N. Stehr: Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften

Titel
Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften.


Autor(en)
Stehr, Nico
Erschienen
Weilerswist 2000: Velbrück Wissenschaft
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 39,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Mikuteit, Europa-Universität

Unter dem Titel "Die Zerbrechlichkeit moderner Geselllschaften" untersucht der deutsch-kanadische Soziologe Nico Stehr den jüngsten gesellschaftlichen Wandel der Industriegesellschaften unter dem Leitgedanken der zunehmenden Bedeutung von "Wissen". In Abgrenzung von den Konzepten der Informations-, Netzwerk- und postindustriellen Gesellschaft rückt Stehr den in den 1960er Jahren geprägten Begriff der "Wissensgesellschaft" in den Mittelpunkt der Interpretation. Bereits in seinem Buch "Arbeit, Eigentum und Wissen" (Frankfurt/M. 1994) beschäftigte sich Stehr mit den entsprechenden Konzepten. Wissen definiert Stehr dabei als die "Fähigkeit zum sozialen Handeln (Handlungsvermögen)" (S. 81). Es kann, so Stehr, "zu sozialem Handeln führen und ist gleichzeitig Ergebnis von sozialem Handeln" (S. 84). Das Wissenschaftssystem bzw. das wissenschaftlich-technische Wissen, im Unterschied zu Information oder Humankapital, hat mittlerweile, so Stehr, "eine historisch einmalige Bedeutung" (S. 56) erlangt und dringt weiter in alle gesellschaftlichen Bereiche vor. Zunehmend wird es schwieriger, den Zugang zu Wissen extern zu regulieren. In wachsendem Masse stellt Wissen die "führend[e] Grösse im Produktionsprozess" (S. 64) einer sich zur "symbolischen Wirtschaft" entwickelnden Ökonomie dar. Es bestimmt immer stärker "die Identität dieser Gesellschaftsformation" (S. 53), die sich in einem evolutionären Prozess von der Eigentums- über die Arbeitsgesellschaft zur Wissensgesellschaft entwickelt. Jedoch entstehen keine einheitlichen gesellschaftlichen Konfigurationen: "Sie assimilieren sich, indem sie, so paradox dies auch klingen mag, jeweils eigenen Entwicklungsmustern folgen und dabei in vieler Hinsicht verschiedenartig bleiben." (S. 54). Im Zuge dieses sich hochgradig "selbsttransformierend" (S. 314) vollziehenden Wandels von Wirtschaft und Gesellschaft entsteht aber keine Idealgesellschaft. Die neuen Handlungsmöglichkeiten sind ungleich verteilt (S. 312). Es kommt zur Verhärtung existierender Ungleichheiten. Neue Privilegien entstehen (S. 315).

Vor allem kommt es unter den grundlegend gewandelten Bedingungen der "Wissensgesellschaft", nach Stehrs Ansicht, zu einem Herrschaftsverlust besonders derjenigen gesellschaftlichen Institutionen, die in vielen Staaten Europas und Nordamerikas von der Mitte des 19.bis weit ins 20. Jahrhundert hinein das Denken über die Gesellschaft und die sozialen Verhältnisse bestimmten (S. 15). Dem steht im Zuge eines Modernisierungsprozesses, den Stehr als "Prozess der Extension und Rekonfiguration von Handlungsmöglichkeiten" (S. 48) deutet, "der Zuwachs an gesellschaftlichem Einfluss und Widerstandsmöglichkeiten kleinerer sozialer Kollektive" (S. 15) sowie einzelner Gesellschaftsmitglieder gegenüber. Die heute so oft beschworene Globalisierung versteht Stehr dabei als die "territoriale Extension von Handlungschancen über die Grenzen des Nationalstaats hinaus" (S. 49). Gleichzeitig verliert die Gefahr der Ausgestaltung von autoritären politischen Regimen sowie technokratischen Herrschaftsformen an Wahrscheinlichkeit, da Wissenschaft und Technik für eine wachsende Zahl von Akteuren Handlungsmöglichkeiten eröffnen, "die sogar den Widerstand gegen eine Generalisierung und Homogenisierung des sozialen Verhaltens in dieser Gesellschaft erleichtern" (S. 76). Auf der anderen Seite, so Stehrs Generalthese, nimmt die "Zerbrechlichkeit der modernen Gesellschaft" zu. Damit meint er die "Unfähigkeit staatlicher sowie anderer grosser gesellschaftlicher Institutionen", etwa der Wissenschaft, der Kirche, des Parlaments, der Justiz oder der Wirtschaft, "gegenwärtig - und aller Wahrscheinlichkeit nach noch nachhaltiger und eindringlicher in Zukunft - zu regieren bzw. ihren Willen durchzusetzen" (S. 15.

Gleichzeitig festigen die zunehmenden Handlungschancen "das Veränderungspotential und das Tempo sozialen Wandels der Gesellschaft insgesamt" (S. 143). Dadurch entsteht neue Unsicherheit. Ganz allgemein gilt, "daß Prozesse, die Handlungsfähigkeiten ausweiten und verbessern, immer von Prozessen des Verlusts, der Schrumpfung und Enteignung begleitet sind" (S. 150). Angesichts der Zunahme der Kontingenz und Zerbrechlichkeit des sozialen Handelns hält Stehr es nicht für ausgeschlossen, daß paradoxerweise "eine ausgeprägte Vorstellung von Hilflosigkeit" bzw. ein "Gefühl der Hilflosigkeit" (S. 147) sich ausbreitet. Einerseits konstatiert er "einen auffallenden Verlust der Furcht und der Achtung, [...] insbesondere in Beziehungen, die staatlich-admininstrative Autorität und Massnahmen involvieren" (S. 150). Andererseits steht dem eine Furcht vor Umweltproblemen gegenüber sowie "vor den Folgen technischer Artefakte, der Erkenntnis, daß nicht alle sozialen Probleme umgehend rational kontrolliert und planend verhindert oder gelöst werden können, sowie vor der wachsenden Einsicht in die nichtintendierten und nichtantizipierten Folgen sozialen Handelns" (S. 150). Ausdrücklich erinnert Stehr in diesem Zusammenhang an das emanzipatorische Potential das Wissen für jeden Einzelnen birgt. Neue Möglichkeiten und Formen der gesellschaftlichen Partizipation an wissenschaftlich-technischen Entwicklungen eröffnen sich. Die Grenzen zwischen Wissenschaft, Politik und Ökonomie werden zunehmend "dynamisch und durchlässig" (S. 245).

Davon bleibt selbstverständlich das politische Leben nicht unbeeinflusst. Stehr akzeptiert "die These von der deutlich gestiegenen Schwierigkeit, zu regieren" (S. 173). Diese Verminderung der Regierbarkeit "[...] kann sehr wohl mit einem sich verstärkenden Ohnmachtsgefühl oder mit einem Prozess der Entpolitisierung der Regierten Hand in Hand gehen." (S. 180 f.). Stehr streicht aber vor allem heraus, "daß die Regierungsform, die Struktur des politischen Lebens und die Partizipationsmöglichkeiten in der nachindustriellen Gesellschaft gerade dadurch gekennzeichnet sind, daß diese Prozesse keine einheitliche Ausprägung haben werden und daß ihre Voraussage, aber auch ihre Planung und Kontrolle aus systematischen, in dieser Gesellschaftsform angelegten Gründen ein prekäres und mit grosser Unsicherheit verbundenes Unterfangen wäre." (S. 164 f.). Eng verknüpft mit seiner ökonomischen Analyse gelangt Stehr zu der These, daß die allgemeine Verminderung der materiellen Not eine Veränderung der gesellschaftlichen Bedeutung ökonomischer Fragen zur Folge hat (S. 181). Der Bedeutungsverlust der herkömmlichen Produktionsfaktoren Arbeit und Eigentum führt zu veränderten Formen der politischen Auseinandersetzung. Politische Ziele werden jetzt deutlich als Wertvorstellungen formuliert und es kommt "zu einer Ausweitung der in politischen Auseinandersetzungen relevanten Handlungsmöglichkeiten (und damit der Macht) vormals machtloser Akteure" (S. 181).

Fraglich bleibt aber, ob Stehr sich hier nicht zu weit auf postmaterialistischen Pfaden mit seiner Behauptung vorwagt, daß politische Kämpfe nicht länger "als Kampf zwischen den Eigentümern von Arbeitskraft und den Eigentümern von Produktionsmitteln" (S. 181) beschrieben werden können und daß sich politische Auseinandersetzungen in Zukunft "auf Fragen des Lebensstils und auf nichtökonomische, neue politische Ziele auf der Basis eines neuen Spektrums politischer Organisationen" (S. 181) beziehen werden. Weder der Hinweis auf die Partizipationschancen des Internets (S. 205) kann hier vollständig überzeugen noch Stehrs Auseinandersetzung mit den neuen sozialen Bewegungen, in denen er die Partizipationsbereitschaft "eng mit einer postmaterialistischen Weltanschauung korreliert" (S. 292) sieht. Die neuen sozialen Bewegungen definiert Stehr dabei als "Transmissionsriemen und Verstärkungseffekte für eine effiziente Anwendung von Wissen. Das Neue an ihnen ist deshalb die Bedeutung und der Umfang von kognitiven Aktivitäten." (S. 289).

Insgesamt zeichnet Nico Stehr ein zwiespältiges Bild. Ausdrücklich weist er auf die "gleichzeitige Macht und Fragilität wissenschaftlicher Erkenntnis" (S. 309) hin, auf deren "soziale und kognitive Kontingenz" (S. 309) und den Autoritätsverlust der Wissenschaft durch den Expertenstreit (S. 305). Einerseits wächst die gesellschaftliche Bedeutung des Wissens, andererseits nehmen die Kontingenz des Wissens und der sozialen Beziehungen zu. Dies führt, nach Stehrs Auffassung, zu einer "Beschleunigung der Geschichte" (S. 308) und zu einer immer schwierigeren Prognostizierbarkeit einer immer ungewisseren Zukunft. Die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Zukunft erfolgt zunehmend "unter dem Aspekt des Risikos" (S. 301). Die damit einhergehende Unsicherheit führt wiederum zum Wunsch, diese durch wissenschaftlich erzeugtes Wissen zu überwinden. (S. 301). Den Machtverlust des Staates zugunsten der Zivilgesellschaft hält Stehr für unbezweifelbar. Ob der gewonnene Freiraum des Einzelnen aber "zu progressiven gesamtgesellschaftlichen Veränderungen" (S. 310) führen wird, bleibt für ihn zweifelhaft. In nüchterner Abwägung der Chancen und Risiken nimmt Stehr insgesamt eine optimistische Haltung ein. Es bleibt aber fraglich, ob der Soziologe in seinem thesenreichen, thematisch breit angelegten und anregenden Buch nicht zu voreilig die Sprengung des "fast ausbruchssicheren und unzerstörbaren Käfig[s] der rationalen bürokratischen Organisation in modernen Gesellschaften" (S. 315), wie vor allem von Max Weber beschrieben, postuliert. Es muss sich erst noch zeigen, ob die "basisdemokratisch verfasste[n] Organisationen von aktiven Staatsbürgern" (S. 315 f.), tatsächlich die ihnen von Stehr zugeschriebene Wirkung entfalten werden.

Generell bleibt Skepsis gegenüber dem von Stehr entwickelten Modell bestehen, das vor allem soziale, ökonomische und politische Gegenwartstendenzen, ohne tiefergehende historische Einbettung, unter dem Gedanken der wachsenden Bedeutung von Wissen bündeln will. Zu diesem Zweck setzt sich Stehr mit vielen älteren und neueren Theorieansätzen der Sozialwissenschaften kritisch auseinander, ohne jedoch ein geschlossenes eigenes Theoriemodell zu präsentieren, auf das er seine These von der Wissensgesellschaft stützen könnte. Stehr gelingt es nicht, "das gegenwärtig noch herrschende theoretische Verständnis von der modernen Gesellschaft" (S. 28) überzeugend zu widerlegen. Den Nachweis, daß eine Reihe von älteren Grundannahmen, wie etwa das Konzept des Nationalstaats, der funktionalen Differenzierung oder der Rationalisierung der modernen sozialen Wirklichkeit (S. 28), heute gänzlich überlebt seien, gelingt Stehr in seinem an vielen Stellen redundanten Buch nicht. Insofern ist ihm nur ausdrücklich zuzustimmen, wenn er konstatiert, daß "es allerdings sehr viel leichter [ist], diesen klasssischen Ideen mit Skepsis zu begegnen [...], als theoretische Alternativen zu diesen Gesellschaftstypologien und ihren Prämissen zu entwickeln." (S. 47). Die neuen sozialwissenschaftlichen Modelle brauchen nach Stehrs Auffassung - und eben das ist fraglich - "weder auf die Fundamente des sozialwissenschaftlichen Diskurses des 19. Jahrhunderts über die vorherrschende Richtung langfristiger gesellschaftlicher Prozesse noch auf die These vom holistischen Charakter einer unabdingbaren systemübergreifenden substantiellen Identität aller Gesellschaftsmitglieder aufzubaün." (S. 47). So sehr Stehr in letzterem Punkte zuzustimmen ist, so sehr gilt es, den erstgenannten im Zeitalter von Internet und neuen sozialen Bewegungen noch überzeugend zu belegen. Vielleicht ist es daher kein Zufall, daß das Buch, dessen Kerngehalt in einem konzise verfassten Essay sicherlich besser zur Geltung gekommen wäre, nicht "Theorie der Wissensgesellschaft" betitelt ist, sondern auf eine spezifische Zerbrechlichkeit in der Moderne verweist, von der auch die Modelle, die eben diese Moderne theoretisch abbilden wollen, keine Ausnahme bilden müssen.

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