H.-W. Schmuhl: Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland

Cover
Titel
Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871-2002.


Autor(en)
Schmuhl, Hans-Walter
Reihe
Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 270
Anzahl Seiten
776 S.
Preis
€ 12,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Hübner, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Das Erscheinen dieses Buches fällt mit einer intensiv geführten öffentlichen Debatte um die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland, um die Überwindung der überbordenden Arbeitslosigkeit und damit auch um Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung zusammen. Man wird nicht leugnen können, dass es angesichts dieser Herausforderungen einen realen Bedarf gibt, die Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik auf allen ihren Feldern einmal im historischen Gesamtzusammenhang zu sehen. Hans-Walter Schmuhl gebührt das Verdienst, diese Aufgabe in dem hier vorzustellenden Buch gelöst zu haben. Als Forschungsprojekt am Historischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel angesiedelt, konnte das Vorhaben im Rahmen einer Förderung durch die Bundesanstalt für Arbeit und die Thyssen-Stiftung realisiert werden. Das Engagement der Bundesanstalt spricht für ein institutionelles Interesse an diesem Thema, es zeigt aber ebenso, wie hart der Wind nicht nur den Arbeitslosen, sondern auch den Akteuren der Arbeitsverwaltung entgegenweht: Noch während des Entstehens dieser Arbeit geriet die Nürnberger Anstalt wegen ihrer unkonventionellen Statistik ins Gerede und kaum hatte der neue Vorstandsvorsitzende der Bundesanstalt, der nunmehrigen Bundesagentur für Arbeit, für diesen Band ein freundliches Vorwort beigesteuert, musste er wegen umstrittener Beraterverträge seinen Posten schon wieder räumen. Die öffentliche Arbeitsverwaltung war schon immer ein heikles Terrain. Auch wird die „moralische Provokation sozialer Ungleichheit“ u.a. auf dem Arbeitsmarkt besonders deutlich, weil dort „mit sukzessive kumulativen Prozessen sozialer Benachteiligung gerechnet werden muss“. 1

Die zentrale Handlungsebene dieses Buches ist ein Bereich, der gewissermaßen die Peripherie moderner Arbeitsgesellschaften bildet, eine Übergangszone von Nichtarbeit und Arbeitslosigkeit zur meist unselbstständigen Erwerbsarbeit. Die sich hier abspielenden Vorgänge resümiert Schmuhl knapp und präzise folgendermaßen: Die moderne Marktwirtschaft habe ein dynamisches, auf unbegrenztes Wachstum setzendes, aber immer prekäres, zeitweise krisenhaft gestörtes sozioökonomisches System geschaffen. Arbeitsmärkte erfüllten die Funktion zwischen rascher Bevölkerungszunahme und dem Arbeitsangebot der Wirtschaft mit seiner saisonal und konjunkturell schwankenden Nachfrage nach Arbeitskräften zu vermitteln. Auch die Effekte des durch technische Innovation, Rationalisierung und Globalisierung bewirkten wirtschaftlichen Strukturwandels seien arbeitsmarktrelevant. „In der historischen Langzeitperspektive betrachtet, stellte sich dabei ein labiles Fließgleichgewicht ein. Gleichwohl kam es immer wieder zu temporären, aber gravierenden Störungen der Arbeitsmärkte. Hier musste der im Entstehen begriffene Sozialstaat intervenieren, wenn das von ihm geknüpfte Netz sozialer Sicherung und Risikominimierung nicht zerreißen sollte“ (S. 775).

Schmuhl schlägt den Bogen von den ersten in Deutschland entstandenen kommunalen Arbeitsnachweisen bis zur Bundesagentur für Arbeit. Bereits in den Vierziger-Jahren des 19. Jahrhunderts waren in Dresden und Leipzig „zwei richtungweisende Modelle der Arbeitsvermittlung“ (S. 21) entstanden. Die fein gegliederte Darstellung folgt in drei großen Kapiteln dem chronologischen Prinzip. Das Erste umfasst den Zeitraum von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Annahme des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) und, damit im Zusammenhang, zur Gründung der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung im Jahr 1927. Wohl mit gutem Grund sieht der Autor im AVAVG „die bedeutendste sozialpolitische Innovation der Weimarer Republik“ (S. 155). Das zweite Kapitel beginnt mit der Weltwirtschaftskrise, behandelt die Beschäftigungssituation, die Arbeitsmarktpolitik und die Tätigkeit der Arbeitsverwaltungen in der späten Weimarer Republik, die Arbeitseinsatzpolitik des Nationalsozialismus und schließt mit dem Wiederaufbau der Arbeitsverwaltungen, der Arbeitskräftelenkung und den beschäftigungsrelevanten Aspekten der Entnazifizierung zur Zeit der Besatzungszonen. Der Hauptakzent liegt hier auf der NS-Kommandowirtschaft und dem menschenrechtswidrigen Zwangsarbeitssystem des nationalsozialistischen Staates. Der DDR ist in diesem Kapitel ein Exkurs gewidmet, der vor allem die Besonderheiten und das Versagen der am Recht auf Arbeit orientierten Beschäftigungsstrategien hervorhebt. Er dient im Wesentlichen als Vergleichsfolie für die Entwicklung in der Bundesrepublik. Eine ausführlichere Behandlung der Beschäftigungspolitik in der DDR war damit offenbar nicht beabsichtigt. Das dritte Kapitel wendet sich der Arbeitsverwaltung der Bundesrepublik im Zeitraum von 1949 bis 2002 zu. Deutliche Schwerpunkte liegen hier auf der Entstehung des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG), das 1969 durch die Große Koalition auf den Weg gebracht wurde, und auf der Arbeitsmarktpolitik im seit 1990 vereinten Deutschland.

Hans-Walter Schmuhl lässt auch angesichts vielfältiger Problemlagen der Erwerbsarbeit in Deutschland und des langen Untersuchungszeitraumes von rund anderthalb Jahrhunderten kein Feld der Arbeitsmarktpolitik aus. Wer etwas über die demografische Entwicklung, das Arbeitspotenzial, über Beschäftigungsmodalitäten und über Arbeitslosigkeit, über die Kontroll-, Selektions- und Sanktionsfunktion der Arbeitsverwaltung, das Verhältnis von Selbstverwaltung und staatlicher Kontrolle, die Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit und Ausländerbeschäftigung im zeitlichen Längsschnitt erfahren will, kommt hier auf seine Kosten. Das nicht zuletzt unter aktuellen Aspekten besonders interessierende Wirken der Bundesanstalt für Arbeit zeigt einen Übergang von der passiven zur aktiven Arbeitsmarktpolitik und darüber hinaus bis zum gegenwärtigen Versuch einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Mit Blick auf die neuen Bundesländer bescheinigt Schmuhl der Bundesanstalt beim Aufbau der Arbeitsverwaltung und beim Versuch, die 1990 eingetretene „Beschäftigungskatastrophe“ (S. 537) zu lösen, durchaus Teilerfolge. Im Urteil darüber, wie der besonders auf dem „zweiten Arbeitsmarkt“ entwickelte „pragmatische Aktivismus“ (S. 564) und seine Ergebnisse zu beurteilen sind, hält sich der Autor zurück. Als weitere Probleme, die vor der neuen Bundesagentur stehen, nennt er die Europäisierung des Arbeitsmarktes, die Aufhebung des Vermittlungsmonopols und neue Beschäftigungsstrategien. Diese abschließenden Abschnitte heben sich naturgemäß von der vorangegangenen historischen Darstellung ab.

Es wird deutlich, dass die Arbeitsmarktpolitik während des gesamten betrachteten Zeitraums unter den oft widersprüchlichen Einflüssen der Sozial- und Wirtschaftspolitik stand. Doch auch diese beiden Politikfelder bedurften im modernen Sozialstaat eines regulierten Arbeitsmarktes, sei es durch kommunale oder staatlich organisierte Arbeitsvermittlung. In diesem Fazit liegt ein nicht ganz unwichtiger Beitrag zur andauernden Diskussion um die Zukunft der Arbeitsmarktpolitik.

Angesichts des ohnehin imposanten Umfangs von knapp 800 Seiten wäre es beckmesserisch, noch hier und da Ergänzungen und Erweiterungen anzumahnen. Gleichwohl hätte es anregend sein können, wenn Schmuhl seine Befunde mit den von dem französischen Soziologen Robert Castel Mitte der Neunziger-Jahre vorgetragenen Thesen zur Krise der modernen Arbeitsgesellschaften konfrontiert hätte. 2 Aber den Lesern bleibt es unbenommen, dies nachzuholen.

Im Anhang enthält der Band ein Quellen- und Literaturverzeichnis, eine knappe chronologische Übersicht („Zeitleiste“), ein Abkürzungsverzeichnis, Personen-, Orts- und Sachregister sowie eine kurze Zusammenfassung des Inhalts. Zudem findet sich auf insgesamt 73 Seiten eine bemerkenswerte Zusammenstellung von themenbezogenen Fotos und Faksimiles. Schmuhl ist es in diesem Buch gelungen, eine schwierige, zum Teil auch spröde Materie in konzentrierter, sehr überzeugend systematisierter Form und gut verständlich zu präsentieren. Das Werk setzt Maßstäbe.

Anmerkungen:
1 Kaufmann, Franz-Xaver, Der Begriff Sozialpolitik und seine wissenschaftliche Deutung, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bundesarchiv Koblenz (Hgg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 1. Grundlagen der Sozialpolitik, Baden-Baden 2001, S. 7-101, hier S. 98.
2 Castel, Robert, Les métamorphoses de la question sociale. Une Chronique du salariat, Paris 1995; dt.: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000.

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