Titel
Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigensinn (DDR 1961-1974)


Autor(en)
Ohse, Marc-Dietrich
Reihe
Forschungen zur DDR-Gesellschaft
Erschienen
Anzahl Seiten
407 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Gajdukowa, Zentrum für Konfliktforschung, Philipps-Universität Marburg

Die Göttinger Dissertation des Theologen und Historikers Marc-Dietrich Ohse widmet sich dem Phänomen Jugend in der DDR, und zwar für den Zeitraum zwischen Mauerbau 1961 und Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker 1971 und den Weltfestspielen 1974. Sein Thema sind Strukturen der ambivalenten Identifikation bei der Altersgruppe, die heute um die fünfzig Jahre alt ist und zweifelsohne die am meisten von der DDR geprägte Generation darstellt.

Wir erhalten Einblick in die Jugendforschung der DDR am Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung, die einerseits ideologisch überfrachtet war und trotzdem brisantes Material produzierte, dass vom MfS halbjährlich angefordert wurde. Anhand von Leserbriefdiskussionen in Jugendzeitschriften und Zeitzeugeninterviews sowie zahlreicher historischer Quellen aus staatlichen und kirchlichen Institutionen werden die wichtigsten historischen Ereignisse der Zeit vorrangig für den Raum Leipzig aufbereitet.

Wir lernen die Jugendkommission des SED-Politbüros von 1958 kennen, und bekommen eine Innensicht des Jugendkommuniques von 1963, an dem innovative Personen wie die Schriftstellerin Brigitte Reimann beteiligt waren und das dem Abbau gesellschaftlicher Spannungen dienen sollte. Da eine direkt identifikationsstiftende Wirkung gehabt haben muß, da es direkt auf die Jugendkultur zielte, die dann in der Jugendklubkultur ihren direkten Ausdruck fand.

Ausführlich werden solche Massenjugendveranstaltungen behandelt wie das Deutschlandtreffen 1964, aus dem der Radiosender DT 64 hervorging (heute Fritz) und die Weltfestspiele von 1973. Ohse erläutert uns die Entstehung der Jugendgesetze von 1964 und 1974 sowie die Bildungs- und Familiengesetzgebung von 1965, in denen festgeschrieben wurde „dass sich die Erziehungsziele von Individuen und Gesellschaften deckten“.(120)

Mit dem 11.Plenum des Zentralkomitees der SED 1965 kam es zu einem kultur- und jugendpolitischem „Kahlschlag“, dessen bedeutendste Kritikerin damals sicherlich die Schriftstellerin Christa Wolf gewesen ist.

Ohse behandelt die DDR-Verfassung von 1968 und das damit verbundene Staatsbürgerschaftsgesetz von 1967, beides zu oft unterschätzte Identifikationspotentiale für die DDR-Bevölkerung einschließlich der DDR-Jugend: Hier wurde die eigenständige deutsche DDR-Nation begründet, und zwar die sozialistische.

Die Bildungsreform von 1965 brachte die institutionalisierte Militarisierung und politische Überformung des Bildungswesens mit sich, die spätestens 1967 auch mit der Hochschulreform verankert wurde. Das Bildungssystem in der DDR führte durch die Engführung auf das Leitbild „sozialistische Persönlichkeit“ faktisch zu Bildungsdefiziten. Jugendliche, denen das bewusst war, versuchten diese Defizite durch Lektüre und Diskussionen im engen Kreis zu kompensieren. Auch das war ein Teil der Jugendkultur in der DDR.

„Wir erzeugen Halbbildung“ (zitiert S.137) – das war auch in der Partei- und Staatsführung bewusst. Die Dominanz von Naturwissenschaften gegenüber humanistischen Unterrichtsinhalten lässt sich auch daraus herleiten, dass die philosophischen Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft quasi als Naturgesetze betrachtet und vermittelt wurden, wodurch sie jedoch undiskutierbar gemacht wurden.

In dieser Logik gab es keinen Platz mehr dafür, eigene Meinungen einzuüben. Die Jugendlichen begriffen schnell, dass sie am besten durch das Bildungssystem kamen, wenn sie die Strategie fuhren: „Keine Meinung haben“. Dem entspricht das Nachbeten vorgefertigter schablonenhafter Meinungen.

Ohse arbeitet detailliert die Rolle von LehrerInnen in der DDR bei der Durchsetzung der Jugendpolitik heraus. Wer „negativ“ auffiel, fiel als erstes den LehrerInnen auf, und diese sorgten dafür, dass Bildungs- und Karrierewege beschnitten wurden. Das war das zentrale Mittel der „Disziplinierung“, das war die alltägliche Form der Diktatur. Sozialistische Persönlichkeiten sollten das Produkt von Schule und Universitäten sein.

Ein weiteres Disziplinierungsorgan war die FDJ. „Nicht zuletzt die Lehrkräfte sorgten mit ihrer Kontrolle dafür, dass an den Schulen der Anteil der FDJ-Mitglieder und der Jugendgeweihten erheblich anstieg.“ 117 Die Mitgliedschaft in der FDJ war für die berufliche Laufbahn fast zwingend. Diese Formalisierung trug jedoch dazu bei, dass die Mitgliedschaft entwertet wurde.

Die Mitgliedschaft in der FDJ bedingte nicht automatisch die Jugendweihe, wurde aber damit verbunden. Ab 1955 wurde mit den Jugendweihen begonnen, „...um den kirchlichen Einfluss auf die Jugend zu verringern und generell die volkskirchlichen Strukturen in Ostdeutschland zu zerstören...“ (46)

Der Schwur auf den Sozialismus wurde verdeckt von Geschenken und der großen Feier, sowie dem Gefühl, jetzt zu den Erwachsenen zu gehören. Spätestens seit der Bildungsreform 1965 „war die Werbung für die Jugendweihe regulär in den Unterricht integriert worden. Damit konnte das weltanschauliche Bekenntnis der Jugendlichen bzw. das ihrer Eltern zum entscheidenden Kriterium für Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten werden.“ (233) Lehrkräfte schreckten nicht davor zurück, christliche SchülerInnen offen zu diskriminieren. (239)

Um Jugendliche für den Aufbau des Sozialismus und damit für das DDR-System zu gewinnen, bot es sich an, „das Rebellionspotenzial Jugendlicher (...) zu nutzen und es politisch zu kanalisieren und zu instrumentalisieren...“(42). Eine besondere Zielgruppe waren dabei jene Jugendlichen, die ihre Eltern als Mitverantwortliche der NS-zeit wahrnahmen und kritisierten.

Demgegenüber hatten aufsässige Jugendliche das zweifelhafte Vergnügen in der Zeit von 1961-1976 in Arbeitslager eingewiesen zu werden. Auch das „Bewähren in der Produktion“ war eine gängige Disziplinierungsmethode, v.a. bei Akademikern.
Ohse geht ausführlich auf Protestaktionen von Jugendlichen ein: Breit behandelt werden die Proteste um die Sprengung der spätgotischen Leipziger Universitäts-Kirche St. Pauli 1968 sowie Proteste, die im Zusammenhang mit dem Prager Frühling 1968 standen. Er geht auch auf die Protestaktionen 1965 in Leipzig ein, die die sich gegen die Verbote von Beat-Bands richteten.

Der Kampf um die Jugend war einer der am härtesten geführten Kämpfe in der DDR: SED, FDJ, MfS standen gegen die Kirchen, die nicht selten da einprangen, wo der Staat versagte.

Mit ihren „ Gottesdiensten einmal anders“ öffneten sich die Kirchen ab 1963 bewusst für Jugendliche. Blues- und Popmessen stellten für viele Musiker die einzige Auftrittmöglichkeit dar, vor ihrem Publikum aufzutreten.

Die Ende der sechziger Jahre entstandene Offene Arbeit ist am ehesten mit westlicher Sozialpädagogik vergleichbar. Sie unterlief damit die staatliche „Jugendfürsorge“, indem sie Jugendlichen, die am Rande der Gesellschaft standen, ideologiefreie Unterstützung anbot. Kirchliche Jugendarbeit war „in erster Linie als politischer Freiraum“ interessant. (226)

Der Kirche gelang es, dass 1963 der waffenlose Ersatzdienst bei der NVA eingeführt wurde („Bausoldaten“). Totalverweigerung war in der DDR zu keiner Zeit möglich.
„Grundsätzlich rangen Staat und Kirchen in all diesen Auseinandersetzungen darum, sich den Einfluss auf die nachwachsende Generation zu sichern.“ 223

Ohse beschreibt, wie die Arbeit der auch in der DDR existenten Aktion Sühnezeichen in den sechziger und siebziger Jahre massiv behindert wurde: „Die Arbeit ohne die antifaschistische Geschichtsdoktrin war ein Politikum. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zwang zur Diskussion der Gegenwart.“ (252)

Der Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker brachte das Konzept repressiver Toleranz: „Fortan sollten den Jugendlichen – streng kontrollierte – Freiräume eingeräumt werden.“ (304). Damit verbunden war auch eine stärkere Bedienung der Konsuminteressen von Jugendlichen. Die Musik- und Kunstszene konnte sich ein Stück weit öffnen. In diesem Klima erschien so ein Buch wie „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf wurde breit rezipiert. Der neue kulturpolitische Kurs „...erlaubte fortan die – begrenzte – Integration alternativer Kulturvorstellungen in das künstlerische Dogma der SED und dadurch in gewissem Maße deren Neutralisation.“ (320)

RESÜMEE

Bei diesem Buch handelt es sich um eine gründliche Recherche und Quellenaufbereitung. Die Äußerungen der von ihm ausgewählten Zeitzeugen illustrieren das Archivmaterial. Ohse gibt jedoch keinen Hinweis auf die Kriterien der Auswahl seiner InterviewpartnerInnen. Es ist also zu vermuten, dass die Zeitzeugen danach ausgesucht wurden, wieweit sie in seine These der „widerwilligen Loyalität“ der DDR-Jugend passen. Aufgrund dessen (und der von Ohse automatisch vorausgesetzten Nonkonformität von Jugend an sich) finden sich keine Interviews mit Systemangepassten sowie auch keine Interviews mit Personen, die am System zerbrochen sind.

Seine Konzentration auf die Fragestellung, inwiefern sich eine „68er“ Generation in der DDR verorten lässt, verstellt die differenzierte Perspektive auf spezifische generationelle Identitäten in der DDR. Bei offenen Fragen verweist er immer wieder auf „entwicklungspsychologische Faktoren “ (z.B. S. 135), wobei an keiner Stelle klar wird, was er damit eigentlich verbindet.

Sein Forschungsergebnis „widerwillige Loyalität“ spiegelt also nur einen Teil der Befindlichkeiten der DDR-Jugend dar. Da die widerwillige Loyalität aber in erster Linie auch von den Funktionären der DDR wahrgenommen wurde, und seine Studie vorrangig institutionell gegliedert ist, handelt es sich bei seinem Buch nicht um eine Studie zur Jugend in der DDR, sondern speziell zur Jugendpolitik der DDR, zu deren Rahmenbedingungen, die freilich nicht ohne die Akteure und die Zielgruppen dargestellt werden können. „Widerwillige Loyalität“ ist eine Tendenz, kann jedoch nicht als Aussage für die gesamte damalige Jugend gelten.

Nicht nachvollziehbar bleibt in Ohses Studie, wie er zu der Einschätzung kommt, dass existente Neonazi-Strukturen in der DDR nicht politisch motiviert gewesen wären. Diese Aussage trifft er allein anhand von Vermutungen, sie ist empirisch in keiner Weise abgesichert.

Zum Weiterlesen empfehlen sich die zwei Studien von Thomas Kochan und Dorothee Wierling : Wierling hat eine überzeugende Generationsgeschichte vorgelegt, während Kochan einen Einblick in eine der wichtigsten Jugendkulturen der DDR liefert.

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