H. Duchardt (Hg.): Jahrbuch für Europäische Geschichte

Titel
Jahrbuch für Europäische Geschichte. Band 1


Herausgeber
Duchhardt, Heinz
Erschienen
München 2000: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
238 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Christian Lammers, Institut für Geschichte, Københavns Universitet

Europa ist au der Tagesordnung. Europa ist in diesen Jahren, wo es dabei ist, die Grenzen des "kleinen" Europas aus dem 50er Jahren hinter sich zu lassen und zum ersten Male eine europäische politische Organisation zu bekommen, aktueller und auch konkreter als je zuvor, und das widerspiegelt sich natürlich im Europa-Diskurs, in der Diskussion darüber, was unter "Europa" zu verstehen ist oder verstanden werden sollte. Was allgemein als "Europa" angesprochen wird, hat Konjunktur, ist zugleich "modisch" geworden, wie Heinz Duchhardt, Professor am Institut für Europäische Geschichte in Mainz und Hauptherausgeber dieses neuen Jahrbuchs, in seiner Einführung schreibt. "Modisch" weil man glaubt, mit diesem "Epitheton" den Zeitgeist zu treffen (S. 1). Das gilt nicht allein politisch und journalistisch, sondern auch wissenschaftlich und in der wissenschaftlichen Gesellschaft, wie aus den vielen Forschungsprojekten und Publikationen hervorgeht, die sich "Europa" zum Thema gemacht haben.

Dabei wird zumeist übersehen dass es "Europa" auch vor der Integrationsgeschichte seit Anfang der 50er Jahre gegeben hat, dass "Europa" öfters das Thema von Träumen, Aufrufen, Vorstellungen und Plänen unterschiedlicher Vordenker gewesen ist. "Europa" verstanden als Synonym von staatlicher Vielfalt, von kultureller Pluralität, von Freiheit, war lange ein Schlüsselbegriff (S. 2). Und auch dieses "Vorintegrations"-Europa hat eine Geschichte als "Europa". Das vorliegende neue Jahrbuch für Europäische Geschichte, soll dem Herausgeber zufolge genau hier ansetzen, indem es hinter die eigentliche Integrationsgeschichte d.h. in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und auch vor dem 20. Jahrhundert zurück zu gehen beabsichtigt, um aufzuklären und damit eine wissenschaftliche Lücke allenfalls im deutschen Sprachraum zu schliessen. Diese Intention ist wirklich begrüssenwert und begründet die Herausgabe einer neuen Zeitschrift; über Europa schreiben und informieren entspricht somit nicht nur dem Zeitgeist und seinen "modischen" Tendenzen, sondern zeugt auch von der Wahrnehmung wichtiger und mitunter vergessener intellektueller und politischer Kontinuitäten in bezug auf "Europa" und "Europa"-Vorstellungen. Allein deshalb soll das Jahrbuch, das in der Regie des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz erscheint, sehr begrüsst sein.

Den Geleitworten des Herausgebers Duchhardts zufolge soll das Jahrbuch jedes Jahr von einem Kernthema beherrscht werden. D.h. Aufsätze angeleitet von einem syntheti sierenden Ansatz, der mit Forschungsübersichten und einer Auswahlbibliographie ergänzt werden soll. Im ersten Band hat die Auswahlbibliographie zum Europa-Schriftum 1998/99, thematisch und übersichtlich zusammengestellt von Matthias Schnettger und Martin Vogt, allein einen Umfang von 49 Seiten! Und die beiden Forschungsberichte informieren ausgiebig über 350 Jahre Westfälischer Friede (Johannes Arndt) und die 1848-Revolution als europäisches Ereignis (Dieter Hein).

Das Schwerpunktthema des ersten Bandes bezieht sich auf "Europa - eine Bilanz des 20. Jahrhunderts", und es besteht aus sechs Beiträgen, die auf eine Vorlesungsreihe des Instituts für Europäische Geschichte aus dem Jahr 1998/99 zurückgehen. Sie werden eingeleitet von einem informativen und bilanzierenden Aufsatz von Heinz Duchhardt über "Europa-Diskurs und Europa-Forschung im 20. Jahrhundert". Die meisten von den sechs - mit englischen Resümees versehenen - Vorträgen anerkannter Historiker behandeln an sich spannende und lesenswerte Aspekte der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Sie vermitteln aber keinen Zusammenhang oder Gesamtdeutundes sogenannten "kurzen Jahrhunderts", um mit einer Formulierung von Eric Hobsbawm zu sprechen.

In den einzelnen Beiträgen zum Schwerpunktthema präsentiert Wilfried Loth in seinem Aufsatz über den Prozess der europäischen Integration die (west)europäische Integration als eine Erfolgsgeschichte, deren Schwäche allerdings in Legitimitäts- und Demokratiedefiziten zu suchen sei. Heinz-Gerhard Haupt fragt danach, ob das 20. Jahrhundert vor allem "das Jahrhundert des europäischen Nationalismus" gewesen sei (S. 31) , weil der Nationalismus anscheinend noch stärker als im 19. Jahrhundert die Geschichte Europas prägte. Haupt weist darauf hin, dass das 20. Jahrhundert noch von Nationalisierung und Gründung von Nationalstaaten gekennzeichnet gewesen sei. In einem Vergleich der Weimarer Republik mit anderen europäischen Staaten, untersucht Hans Mommsen die Krise der europäischen parlamentarischen Demokratien in der Zwischenkriegszeit. Hans-Ulrich Thamer präsentiert im europäischen Vergleich das spannende Thema der politischen Rituale der Moderne, die nicht nur für Diktaturen, sondern auch für Demokratien zur politischen Kultur gehören, um Macht zu legitimieren und Konsens hervorzubringen.

Diese Aufsätze sind alle anregende und perspektivreiche Beiträge, die man gerne empfiehlt. Dagegen sind die Beiträge sowohl des niederländischen Historikers Hermann van der Wee über eine Wirtschaftsretrospektive des 20. Jahrhunderts wie der sehr kurze Aufsatz des Schweizer Historikers Curt Gasteyger über die neuen Dimensionen der Sicherheit enttäuschend, weil sie zu allgemein und oberflächlich bleiben und man sich deshalb viel besser anderswo informieren kann.

Damit ist zugleich die Schwäche an diesem ersten Band und seinem Thema angesprochen. Der Band erfüllt nur bedingt seine selbst aufgestellten Ziele. Die unausgesprochene Forderung nach Synthetisierendem wird leider nicht eingelöst, und damit gerät das Jahrbuch eigentlich in Konkurrenz mit anderen Zeitschriften - wie die in Cambridge herausgegebene Contemporary European History (CEH) oder die neue Journal of European Integration History -, ohne dass noch ganz einsichtlich ist, was das Besondere an diesem Jahrbuch sein sollte. Ein Problem ist ferner, dass das neue Jahrbuch nur mit Einschränkungen diese Konkurrenz besteht: der Aufsatz von Wilfried Loth ist sehr aufschlussreich, das gleiche gilt für die Aufsätze von Haupt, Mommsen und Thamer, aber weniger für die Aufsätze von Gasteyger und van der Wee.

Weil die Beiträge zum Schwerpunktthema auf einer Vorlesungsreihe zurückgehen, haben sie in Blick auf "Europa" anscheinend doch einen eher zufälligen Charakter und nicht den Charakter einer übergreifenden Synthese. Sollte das Jahrbuch eine wissenschaftliche Lücke ausfüllen können - und das ist auch aus einer skandinavischen Perspektive bestimmt erstrebenswert - , wäre es meines Erachtens notwendig und wünschenswert dass es sich nicht allein mit verschiedenen Aspekten der Geschichte Europas vor der Integration befassen würde, sondern sich viel mehr mit thematisch straff gehaltenen Themen beschäftigen würde, z.B. wie Europa-Vorstellungen und Europa-Initiativen - und im europäischen Vergleich - erörtert wurden und wie aus einem ideellen und wertemässigen Europa bei aller Vielfalt ein "Europa" geschaffen werden könnte. Ein spannendes und im Vergleich aufschlussreiches Thema wäre auch, weshalb "Europa" sich nicht früher realisieren liess oder Vergleiche der unterschiedlichen Europa-Vorstellungen, gleichgültig, ob sie auch im demokratischen Sinne als progressiv oder regressiv zu sehen sind.

Die Idee eines Jahrbuchs für Europäische Geschichte, dessen Ziel es ist, mehr zu sein als das Jahrbuch einer Institution zur Europäischen Geschichte, und das sich dem Thema "Europa" gegenüber - angesichts der Kontinuitäten in den Europa-Gedanken und -vorschlägen - eher geschichtlich als aktuell verpflichtet fühlt, ist schon einleuchtend und zwingend; und das formulierte Konzept ist für die Erforschung der Geschichte Europas oder genauer "Europas" wichtig. Im ersten Band ist es aber meines Erachtens nur zum Teil realisiert worden.

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