Titel
Bürgertum in Köln. Gemeinsinn und freie Association


Autor(en)
Mettele, Gisela
Reihe
Stadt und Bürgertum 10
Erschienen
München 1998: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
401 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Gorissen, Fak.f.Geschichtswiss., Universitaet Bielefeld

Mit der Arbeit von Gisela Mettele über das Kölner Bürgertum im ausgehenden 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der erweiterten Fassung einer 1994 in Frankfurt/Main eingereichten Dissertation, liegt nun mittlerweile die siebte stadthistorische Studie vor, die im Kontext des von Lothar Gall in Frankfurt/Main geleiteten Forschungsprojektes "Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert" entstanden ist 1. Alle Arbeiten dieses Projektes gehen von einer engen Zusammengehörigkeit der beiden historischen Phänomene Stadt und Bürgertum vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus. Das Projekt fragt nach Genese und Struktur des neuzeitlichen Bürgertums nicht aus nationalstaatlicher Perspektive, sondern untersucht die bürgerlichen Bevölkerungsgruppen in ihrem städtischen Umfeld. Stadt- und Bürgertumsgeschichte werden hier in ihrer wechselseitigen Verflechtung erforscht, wobei der Fokus aller Studien auf der Frage von Form und Wandel bürgerlicher Herrschaft in der Stadt liegt. Das Projekt geht von der Wirkungsmächtigkeit der liberalen Utopie einer "klassenlosen Bürgergesellschaft" aus, die vorübergehend und zumindest ansatzweise in den Institutionen der städtischen Selbstverwaltung, aber auch in einer Vielzahl bürgerlicher Vereine und Gesellschaften Realität geworden sei. Dieses Ziel suchen alle Arbeiten des Forschungsprojektes mittels eines prosopographischen Zugriffs, der Sammlung und Auswertung von personenbezogenen Daten über Mitglieder der bürgerlichen Führungsgruppen und ihre Mitgliedschaft in Vereinen und städtischen Institutionen, zu erreichen. 2

Die hier anzuzeigende Arbeit Gisela Metteles über das Kölner Bürgertum im 19. Jahrhundert weiß sich diesem anspruchsvollen Konzept verpflichtet. Die Autorin stützt sich dabei auf eine von ihr erstellte Datenbank, deren Kern die vollständige Aufnahme von drei Jahrgängen der Kölner Adreßbücher bildet (1797, 1828, 1850). Allein das letzte Adreßbuch umfaßt mehr als 18.000 Einträge - wer je mit Datenbanken gearbeitet hat, kann ermessen, welch enorme Arbeitsleistung hiermit verbunden ist. Die Daten der Adreßbücher wurden sodann nominativ mit einer Vielzahl weiterer Quellen verknüpft, mit Wählerverzeichnissen, Steuerlisten, Verzeichnissen politischer Mandate, Vereinslisten etc. Auf diese Weise konnte etwa für die Inhaber politischer Ämter oder für die Mitglieder der verschiedenen Vereine der ausgeübte Beruf bestimmt und die Bedeutung der bürgerlichen Gruppen festgestellt werden. Berufsangaben sowie die Einordnung in Steuer- und Wahlklassen nutzte die Autorin zur Einschätzung der sozialen Position. Auf dieser Datengrundlage beschreibt Mettele das Kölner Bürgertum vor allem als eine auf verschiedenen Feldern politisch handelnde Gruppe.

Die gut lesbare und nie langweilige Studie ist in vier chronologisch geordnete Kapitel gegliedert, von denen sich das erste mit der Reichsstadt Köln im ausgehenden 18. Jahrhundert beschäftigt, das zweite der französischen Zeit zwischen 1794 und 1814 gilt, das dritte Kapitel die preußische Zeit bis 1846 behandelt und das letzte sich schließlich dem Bürgertum während der Revolution und in den 1850er und 1860er Jahren widmet. Diesen vier Zeitabschnitten wird in der Studie jedoch ein recht unterschiedliches Gewicht zugemessen: Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Zeit zwischen 1815 und 1846, deren Behandlung knapp 200 der insgesamt 350 Textseiten einnimmt. Vor allem das erste und das letzte Kapitel sind relativ knapp gehalten und beanspruchen kaum mehr als eine einführende und ausklingende Einbettung zu liefern.

In jedem Abschnitt widmet sich die Autorin zunächst den verfassungsgeschichtlichen Grundlagen politischen Handelns in der Stadt. Mettele beschreibt die politischen Institutionen, ihre Kompetenzen und die Zugangsmöglichkeiten zu politischen Mandaten für die einzelnen Bevölkerungsgruppen. Im Anschluß stellt Mettele städtische Einrichtungen, Ämter und Vereine in ihrer personellen Zusammensetzung und ihrem zeitlichen Wandel vor. Eindrucksvoll zeigt sich hier die auf allen Ebenen unübersehbare Dominanz einer Gruppe potenter Wirtschaftsbürger, die sich vor allem aus Großkaufleuten, Manufakturunternehmern und Bankiers zusammensetzte.

Mettele bedient sich zu diesem Nachweis dieser Bedeutung der Kölner Wirtschaftselite einer tabellarischen Übersicht über insgesamt 20 Berufsgruppen, die in der Darstellung immer wieder in identischer Form mit den jeweils relevanten Zahlen präsentiert wird. Ein solches Vorgehen ist vor allem deshalb begrüßenswert, da es eine unmittelbare Vergleichbarkeit der dargebotenen Zahlen ermöglicht. Für den Rezensenten blieb allerdings unverständlich, warum die Autorin selbst von dieser Möglichkeit so wenig Gebrauch macht. Die unterschiedliche Verteilung der jeweils interessierenden Bevölkerungsgruppen auf die verschiedenen Berufsgruppen kann sich der Leser zwar leicht durch den einfachen Tabellenvergleich erschließen, die Autorin nutzt das Material jedoch nicht systematisch zur Interpretation von Konstanz und Wandel.

Ein Grund hierfür mag darin liegen, daß die Arbeit über die zugrundeliegenden sozialstatistischen Grundgesamtheiten nur gelegentlich Auskunft zu geben vermag. Um die Frage nach der Überrepräsentanz bestimmter bürgerlicher Gruppen auf den verschiedenen politischen Handlungsfeldern präzise Auskunft zu geben, müßten die Leser weit mehr über Umfang, Binnengliederung und Entwicklung des Kölner Bürgertums in Relation zu den anderen städtischen Sozialgruppen erfahren. Auch wünschte man sich genauere und ausführlichere Informationen zu den wirtschaftlichen Aktivitäten, zur sich wandelnden ökonomischen Funktion des Wirtschaftsbürgertums, die nicht ohne Einfluß auf die Rolle dieser Elite in der städtischen Gesellschaft geblieben sein dürfte. Die von Lothar Gall in seinen Projektskizzen angekündigte "sozialgeschichtliche Grundlagenforschung" scheint ein schwieriges, in der vorliegenden Studie offensichtlich noch nicht umfassend beackertes Feld zu sein.

Mettele hält sich indes mit solchen sozialstrukturellen Problemen nicht lange auf, sondern schreitet schnell zu den politischen und kulturellen Aktivitäten des Bürgertums im städtischen Horizont fort. Die Autorin entwirft - und hier ist ohne Zweifel der Schwerpunkt der Arbeit angesiedelt - ein beeindruckendes Bild von den vielfältigen kulturellen Initiativen, welche das Kölner Wirtschaftsbürgertum zwischen Karneval und Dombau meist im institutionellen Rahmen des Vereins, aber auch auf Festen und Versammlungen entfaltete. Diese Aktivitäten besaßen insofern politischen Charakter, als das Stadtbürgertum hier ganz explizit seine Fähigkeit zur selbständigen Organisation gesellschaftlicher Aufgaben in freien Zusammenschlüssen autonomer Staatsbürger demonstrierte. Auch auf politischem Feld in engeren Sinne, im Bereich politischer Institutionen, und auf dem wichtigen kommunalpolitischen Feld der Armenfürsorge stellte das ökonomisch potente Kölner Wirtschaftsbürgertum vor allem seine kollektive Handlungsfähigkeit gegenüber dem wachsenden Zugriff des preußischen Staates immer wieder unter Beweis.

Wie ein roter Faden durchzieht die Oppositionshaltung gegenüber der preußischen Obrigkeit das politische Handeln des Kölner Bürgertums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Ausmaß an innerem Zusammenhalt der stadtbürgerlichen Kreise, die sich als kollektiv handlungsfähige Elite zu präsentieren suchten, war nicht zuletzt eine Funktion der Abwehr von Herrschaftsambitionen der preußischen Bürokratie. Dennoch blieb die bürgerliche Geschlossenheit letztlich - wie sich in den Jahren vor und während der Revolution zeigte - auf die Zeit des Vormärz beschränkt. Mit der ökonomischen Modernisierung sowie mit der zunehmenden Politisierung der städtischen Gesellschaft brach die Einheit des Bürgertums in unterschiedliche Fraktionen auseinander, die sich dann in der zweiten Hälfte zu abgegrenzten politischen Lagern und Parteien verfestigten.

Damit belegt Mettele für das Kölner Bürgertum im Vormärz in eindrucksvoller Weise die sehr reale und praktische Relevanz der liberalen Utopie einer "klassenlosen Bürgergesellschaft" und arbeitet zugleich die Grenzen seiner Realisierbarkeit scharf heraus: Nur solange eine kleine, relativ homogene Gruppe die "Bürgergesellschaft" ausmachte, blieb diese handlungsfähig. In dem Masse, in dem der egalitäre Anspruch dieser liberalen Utopie ernstgenommen wurde und sich die politischen Institutionen größeren Bevölkerungsgruppen öffneten, erwies sich die stadtbürgerliche Einigkeit als fragiles Konstrukt. Das galt vor allem auch aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive, die von der Autorin immer begleitend mit reflektiert wird. Auch wenn Frauen im stadtbürgerlichen Leben Kölns, in Vereinen und auf Festen, durchaus eine bedeutsame Rolle spielten - Mettele hebt insbesondere das Engagement von Frauen im karitativen Bereich hervor, das wesentliche legitimierende Funktion für die bürgerliche Herrschaft in der Stadt gegenüber den unteren städtischen Schichten hatte -, so fanden Frauen doch letztlich während des gesamten 19. Jahrhunderts in jener liberalen Utopie keinen Platz.

Letztlich blieb das politische Handeln des Kölner Bürgertums im Vormärz jedoch fast ausschließlich auf kulturelle und sozialpolitische Felder begrenzt. Ob in gleichem Masse von einer Einheit des Kölner Bürgertums als politisch handelnder Gruppe gesprochen würde, wenn dieses weitere politische Kompetenzen, etwa auf dem Feld der Wirtschafts- und Finanzpolitik, besessen hätte, läßt sich kaum definitiv entscheiden. In jedem Fall hätte sich damit - man denke nur an die Auseinandersetzungen um Gewerbeverfassungen, Freihandel und Schutzzoll in jenen Jahren - der Aktionsradius über die Grenzen der Stadt hin erweitert. Es bleibt zu fragen, inwieweit in solch einer erweiterten Perspektive die Begrenzung des Blicks auf die Stadtgesellschaft tatsächlich noch der angemessene Rahmen ist, inwieweit nicht, statt des "Kölner Bürgertums" - ganz konventionell - das "rheinische Bürgertum" in den Blick genommen werden müßte. Schon eine systematische Analyse der Verwandtschafts- und Heiratskreise hätte die Existenz eines Netzwerks offengelegt, das sehr schnell die Stadtgrenzen überschritt. Damit ist die Frage gestellt, inwieweit eine so enge Aneinanderbindung von Stadt und Bürgertum, wie im Frankfurter Forschungsprojekt vorausgesetzt, tatsächlich dem Phänomen "Bürgertum im 19. Jahrhundert" gerecht werden kann - Fragen, die letztlich an den Projektleiter und weniger an die Autorin der interessanten und erhellenden Studie zum Kölner Bürgertum zu stellen ist.

Anmerkungen:

1 Folgende Stadtstudien des Projekts sind bereits erschienen: Hans-Werner Hahn: Altständisches Bürgertum zwischen Beharrung und Wandel. Wetzlar 1689 - 1870 (Stadt und Bürgertum 2), München 1991; Karin Schambach: Stadtbürgertum und industrieller Umbruch, Dortmund 1780-1870, (Stadt und Bürgertum, 5), München 1996; Thomas Weichel: Die Bürger von Wiesbaden. Von der Landstadt zur "Weltkurstadt" (1780-1914), (Stadt und Bürgertum, 6), München 1997; Ralf Roth: Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main. Ein besonderer Weg von der ständischen zur modernen Bürgergesellschaft 1760-1914, (Stadt und Bürgertum, 7), München 1996; Ralf Zerback: München und sein Stadtbürgertum. Eine Residenzstadt als Bürgergemeinde 1780-1870, (Stadt und Bürgertum, 8), München 1997; Frank Möller: Bürgerliche Herrschaft in Augsburg 1790-1880, (Stadt und Bürgertum, 9), München 1998.

2 Vgl. hierzu die Projektskizzen des Projektsleiters: Lothar Gall: Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert. Ein Problemaufriß, in: Ders. (Hg.): Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert (Historische Zeitschrift, Beihefte 12), München 1990, S. 1-18; Ders.: Vom alten zum neuen Bürgertum. Die mitteleuropäische Stadt im Umbruch 1780-1820, in: Ders. (Hg.): Vom alten zum neuen Bürgertum. Die mitteleuropäische Stadt im Umbruch 1780-1820 (Historische Zeitschrift, Beihefte 14), München 1991, S. 1-18; Ders.: Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, in: Ders. (Hg.): Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, München 1993, S. 1-12.

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