J. Winter (Hg.): America and the Armenian Genocide

Winter, Jay (Hrsg.): America and the Armenian Genocide of 1915. . Cambridge 2004 : Cambridge University Press, ISBN 0-521-82958-5 317 S. $45.00

: The Burning Tigris. The Armenian Genocide. New York 2004 : Harper Collins Publishers, ISBN 0-4340-0816-8 475 p. € 30,48

: The Banality of Denial. Israel and the Armenian Genocide. Piscataway, NJ 2003 : Transaction Publishers, ISBN 0-7658-0191-4 320 S. € 40,95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dominik J. Schaller, Universität Zürich

Mit dem Ende des Kalten Kriegs hat in westlichen Gesellschaften ein Prozess der Selbstreflexion eingesetzt, der sich mit verdrängten oder vergessenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit auseinandersetzt und mögliche Formen von Wiedergutmachung erörtert. Der israelische Historiker Elazar Barkan bezeichnet dieses Phänomen als eine „neue internationale Moral“. Entschädigung sei ein weit verbreiteter politischer Trend, der eine neue moralische Kategorie in der Weltpolitik darstelle.1 In den politischen und wissenschaftlichen Debatten über Schuld und Wiedergutmachung dominiert die Frage, wie die westliche Staatenwelt im 20. Jahrhundert Völkermorde und andere verheerende Formen von Menschenrechtsverletzung wahrgenommen und darauf reagiert hat. Ein Beleg hierfür ist der große Erfolg von Samantha Powers Darstellung „’A Problem from Hell’. America and the Age of Genocide“, die 2003 sogar mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde.2 Insbesondere zur Reaktion der westlichen Staaten auf die nationalsozialistische Judenverfolgung und -vernichtung sowie zum Stellenwert des Holocaust im kollektiven Gedächtnis der Europäer und Nordamerikaner sind in den letzten Jahren zahlreiche Studien publiziert worden.

Das wissenschaftliche Interesse an der Reaktion der westlichen Staatengemeinschaft auf Massenmord und Vertreibung beschränkt sich dabei jedoch nicht auf den Holocaust. Die zeitgenössische Wahrnehmung des an den anatolischen Armeniern verübten Völkermordes von 1915 bis 1917 und der aktuelle erinnerungspolitische Umgang mit diesem Ereignis, das vom türkischen Staat noch immer geleugnet wird, beanspruchen die Aufmerksamkeit von Historikern und einer interessierten Öffentlichkeit zunehmend. An diesen historiografischen Trend hat denn auch der renommierte Weltkriegshistoriker Jay Winter mit der Herausgabe des Sammelbands „America and the Armenian Genocide of 1915“ angeknüpft.3

Der Sammelband vereint Beiträge, die im Jahr 2000 auf einer vom Armenian National Institute organisierten Tagung in Washington D.C. präsentiert worden sind. Inhaltlich gliedert sich der Band in zwei Teile: Die ersten drei Beiträge, die rund ein Drittel des Gesamtumfangs ausmachen, zeigen den historischen Kontext des Völkermordes an den Armeniern auf und verorten ihn in einer Globalgeschichte des Genozids. Den Hauptteil des Bandes bilden indes die neun Aufsätze des zweiten Teils, die ein facettenreiches Bild der Wahrnehmung des jungtürkischen Armeniermordes in den Vereinigten Staaten zeichnen.

In der vorausgehenden Einleitung greift Winter eine Frage auf, die sich wie ein roter Faden durch den gesamten Band zieht: Wie kam es, dass die USA den Mord an den Armeniern geschehen ließen und auf eine militärische Intervention verzichteten? Diese Fragestellung ist zweifelsohne auf die Erfahrungen der 1990er-Jahre zurückzuführen, als sich auf dem Balkan und in Zentralafrika Vertreibung, Massaker sowie Völkermord ereigneten und die internationale Staatengemeinschaft unter Führung der einzig verbliebenen Supermacht erst sehr spät oder wie in Rwanda eben gar nicht ins Geschehen eingriff. Im Falle des Völkermordes an den Armeniern mutet die Frage nach der unterbliebenen Intervention allerdings etwas anachronistisch an. Überschattet wurde die Vertreibung und Ermordung der Armenier durch das Kriegsgeschehen in Europa, dessen Intensität und Brutalität ungekannte Dimensionen angenommen hatten. Anatolien wurde lediglich als peripherer Kriegsschauplatz wahrgenommen. Und zudem waren die Vereinigten Staaten 1915 noch nicht die alleinig dominierende Großmacht, die in entlegenen Weltgegenden Kriege führen konnte. Winter ist dennoch der Meinung, dass die zeitgenössische Debatte in den Vereinigten Staaten über ein Eingreifen zugunsten der armenischen Opfer des jungtürkischen Völkermordes paradigmatisch für das 20. Jahrhundert gewesen sei: „Now nearly a century later, we are not far from their dilemma, which arises time and again whenever the menace of genocide appears.“ (S. 6)

Im Beitrag “Twentieth-Century Genocides” bietet Martin Gilbert einen allgemeinen Überblick zu den zahlreichen Völkermorden des vergangenen Jahrhunderts. Mit seiner additiven und deskriptiven Darstellung trägt Gilbert jedoch nicht zu einer Klärung der Frage bei, weshalb sich im 20. Jahrhundert derart viele Genozide ereignet haben. Gilberts Darstellung basiert auf der fraglichen Annahme, Völkermorde würden sich lediglich in dysfunktionalen Staaten, so genannten „failed states“, ereignen und könnten verhindert werden, wenn sich die westlichen Ideale von Demokratie und freier Marktwirtschaft global durchgesetzt hätten.4

Bezüge zum Holocaust stellt etwa der Beitrag von Winter her: Er zeigt auf, dass das Konzept des totalen Krieges als Analyserahmen für eine vergleichende Perspektive sinnvoll ist, zumal beide Völkermorde ohne Berücksichtigung des dazugehörigen Kriegskontexts nicht adäquat untersucht und verstanden werden können. Die für totale Kriege charakteristische Einbeziehung der Zivilbevölkerung in das Kriegsgeschehen und damit verbundene Gewaltakte gegen Nichtkombattanten hätten zur Radikalisierung der jungtürkischen Kriegsführung beigetragen, die schließlich in einen Völkermord mündete. Winter sieht ferner einen direkten kausalen Zusammenhang vom Völkermord an den Armeniern zum Holocaust: „In effect, without the Great War and its precedents, Auschwitz was unthinkable.“ (S. 40) Darin, dass die jungtürkischen Führer für die von ihnen begangenen Kriegsverbrechen nicht angemessen bestraft worden sind, erkennt Winter ein unheilvolles Signal, das die Nationalsozialisten inspiriert und ermutigt habe. Als Beleg dient Winter der berühmte Ausspruch „Wer spricht denn heute noch von der Vernichtung der Armenier“, mit dem sich Hitler kurz vor dem Angriff auf Polen an seine Offiziere gewandt haben soll. Ob dieses Zitat authentisch ist, gilt allerdings nicht als gesichert. Überdies gibt Winter den Ausspruch nicht korrekt wieder: „Who remembers the Armenian genocide?“ (S. 39) Den Begriff „Genozid“ hat der Völkerrechtler Raphael Lemkin erst 1944 in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht.5

Im zweiten Teil des Sammelbands, welcher der Wahrnehmung des Völkermordes von 1915 bis 1917 in den USA gewidmet ist, befassen sich gleich zwei Artikel mit der Reaktion Woodrow Wilsons auf den Genozid der Jungtürken. John Milton Copper und Lloyd E. Ambrosius konstatieren, dass der Präsident der Vereinigten Staaten gut über die Situation in Anatolien informiert war und großen Anteil am Schicksal der Armenier nahm. Dass die USA 1917 darauf verzichteten, dem Osmanischen Reich den Krieg zu erklären und nach Kriegsende als Mandatsmacht in Anatolien zu wirken, führt Copper vor allem auf den starken Einfluss isolationistischer Politiker zurück. An der Aufrichtigkeit und am guten Willen Wilsons zweifelt Copper nicht: „The fault lay in others, not in Woodrow Wilson.“ (S. 112) Ambrosius hingegen geht mit dem damaligen Präsidenten schärfer ins Gericht und kritisiert dessen mitunter realitätsfremden außenpolitischen Ansatz: „Wilsonianism in theory and in practice were two altogether different things.“ (S. 134) Die USA wären - so Ambrosius - nach Kriegsende gar nicht in der Lage gewesen, im Nahen Osten als Mandatsmacht aufzutreten. In Armenien sieht Ambrosius denn auch den Prüfstein für die idealistische Außenpolitik Wilsons: „Armenia was beyond the control of the United States, revealing the limits of American power and ideology. Wilsonianism had failed.” (S. 144)

Die Zeitungsberichterstattung zum Völkermord von 1915 bis 1917 hat Thomas C. Leonard untersucht. Er hält fest, dass die Vertreibung und Ermordung der Armenier in amerikanischen Medien nicht bloß ein Randthema gewesen sei. Leonard geht deshalb der Frage nach, weshalb sich die amerikanische Öffentlichkeit sehr viel stärker für das Leid der Armenier als beispielsweise für dasjenige der Kongolesen, die furchtbar unter der belgischen Kolonialherrschaft litten, interessierte. Leonard führt dies darauf zurück, dass die Amerikaner die christlichen Armenier als „Kulturvolk“ wahrnahmen und zugleich einen starken emotionalen Bezug zum Siedlungsgebiet der Armenier, den „Bible Lands“ mit dem Berg Ararat, hatten. Leonard schließt daher zynisch: „A people slaughtered elsewhere - the Congo River basin of Africa or the Punjab region of the Indian subcontinent - cannot hope for the same solemn attention as victims on a Western heritage site.” (S. 304)

Insgesamt bietet der von Jay Winter herausgegebene Sammelband einen guten und differenzierten Überblick zur Wahrnehmung des Völkermordes an den Armeniern in den Vereinigten Staaten. Was den umfangreichen ersten Teil des Bandes anbelangt, fällt das Urteil des Rezensenten indessen weniger wohlwollend aus. Insbesondere die einführenden Beiträge entsprechen dem aktuellen Forschungsstand nicht. Der Herausgeber wäre gut beraten gewesen, Beiträge von jüngeren Historikern wie beispielsweise Donald Bloxham oder Hilmar Kaiser in den Band zu integrieren.6

Anmerkungen:
1 Barkan, Elazar, Völker klagen an. Eine neue internationale Moral, Düsseldorf 2002.
2 Power, Samantha, „A Problem from Hell“. America and the Age of Genocide, New York 2002.
3 Zur Wahrnehmung des Völkermordes an den Armeniern in Deutschland siehe: Schaller, Dominik J., Die Rezeption des Völkermordes an den Armeniern in Deutschland, 1915-1945, in: Kieser, Hans-Lukas, Schaller, Dominik J. (Hgg.), Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah, Zürich 2002, S. 517-555; Schaefgen, Annette, Schwieriges Erinnern. Zur Rezeption des Genozids an den Armeniern 1915/16 in der Bundesrepublik Deutschland, Phil. Diss., Technische Universität Berlin 2005; für die Schweiz: Kieser, Hans-Lukas (Hg.), Die armenische Frage und die Schweiz (1896-1923), Zürich 1999; für Israel: Auron, Yair, The Banality of Denial. Israel and the Armenian Genocide, New Brunswick 2003.
4 Vertreter der “Kritischen Genozidforschung” plädieren hingegen dafür, den Analyserahmen auf das „Weltsystem“ auszuweiten. Die globale Durchsetzung des Nationalstaatsprinzips habe zur Schaffung instabiler Staaten in weiten Teilen der so genannten Dritten Welt und somit zu Krieg und Völkermord beigetragen, vgl. Levene, Mark Genocide in the Age of the Nation State, Volume 1: The Meaning of Genocide, London 2005 (im Druck).
5 Vgl. Lemkin, Raphael, Axis Rule in Occupied Europe. Laws of Occupation. Analysis of Government. Proposals for Redress, Washington 1944, S. 91.
6 Bloxham, Donald, The Great Game of Genocide. Imperialism, Nationalism, and the Destruction of the Ottoman Armenians, Oxford 2005; Kaiser, Hilmar, "A Scene from the Inferno". The Armenians of Erzerum and the Genocide, 1915-1916, in: Kieser, Schaller, Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah (wie Anm. 3), S. 129-186.

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