoch als nicht allzu üppig zu bezeichnen, da wichtige Arbeiten aus den 1970er und 1980er-Jahren stammen und neuere Darstellungen rar sind. 2 Dies trifft auch und in besonderer Weise für den Geschichtsunterricht in der DDR zu, der erst nach 1989 auf breiterer Quellenbasis unter verschiedenen Fragestellungen und mit größerer methodischer Vielfalt erforscht werden konnte, worüber Handros Ausführungen zum Forschungsstand im Einzelnen präzise Auskunft geben (S. 16-27).

Die dabei zu bewältigenden Probleme liegen jedoch auf einer grundsätzlichen Ebene, denn das tatsächliche historische Lernen in der Schule ist zum einen, wenn überhaupt, nur fragmentarisch dokumentiert, kann mithin allenfalls indirekt erschlossen werden. Einschlägige Arbeiten konzentrierten sich deshalb zumeist auf die amtlichen Vorgaben und/oder die Geschichtsschulbücher, ohne allerdings deren beschränkte Aussagekraft für die Unterrichtswirklichkeit hinreichend zu reflektieren. Denn diese normativen Quellen sagen mehr darüber aus, wie Geschichtsunterricht sein sollte und weniger, wie er tatsächlich war - und ist.

Zum anderen ist die schulische Geschichtsvermittlung nicht auf das Unterrichtsfach beschränkt, sondern überdies in den außerschulischen Umgang mit Geschichte eingebunden. Angesichts dieser Problemlage greift Handro auf eine Unterscheidung der so genannten Berliner Didaktik von Paul Heimann, Gunter Otto und Wolfgang Schulz zurück: Sind Ziele, Inhalte, Methoden und Medien durch den Lehrer bestimmbar, mithin Entscheidungsfelder von Unterricht oder entziehen sich die Bedingungsfelder - anthropogene und sozialkulturelle Voraussetzungen - bei der Unterrichtsplanung seiner unmittelbaren Beeinflussung. 3 Handro interessiert sich für die letztgenannten, um „die Entwicklung des Unterrichtsfaches stärker in den Kontext der sozialisatorischen Veränderungen“ zu stellen, die „Vernetzungsstrategien zwischen unterrichtlicher und außerunterrichtlicher historisch-politischer Sozialisation“ zu rekonstruieren und schließlich die „indirekten Legitimations- und Integrationsprozesse“ zu eruieren (S. 15). Es wäre eigens zu diskutieren, ob die gerade im Hinblick auf die Bedingungsfelder, die ja selbst wiederum politische Entscheidungsfelder darstellen, pauschale Begrifflichkeit der Berliner Didaktik, die ja für die Analyse und Planung von konkretem Unterricht gedacht ist, für die gewählte Fragestellung brauchbar ist. Eine genauere Identifizierung der einzelnen Bedingungsfelder wäre wünschenswert, um deutlich werden zu lassen, dass zentrale Sozialisationsinstanzen wie Familie und Gleichaltrige allenfalls beiläufig thematisiert werden (können). Gleichwohl verfolgt Handro einen reflektierten Forschungsansatz und wählt einen weiten Fragehorizont. Klug gewählt sind die räumliche Konzentration auf die Region Sachsen-Anhalt und die zeitliche Beschränkung auf die eineinhalb Jahrzehnte von 1945 bis 1961, weil damit die Veränderung der historisch-politischen Sozialisation in einer entscheidende Phase der DDR-Geschichte trennscharf und exemplarisch gleichermaßen analysiert werden kann (S. 32-34).

Ausgehend von einem knappen Überblick über die normativen Vorgaben für den Geschichtsunterricht (S. 40-74), untersucht Handro die relevante „Institutionenordnung“ (S. 75), nämlich die Rolle der Sowjetischen Militäradministration, der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung, des Ministeriums für Volksbildung, des Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts sowie der SED (S. 75-130), bevor sie die Zusammensetzung und Änderung der Lehrerschaft (S. 131-235) und der Schülerschaft (S. 236-326) analysiert. Dabei geht sie in einzelnen Kapiteln auf die Rolle der Vertriebenen und Flüchtlinge ein (S. 327-359) und widmet sich den Revisions- und Inspektionsberichten (S. 360-384). An der Gewichtung ist bereits ihr vorrangiges Interesse an Veränderungen in der Lehrer- und Schülerschaft erkennbar, die sie mit Hilfe des Generationenbegriffs zu beschrieben versucht (S. 35-38).

Im Fortgang der Untersuchung zeigt Handro den fundamentalen Umstrukturierungsprozess, der nicht nur den Geschichtsunterricht betraf, sondern auch die Grundbedingungen schulischen Lernens veränderte und die Vermittlung eines politisch erwünschten Geschichtsbilds ermöglichte. Es kam dabei zu einer „Neuformierung der Geschichtslehrerschaft“ (S. 135), in deren Zuge die im Kaiserreich und in der Weimarer Republik berufssozialisierte „Altlehrergeneration“ abgelöst wurde von einer durch die eigene Kriegserfahrung geprägten und nach Neuorientierung suchenden „Neulehrergeneration“ auf der einen und die nach 1945 in der SBZ bzw. DDR erst in den Beruf einsteigende „Junglehrergeneration“ auf der anderen Seite (vgl. die zusammenfassenden Bemerkungen auf S. 223-225). Für die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen bestanden gerade in dieser Umbruchssituation „gute Voraussetzungen“ (S. 342).

Die Schülerinnen und Schüler wiederum wurden Schritt für Schritt politisch erfasst und in das sich immer dichter entwickelnde Herrschaftsgefüge eingebunden: Es kam einerseits zu einer „Beschneidung des Einflusses konkurrierender Sozialisationsinstanzen“ und andererseits zu einem „Höchstmaß an Vernetzung unterrichtlicher und außerunterrichtlicher Instanzen“ (S. 325f.). Die ideologische Ausrichtung des Schulunterrichts im Allgemeinen und des Unterrichtsfaches Geschichte im Besonderen, die Erfassung der Kinder und Jugendlichen in der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ und in der „Freien Deutschen Jugend“ bis hin zu den Arbeitsgemeinschaften „Junge Historiker“ führten zu einer „Homogenisierung“ der Schülerschaft (S. 242). Konfliktsituationen wie die Auseinandersetzungen um die evangelische „Junge Gemeinde“ oder die Reaktionen auf den 17. Juni 1953 wurden dabei politisch gezielt instrumentalisiert und wirkten so als Katalysatoren in diesem Prozess.

Diesen grundlegenden Umstrukturierungsprozess zeichnet Handro detailliert nach, indem sie nicht nur die vorhandenen Akten akribisch auswertet, sondern auch den politisch erwünschten Generationenaustausch quantitativ in einer Reihe von instruktiven Übersichten erfasst. Mit dem Grundproblem, die Unterrichtswirklichkeit zu erfassen, muss sich auch Handro im Zusammenhang mit der Analyse der Inspektions- und Revisionsberichte auseinandersetzen. Gerade ihre quellenkritischen Überlegungen (S. 31, 360f.) und ihre vorsichtigen Interpretationen - „Versuch einer Annäherung“ (ebd.) - lassen die damit verbundenen Schwierigkeiten offenbar werden, denn diese normativen Quellen sagen über den Geschichtsunterricht vor allem aus, wie er sein sollte und dass er oft nicht so war wie gewünscht. Daraus ist aber nur bedingt zu entnehmen, wie er tatsächlich ablief.

Gegenüber Handros superlativischer Einschätzung - „Weder im Kaiserreich noch im Nationalsozialismus als Vorgeschichte noch in der Parallelgeschichte der Bundesrepublik haben sich die Bedingungsfelder des Geschichtsunterrichts so nachhaltig verändert wie in der DDR“ (S. 385) - ist meines Erachtens zumindest hinsichtlich der Situation im Nationalsozialismus Vorsicht angebracht. Gleichwohl ist der von Handro überzeugend dargestellte fundamentale Wandel der historisch-politischen Sozialisation unbestreitbar. Wie sie in der Zusammenfassung noch einmal verdeutlicht, vollzog er sich vor allem über die Lehrerschaft, ihre personelle Säuberung, ihre Aus- und Weiterbildung, ihre politische Einbindung und Kontrolle sowie die durch Republikflucht bedingte „Externalisierung von Konfliktpotential“ (S. 386f.).

Handro weist dabei zwar auf die besondere Rolle der Geschichtslehrerschaft hin und stellt die Aufgabe des Geschichtsunterrichts, den legitimitätsstiftenden „Gründungsmythos der DDR beständig zu reaktualisieren“ (S. 326), heraus, kommt aber zu dem Ergebnis, dass sich dessen Bedeutung durch die Neustrukturierung der Sozialisationsprozesse relativierte (S. 388). Insofern stellt die vorzügliche Studie von Saskia Handro in erster Linie einen Beitrag zur Erforschung der historisch-politischen Sozialisation in der Schule dar und erst in zweiter Linie einen Beitrag zur Geschichte des Geschichtsunterrichts. Die Reihenfolge der Leitbegriffe im Titel „Geschichtsunterricht“ und „historisch-politische Sozialisation“ ließe sich leicht umkehren.

Anmerkungen:
1 Mütter, Bernd, Die Geschichte des Geschichtsunterrichts als Forschungsproblem. Überlegungen zu Hilke Günther-Arndt: Geschichtsunterricht in Oldenburg 1900 - 1930, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 36 (1985), S. 642-657, hier S. 642.
2 Vgl. Bergmann, Klaus; Schneider, Gerhard, „Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts“, in: Klaus Bergmann u.a. (Hgg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, 5. Auflage, Seelze-Velber 1997, S. 255-260.
3 Vgl. die immer wieder neu aufgelegte Darstellung: Heimann, Paul; Otto, Gunter; Schulz, Wolfgang, Unterricht. Analyse und Planung, Hannover 1965.

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