E. Büchi: Als die Moral baden ging

Titel
Als die Moral baden ging. Badeleben am schweizerischen Bodensee- und Rheinufer 1850-1950 unter dem Einfluss der Hygiene und der "Lebensreform"


Autor(en)
Büchi, Eva
Reihe
Thurgauer Beiträge zur Geschichte 139
Anzahl Seiten
262 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Schwab, Bern

„E“ für eingepfercht: mit diesen deutlichen Worten charakterisiert die Autorin Eva Büchi die Kastenbäder, die eine charakteristische E-Form aufwiesen und von denen im 19. Jahrhundert mehrere am Bodensee gebaut wurden. Diese Bäder, die auch Seebadeanstalten genannt wurden, lagen frei schwimmend auf dem See und waren nur durch eine Brücke mit dem Ufer verbunden. Dies hatte den Vorteil, dass die Badenden geschützt von neugierigen Blicken vom Ufer her waren. Auch im Inneren der Badeanstalt wurde darauf geachtet, dass die privaten Sphären der Frauen und Männer möglichst gewahrt blieben. Die Geschlechtertrennung war mit zwei unabhängigen Teilen vollständig durchgesetzt, es gab dafür sogar zwei Schwimmbecken, die einen verstellbaren Boden aufwiesen, damit die Frauen und Männer leichter schwimmen lernen konnten. Düster waren die Kastenbäder, nicht bestimmt, um dort einen gesamten Tag zu verbringen. Eva Büchi beschreibt sie als „öffentliche Badezimmer“, die im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erlebten, als viele bürgerliche Haushalte noch kein eigenes Badezimmer hatten, obschon die Hygienebewegung ein regelmäßiges Waschen unmissverständlich forderte.

Nach 1900, als sich in der Gesellschaft viele alternative Bewegungen aufkamen, die unter dem Stichwort „Lebensreform“ zusammengefasst werden, waren die hölzernen Seebadeanstalten auf einmal nicht mehr attraktiv. In Badezellen eingepfercht und nach Geschlechtern getrennt entsprach nicht mehr den Bedürfnissen der „modernen“ Menschen, die sich nach Licht, Sonne und Luft sehnten und ihr Badevergnügen mit anderen teilen wollten. Die „Strandbadbewegung“ setzte sich für eine zeitgemäßere Bäderkultur am Strand ein, die eine größere Bewegungsfreiheit erlaubte. Zunächst waren auch sie nach Geschlechtern getrennt, doch schon bald setzte ein Trend nach so genannten „Familienbädern“ ein, die nach und nach die getrennten Zonen verdrängten. Auch diese neuen Strandbäder hatten wenig gemein mit unkontrolliertem Baden, doch boten sie mit Liegewiesen, Sprungtürmen und Restaurants mehr Möglichkeiten als die alten Seebäder, die trotz allen späteren baulichen Aufwertungen nie attraktiv wurden.

Am Beispiel der Bäder am schweizerischen Bodenseeufer – wobei punktuell auch die Bäder an der Ostsee, in Berlin, Köln und Wien sowie in anderen Schweizer Städten in ihre Untersuchung einbezogen werden – wird dieser Wandel eindrücklich vor Augen geführt. Zeitlich fällt er genau mit dem Aufkommen des Tourismus in dieser Region zusammen. Obschon die ersten Kurhotels zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden, waren die damaligen Seebadeanstalten nicht für Fremde gedacht. Erst zu Anfang des neuen Jahrhunderts, gleichzeitig mit dem Aufkommen der Strandbäder, versuchten die Fremdenorte mit dem 1901 gegründeten Bodenseeverkehrsverein den Gästen das Baden im Bodensee näher zu bringen und warben dafür mit Slogans wie „Der Süden beginnt am Bodensee“.

Geschickt und suggestiv einleuchtend setzt Büchi zwei Idealtypen vor die beiden Hauptteile ihrer Untersuchung, das Kastenbad und das Strandbad, wobei sie Ersterem die Hygienebewegung und Letzterem die Lebensreform zuordnet. Dieser Ansatz führt jedoch dazu, dass gewisse übergreifende Elemente und Verbindungslinien zwischen den Bewegungen unterbelichtet werden. Wie aus einigen Zitaten im Buch deutlich wird, dienten schon die alten Seebadeanstalten trotz strikter Geschlechtertrennung als Orte des Kennenlernens. Insofern kann dieser Übergang von der repressiven, disziplinierenden Seebadeanstalt zum „freien“ Strandbad nur bedingt überzeugen. Vielmehr gab es ein zeitliches Nebeneinander der beiden: Während die Kreuzlinger laut Büchi die „Zeichen der Zeit verkannten“ und noch 1926 ein altes Kastenbad bauten, ließen sich die Arboner 1930-1933 ein modernes Strandbad aus Sichtbeton, Glas und Stahl im funktionellen Bauhausstil errichten. Wie sie selbst betont, war der Übergang von Seebadeanstalten zu Strandbädern fließend, so wie auch die Hygieniker und die Lebensreformer zum Teil durchaus ähnliche Zielsetzungen verfolgten.

Ein Verdienst der Zürcher Dissertation ist indes, dass auch die Gegenbewegung zu den Badesitten deutlich herausgearbeitet wird, was gerade bei der Lebensreform zu oft vergessen worden ist. Um das Baden gab es einen intensiven Diskurs, an dem sich auch viele Gegenstimmen beteiligten. Als Gegner der Strandbäder taten sich neben den Behörden hauptsächlich die katholische Kirche und die neu entstandenen Sittlichkeitsvereine hervor. Sie sahen im gemischtgeschlechtlichen Baden einen „Kulturbolschewismus gefährlichster und schlimmster Art“ und glaubten, damit würden die festen Größen Familie und Staat unterminiert. Strandbäder als „Herd der Sinnlichkeit“ galten als der Ort, wo dumme Mädchen auf Gigolos hereinfallen, was von Witzblättern oft karikiert wurde. An diesem Urteil waren die Badeorte oft nicht unbeteiligt, aus touristischen Gründen war ihnen vielfach gar an einer erotischen Aufladung gelegen. Auf einer im Buch zitierten Postkarte aus Borkum von 1920 waren zehn schlüpfrige Gebote für „Jungfrauen“ abgedruckt, worunter den Frauen u.a. geraten wurde: „Du sollst nicht zuviel Badekleider anziehen, denn Du gehst nicht nur zu Deinem Vergnügen baden.“

Weiter greift Büchi die Thesen von Hans Peter Duerr auf, der in der Entstehung der Badeanstalten ein Akt der Disziplinierung sah. Badeanstalten mit Geschlechtertrennung seien nämlich gerade dort gebaut worden, wo früher Männer und Frauen gemeinsam badeten. Bei vielen einzelnen Badeanstalten, die im Buch behandelt werden, finden sich Indizien für diese These. Gleichzeitig jedoch war die Geschlechtertrennung beim Baden so selbstverständlich, dass sie in den Badeordnungen gar nicht explizit erwähnt werden musste. Aber wie schon das Titelbild zeigt, minderte die Geschlechtertrennung das Interesse am anderen Geschlecht nicht, wofür auch viele andere Quellen sprechen. Die strikt verordnete Geschlechtertrennung wurde oft umgangen, z.B. durch Astlöcher, die besonders von jungen Männern oft auch selbst gebohrt wurden, wie Klagen bei den Behörden belegen. So fällt Büchis Fazit zu Duerrs Thesen richtigerweise ambivalent aus.

Abgerundet wird die Arbeit durch ein Inventar der Badeanlagen am Bodensee, wofür Eva Büchi unzählige Stunden in den vielfach unerschlossenen Archiven der Bodenseegemeinden verbrachte. Das gesamte Buch ist sehr schön bebildert, was allein schon dazu einlädt, darin zu blättern. Bei dieser Tätigkeit hat den Rezensenten eine angenehme und dazu eine historisch fundierte Vorfreude auf den nächsten Sommer ergriffen, für welchen er sich vorgenommen hat, manche der noch bestehenden alten Badeanlagen real erkunden zu gehen.

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