Die Farbe der Tränen. Der Erste Weltkrieg aus Sicht der Maler.

Cover
Titel
Die Farbe der Tränen. Der Erste Weltkrieg aus Sicht der Maler.
Autor(en)
Dagen, Philippe
Veröffentlicht durch
Mémorial de Caen: Caen Cedex, Fr <memorial@unicaen.fr>
Enthalten in
Mémorial de Caen <http://www.memorial.fr/>
Von
Aaron Cohen

"Die Farbe der Tränen" ist eine attraktive Webseite mit über einhundert künstlerischen Visionen des ersten Weltkriegs aus der Sicht von 54 europäischen Malern. Mit der Unterstützung der UNESCO haben der Verfasser Philippe Dagen und seine Kollegen und Kolleginnen diese Bilder zum Andenken des achtzigsten Jahrestages des Kriegsendes vom Mémorial pour la Paix in Caen ausgestellt, mit der Hilfe und Zusammenarbeit einiger der prominentesten öffentlichen Zentren für das Studium des Weltkrieges, wie etwa das Imperial War Museum und das Historial de la Grande Guerre (Péronne). Die Webseite wird gleichzeitig in französischen, englischen und deutschen Versionen angeboten, und das JPEG-Format der Bilder macht das Betrachten bequem und effektiv.

"Das Anliegen dieser Ausstellung", schreibt Dagen, bestehe nicht darin, die Ereignisse des Krieges "erneut zu erläutern, sondern zu zeigen, wie und unter welch schwierigen Bedingungen Künstler - und welche Künstler - beiderseits der Front sie darstellten." Um diese Verbindungen zu erläutern, ist die Webseite als virtuelle Ausstellung aufgebaut; man kann mit der Maus durch verschiedene Themen oder "Säle" bummeln. Diese Themen reichen vom Alltäglichen bis hin zum Erhabenen, wie z.B. "Die Kriegserklärung", "Das Schlachtfeld", "Unsägliches Leid" oder "Der Tod". Jeder virtuelle Saal hat einen kurzen Einleitungstext und eine Liste von etwa einem Halbdutzend Gemälde, die jedes Thema aus künstlerischer Sicht illustrieren. Mit einem Klick auf individuelle Links kann man ausgiebige Informationen über die Gemälde erhalten: Künstler, Titel, Ort, Jahr, usw. Ein kurzer Absatz begleitet jedes Bild; dieser Text beschreibt die formellen Eigenschaften des Werkes in Hinsicht auf das zutreffende Thema. Besucher der Webseite können diese festgeschriebene Route nehmen oder die individuellen Gemälde und die Einleitung direkt von ihrer Homepage erreichen.

Diese Struktur ergibt ein erfolgreiches, wenn nicht perfektes, Weberlebnis. Alle Links funktionieren; es gibt aber zu den drei Homepages verwirrenderweise auch zwei andere Indexseiten. Die drei Versionen sind gleich gut organisiert und klar, und die formelle, leicht akademische Schreibweise der Texte sollte für Mutter- und Nicht-Muttersprachler aller drei Sprachen zugänglich sein. Merkwürdige Redewendungen tauchen manchmal aber in den englischen und deutschen Beschreibungen für individuelle Bilder auf (Nr. 31 zum Beispiel), und es gibt einige Tipp- oder Schreibfehler. Englischleser lesen unerklärlicherweise den farblosen Titel "Art of the First World War", während Deutsch- und Französischleser den viel poetischeren und evokativeren Titel "Die Farbe der Tränen" und "La couleur de larmes" erleben dürfen.

Besucher sollten wissen, dass diese Webseite keine umfassende Darstellung der Kunst des ersten Weltkrieges ist. Die überwiegende Mehrheit der Künstler stammt aus der Avantgarde, und der Schwerpunkt der Ausstellung liegt nicht auf deren Personalitäten oder Kriegserlebnissen, sondern auf den Bildern und ihren formellen Eigenschaften. Es gibt ab und zu begleitende Texte zu den Bildern mit Auszügen aus Tagebüchern, Memoiren oder Briefen; diese sind meist literarische Schilderungen mit keinen direkten Verbindungen zum Künstler oder zum geschilderten Kunstwerk. Unter den Künstlern sind keine Frauen vertreten, obwohl der Werk einer Künstlerin wie Natalija Gontscharowa sich leicht einpassen ließe. Die Russen sind wie immer gar nicht vorhanden in der ganzen Konzeption und nur schwach repräsentiert auf der Künstlerliste. Mit zwei kleinen Ausnahmen (Marc Chagall und Ossip Zadkine) ist dieses Kriegserlebnis wie so oft in dem europäischen Bewusstsein eine rein westliche Affäre. Die Texte scheinen in der Regel korrekte Informationen zu enthalten, obwohl es ab und zu hier auch Fehler gibt. Die virtuelle Ausstellung endet abrupt ohne Zusammenfassung oder Schluss, und es fehlt eine Bibliographie oder ein Quellenverzeichnis.

Es gibt wenig Diskussion der politischen, historischen oder anderen kontextuellen Bedeutungen der dargestellten Bilder. Der Verfasser hat eine kraftvolle, wenn auch traditionelle, Konzeption des Effekts des ersten Weltkriegs auf die Intellektuellen und die Kultur: dieses traumatische Erlebnis erwies sich als Tiegel der Modernität. "Aus dem Ersten Weltkrieg ging ein vollkommen verändertes Europa hervor, ausgelaugt, in Angst und Schrecken versetzt, zwangsmodernisiert", liest man in der Einleitung. Die Künstler reagierten mit der Intensivierung ihrer Experimente in der Kunst: "sie alle sagten sich endgültig von den Regeln los, welche die Schlachtenmalerei bis dahin beherrschten. Sie versuchten, die Schwierigkeiten zu überwinden, neue Bildgegenstände und neue Mittel zu finden, die dieser neuen, entsetzlichen Wirklichkeit gerecht wurden. Diese Mittel waren im wesentlichen die des Kubismus, des Futurismus, des Expressionismus und der abstrakten Kunst". Aus dieser Sicht war der erste Weltkrieg gleichzeitig ein scharfer Bruch mit der Vergangenheit und eine Quelle der ästhetischen Moderne.
Diese Art, an das Problem heranzugehen, haben viele Beobachter, wie etwa Paul Fussell für die englische Literatur, elegant und kraftvoll vertreten, sie ist aber in den letzten fünfzehn Jahren in Frage gestellt worden. Ken Silver hat gezeigt, wie der patriotische Diskurs die Pariser Avantgarde überwältigt hat. Als Antwort seien ihre Werke nicht abstrakter, sondern traditioneller geworden, ein Trend, der sich nach dem Kriege fortsetzte. Richard Cork meint, dass "Advanced modernist abstraction soon proved an inadequate starting-point for developing a viable approach to the conflict" (S. 9). Jay Winter ist ebenfalls zu der Folgerung gekommen, dass der erste Weltkrieg den Sieg der figurativen, traditionellen Kunst über die abstrakte Kunst brachte. Man muss diese Interpretationen nicht annehmen, um das Verhältnis zwischen Krieg und Kunst richtig zu problematisieren, aber "Die Farbe der Tränen" setzt sich mit diesen Ideen gar nicht erst auseinander.

Um fair zu sein, ist es offensichtlich nicht der Zweck dieser Webseite, die Problematik Krieg und Kunst umfassend zu behandeln. Sie ist erfolgreich in ihrem Ziel, d. h. zu zeigen, wie sich das Antlitz des Krieges durch Farbe und Linie in den Werken der westeuropäischen Avantgarde widerspiegelt. Als Bilderkollektion ist sie auch eine wertvolle Ressource für alle, die sich für das Thema Krieg und Kunst interessieren.

Literaturverzeichnis

Kenneth Silver. Esprit de Corps. The Art of the Parisian Avant-Garde and the First World War, 1914-1915 (Princeton: Princeton University Press, 1989).

Richard Cork. A Bitter Truth. Avant-Garde Art and the Great War (New Haven: Yale University Press, 1994).

Jay Winter. Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European cultural history (Cambridge: Cambridge University Press, 1995).

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