A. Ziegerhofer-Prettenthaler: Botschafter Europas

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Titel
Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren


Autor(en)
Ziegerhofer-Prettenthaler, Anita
Erschienen
Anzahl Seiten
587 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexandra Gerstner, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft lässt das Interesse an der Geschichte der europäischen Integration und der Europa-Idee nicht nach und lenkt den Blick immer wieder auf die Vordenker und Vorläufer des vereinten Europas. Die Paneuropa-Bewegung und ihr Gründer Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi dürfen als wohl bekannteste Verkünder der Europa-Idee in der Zwischenkriegszeit in keiner Darstellung zur Geschichte der europäischen Integration fehlen.1 Der aus Böhmen stammende Adlige gilt manchen gar als „prophet“ und „ideological father of a modern, unified Europe“.2 Anita Ziegerhofer-Prettenthaler legt nun mit ihrer Habilitationsschrift die erste Gesamtdarstellung der Paneuropa-Bewegung im Zeitraum von 1922 und 1938 vor, die den bislang noch nicht berücksichtigten Aktenbestand im so genannten Moskauer „Sonderarchiv“ auswertet.3

Die Parole „Paneuropa“ ist untrennbar verbunden mit Richard Coudenhove-Kalergi, und ebenso eng verknüpft sind „man and movement“ in der Paneuropa-Bewegung. Eine Geschichte dieser Bewegung schreiben heißt daher auch, Leben und Werk des böhmischen Grafen darzustellen, dem „alle Strahlen bündelnden Brennpunkt von Paneuropa“ (S. 13). Daher versucht Ziegerhofer-Prettenthaler, die Biografie Coudenhoves mit einer Organisations- und Ideengeschichte der Paneuropa-Bewegung zu kombinieren, mit dem Ziel, einen Beitrag zur „europäischen Politikgeschichte im Sinne einer europapolitischen Ideengeschichte“ (S. 14) vorzulegen.

Die Studie gliedert sich in einen chronologischen Teil, in dem die politischen, ökonomischen und kulturellen Konzepte und die Aktivitäten der Paneuropa-Union dargestellt werden, und einen systematischen Teil, der die Paneuropa-Idee in ihrem Verhältnis zu den politischen Ideologien der Zwischenkriegszeit – Nationalismus, Faschismus, Bolschewismus und Nationalsozialismus – verortet. Vorangestellt ist eine Biografie Coudenhoves, die in erster Linie auf einer Auswertung der fünf Autobiografien, die Coudenhove im Laufe seines Lebens geschrieben hat, basiert, aber in Bezug auf sein Studium und seine Verbindung zu der Freimaurerloge „Humanitas“ auch viel neues Quellenmaterial zu Tage fördert. In Hinblick auf die Genese der Paneuropa-Idee und die Verortung Coudenhoves im intellektuellen Milieu folgt Ziegerhofer im biografischen Teil allerdings zu sehr den Auslegungen in Coudenhoves Memoiren und unterschätzt vor allem den Einfluss des Aktivismus auf seine politische Weltanschauung.4

Der organisationsgeschichtliche Teil der Studie konzentriert sich vor allem auf die Paneuropa-Bewegung in Österreich, aber auch die Paneuropa-Union in Deutschland wird ausführlicher behandelt. Dies leuchtet ein, denn in Wien befand sich die Zentrale der Paneuropa-Bewegung, und Coudenhove, der sich selbst als „Kopf“ und die Bewegung als „Leib“ verstand, steuerte von hier die paneuropäischen Landessektionen. Die Landessektionen der restlichen europäischen Staaten warten so weiterhin auf ihre Erforschung, nur die französische wurde im Rahmen der Studien zu den deutsch-französischen Beziehungen bereits genauer untersucht.

Ziegerhofer-Prettenthaler kann in ihrer detaillierten Darstellung zeigen, dass das Schwanken der „Paneuropa-Union“ zwischen Massenbewegung und elitärem Erziehungsauftrag mitverantwortlich für die relative Bedeutungslosigkeit der Paneuropa-Union war. Trotz der ungemeinen Popularität des Schlagwortes „Paneuropa“ konnte die Organisation ihre hochgesteckten politischen Ziele nicht erreichen, und der autoritäre Führungsstil Coudenhoves führte zu Konflikten mit der deutschen Sektion der Paneuropa-Union. Diese wandelte sich von einer eigenständigen, demokratisch gesinnten Landesabteilung zu einem bloßen Trabanten der Wiener Zentrale, mit der sie seit 1928 durch den Präsidenten Coudenhove in Personalunion verbunden war. Coudenhove war keineswegs an einer Diskussion über Wege zur europäischen Integration interessiert, sondern wollte vor allem durch die Propagierung der von ihm entwickelten Paneuropa-Idee sowohl auf die Massen wie auch auf politisch und wirtschaftlich einflussreiche Persönlichkeiten wirken. Seine Auffassung, die Paneuropa-Union sei eine „politische Armee“ und er selbst der „Generalstabschef“ (S. 283) ist ein markantes Signal für seine auch innerhalb der Organisation vertretene Demokratieferne. Überzeugend demonstriert Ziegerhofer-Prettenthaler den Zusammenhang zwischen Coudenhoves philosophischem Gesellschaftsentwurf einer an Nietzsche und Platon orientierten „Neoaristokratie“ und seinem autoritären Führungsstil in der Paneuropa-Union.

Seine Ablehnung der Demokratie basierte auf dem damals bei konservativen Intellektuellen verbreiteten „Antimaterialismus“, der das Prinzip der allgemeinen Wahl als rein quantitatives Verfahren disqualifizierte. Diese „antimaterialistische“ Einstellung war sowohl für seine vehemente Aversion gegen den Bolschewismus, den er als materialistisches System auffasste, als auch für seine Begeisterung für den italienischen Faschismus ausschlaggebend. Die Gründe für Coudenhoves jahrelanges Werben um den „Duce“ sind daher nicht nur ex negativo in seinem Antibolschewismus zu suchen, wie Ziegerhofer-Prettenthaler nahe legt, sondern können auch darin gesehen werden, dass er in dem italienischen Staat Ansätze einer „Neoaristokratie“ verwirklicht sah. Obwohl die Idee eines vereinigten Europas vor allem in Kreisen linksgerichteter Pazifisten, Sozialdemokraten und Zentrumspolitiker auf fruchtbaren Boden fiel, verprellte Coudenhove zahlreiche Anhänger durch seine ambivalente Haltung zur Demokratie und durch seinen zunehmend aggressiven Antibolschewismus. Schmückte sich die Union in der ersten der drei Phasen, die Ziegerhofer-Prettenthaler in der Entwicklung der Organisation ausmacht 5, noch mit Demokraten wie Paul Löbe, Tomas Masaryk und Aristide Briand, schloss sich die Union nach 1933 eng an die Politik der Regierung Dollfuß an. Dies ist nicht allein als Ausdruck von Coudenhoves Kampf gegen den Nationalsozialismus und für ein selbständiges Österreich zu werten, sondern belegt ebenso, dass er den christlich fundierten, autoritären Ständestaat bejahte.

Coudenhoves Selbstwahrnehmung von Paneuropa als idealistisches Projekt, dass mit realpolitischen Mitteln umgesetzt werden sollte, wurde von seinen Zeitgenossen nicht immer geteilt. So fanden konkurrierende Europa-Visionen wie etwa das christlich-kulturelle „Abendland“-Modell bei Schriftstellern und Politikern im deutschsprachigen Raum mehr Anklang.6 Und auch die späte Wende zu wirtschaftlichen Fragen erwies sich als Manko. Denn obwohl er schon früh eine europäische Zollunion propagierte, sah Coudenhove wirtschaftliche Fragen zunächst als der Politik nachrangig an. Erst nach der Konsolidierung der Organisation um 1927 nahm das paneuropäische Wirtschaftsprogramm Konturen an, doch die 1932 vollzogene Wende zum Primat der Wirtschaft steht wohl eher mit dem Scheitern des politischen „Paneuropa“ in Zusammenhang. Ziegerhofer-Prettenthaler weist nach, dass das wirtschaftliche Programm von einer realistischen Einschätzung der Möglichkeiten weit entfernt war und wiederum Coudenhoves autoritärer Führungsanspruch destruktiv auf die praktische Umsetzung wirkte. Der Konflikt zwischen der „Mitteleuropa“- und der „Paneuropa“-Konzeption, der in Deutschland zunehmend für „Mitteleuropa“ entschieden wurde, tat ein weiteres, um das Wirtschaftsprogramm der Paneuropa-Union scheitern zu lassen.7

Der große Gewinn dieser Studie, der sie von allen vorhergehenden zum Thema abhebt, liegt sicherlich in der Fülle neuen Materials, das hier präsentiert wird und das erstmals einen genauen Blick hinter die Kulissen der Paneuropa-Union gewährt. Deutlicher als zuvor wird der alles beherrschende Einfluss von Coudenhove auf die Paneuropa-Bewegung, was vor allem dem hier gewählten methodischen Ansatz der Verquickung von Biografie und politikgeschichtlicher Analyse zu verdanken ist. Vor dem nicht immer übersichtlichen Panorama der europäischen Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit beleuchtet die Studie Leistung, Grenzen und Möglichkeiten der Paneuropa-Bewegung auf ihrem Weg zu einem vereinigten Europa.

Anmerkungen:
1 An neueren Studien sind hier etwa zu nennen: Burgard, Oliver, Das gemeinsame Europa - von der politischen Utopie zum außenpolitischen Programm. Meinungsaustausch und Zusammenarbeit pro-europäischer Verbände in Deutschland und Frankreich 1924-1933, Frankfurt am Main 2000; Stirk, Peter (Hg.), A History of European Integration since 1914, London 1996.
2 So Wiedemer, Patricia, The Idea behind Coudenhove-Kalergi’s Pan-European Union, in: History of European Ideas 16 (1993), S. 827- 833, hier S. 832.
3 Auf folgende neuere Arbeiten zum Thema sei außerdem hingewiesen: Saint-Gille, Anne-Marie, La „Paneurope“. Un débat d'idées dans l'entre-deux-guerres, Paris 2003; Holl, Karl, Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi und seine Vision von „Paneuropa“, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Europäer des 20. Jahrhunderts, Mainz 2002, S. 11-73; Théry, Franck, Construire l’Europe dans les années vingt. L’action de l’Union paneuropéenne sur la scène franco-allemande 1924-1932, Genf 1998.
4 Hier fallen auch kleinere Ungenauigkeiten auf, z.B. wenn der Aktivist Kurt Hiller als „Sozialdemokrat“ und „Aktionist“ bezeichnet wird (S. 68), Gustav Wyneken zu „Wynecken“ oder der „Rat geistiger Arbeiter“ zum „Rat für geistige Arbeit“ wird (S. 340). Eine ausführliche Darstellung des ideengeschichtlichen Kontextes und des intellektuellen Umfeldes Coudenhoves zwischen 1919 und 1923 findet sich in der Studie von Saint-Gille (wie Anm. 3).
5 Die Einteilung der Phasen erfolgt von der Gründung der Union (1923) bis zum Briandschen Memorandum (1930), die Zeit vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten (1930-1933) und die Zeit zwischen 1934-1938, „die eine ‚inhaltliche’ Wende der Bewegung von der politischen bis zur wirtschaftlichen und schließlich geistig-kulturellen Orientierung“ markiert (16).
6 Vgl. Pöpping, Dagmar, Abendland. Christliche Akademiker und die Utopie der Antimoderne 1900-1945, Berlin 2002.
7 Zu den Bemühungen innerhalb der deutschen Wirtschaft um eine europäische Einigung vgl. Frommelt, Reinhard, Paneuropa oder Mitteleuropa. Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik 1925-1933 (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 34), Stuttgart 1977.

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