Titel
The Nazi War on Cancer.


Autor(en)
Proctor, Robert N.
Erschienen
Princeton, NJ 1999: Princeton University Press
Anzahl Seiten
380 S.
Preis
$ 49.50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Westermann, Institut für Wissenschafts- und Technikforschung, Universität Bielefeld

Der US-amerikanische Historiker Robert Proctor hat eine Monographie vorgelegt, die die Geschichte der deutschen Krebsforschung und -bekämpfung in der ersten Hälfte des 20. Jh. zum ersten Mal systematisch und unter Einarbeitung des vielfältigen unveröffentlichten und gedruckten Quellenmaterials erfasst.

Mit 'The Nazi war on Cancer' führt Proctor zentrale Themen seiner bisherigen Arbeiten zusammen. Die neue Veröffentlichung siedelt sich an der Schnittstelle von Racial Hygiene: 'Medicine under the Nazis' (1988) und 'Cancer Wars: How Politics Shapes What We Know and Don't Know about Cancer' (1995) an. Mit der Darstellung der NS-Krebspolitik und -forschung soll nicht nur eine besonders forschungsintensive Phase der deutschen Krebsgeschichte rekonstruiert werden (S.5, S.12). Proctor stellt den Bezug zur amerikanischen Krebspolitik der 1950er bis 1990er Jahre her, indem er immer wieder - wenn auch jeweils nur kurz - die Forschungsdiskussionen, die gesundheitspolitischen Strategien und ihre öffentliche Rezeption in NS-Deutschland und den Nachkriegs-USA vergleicht (vgl. S.113, S.173, S.198, S. 269, S.272).

Proctor's Untersuchungsgegenstand ist in zweifacher Hinsicht gut gewählt. Innerhalb der biomedizinischen NS-Wissenschaften scheint die Krebsforschung im Unterschied etwa zur Rassenhygiene weniger ideologisch und moralisch aufgeladen. Sie ist mit Proctor eher "prosaic" als "monstruous" (S.248) und bietet sich so besonders zur differenzierten Analyse von Normalisierungseffekten an, wie sie die Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaften und NS-Kultur auszeichneten.

Zudem nutzt Proctor die im "Prolog" konstatierte und in den Kapiteln eins bis drei nachgezeichnete Schwerpunktverschiebung innerhalb der Krebsforschung von der eher akademisch orientierten Laborforschung der Kaiserzeit und der Weimarer Republik zum Ausbau der Präventionsforschung und -politik ab 1933 geschickt aus: "I have chosen cancer as an organizing theme, because cancer gives us a window onto broader aspects of culture" (S.8). Das Erkenntnisinteresse - die Rekonstruktion der politischen und wissenschaftlichen NS-Krebsprävention - ist eng mit dem methodischen Zugriff - Wissenschaftsgeschichte als Kulturgeschichte - verbunden. Tatsächlich rückt mit den Präventions- und Implementierungskampagnen der öffentlichen Gesundheitspflege in den Kapiteln vier, fünf und sechs die NS-Alltagskultur in das Blickfeld. Proctor gewährleistet die Einbettung seines Untersuchungsgegenstands in die NS-Kultur: Er kann deutlich machen, wie sich NS-Alltagspraktiken über die Krebspräventionspolitik verwissenschaftlichten. Außerdem wird der Analyse argumentativer (etwa S.26, S.45ff, S.259) und institutioneller Ressourcen (z.B. Zeitschriftenwesen, Betriebsarztsystem) besondere Aufmerksamkeit gewidmet.

Kapitel eins ("Hueper's Secret")und zwei ("The Gleichschaltung of German Cancer Research") zeichnen die Verschiebungen und Brüche in der Krebsforschungslandschaft nach 1933 nach: Es rückten die Fachrichtungen Epidemiologie und öffentliche Gesundheitspflege (S.36) ins Zentrum des wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Engagements. Präventionsforschung, der Ausbau von Früherkennungsmethoden, sowie Auflärungskampagnen und massenhafte Vorsorgeuntersuchungen (S.27) bildeten fortan die Arbeitsschwerpunkte. Der Präventionsgedanke war in seinen verschiedenen thematischen Ausprägungen (rassenhygienisch-genetische Kontrolle, statistische Beschreibung von Städten und ihren Bewohnern, mit der Unfall- und Berufskrankheitenversicherung einhergehende Maßnahmen wie Unfallverhütungsvorschriften) ein diskursives Element, mit dessen Hilfe Kontinuitäten hergestellt werden konnten (S.22). Argumentationsmuster und Praktiken, die sich in der deutschen Wissenschaftskultur der Kaiserzeit und Weimarer Republik herausgebildet hatten, wurden über den Begriff der Prävention zu spezifischen NS-Problemlösungsstrategien zusammengefügt. Dabei war mit der Präventionsidee die Nähe zu zivilisationskritischen Argumenten genauso gegeben wie die Anschlußfähigkeit an das NS-Konzept der "Volksgemeinschaft" (S.25).

Kapitel zwei behandelt die Gleichschaltung der Krebsforschungslandschaft: Vertreibung der jüdischen Naturwissenschaftler (S.36), Schaffung des zentralen Reichsausschusses und der Krebsregister (S.40). Die homogenisierende Effekte der "rhetoric of cancer research" werden untersucht und ergänzen die Analyse des Präventionskonzepts (S.45). Zwar wurden die krebsstatistischen Arbeiten intensiviert. Keineswegs jedoch ging damit eine neue Einigkeit in der Interpretation des Datenmaterials einher (S.51). Vielmehr lassen sich Repräsentationskämpfe zwischen alternativer und orthodoxer Medizin an diesen Kontroversen ablesen. Die präventionsorientierten Mediziner um Erwin Liek, Mitherausgeber der seit 1928 erscheinenden homöopathisch orientierten Zeitschrift 'Hippokrates', interpretierten das statistische Material, fanden insgesamt steigende Krebsraten und sahen deshalb ihre Definition von Krebs als Zivilisationskrankheit bestätigt.

Orthodoxe Mediziner hatten dagegen gute Gründe, diese Interpretation anzuzweifeln und verwiesen stattdessen darauf, daß sich allein die Qualität der Beschreibung verbessert habe. Neue Instrumente, zunehmende Hospitalisierung und verfeinerte Statistiktechniken hätten es seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. erlaubt, mehr Krebse zu diagnostizieren.

Im dritten Kapitel "Genetic and Racial Theories" bietet Proctor eine kritische und zugleich vorsichtige Lesart der genetischen und rassentheoretischen Krebstheorien an. Absurditäten des biologischen Determinismus werden vorab angedeutet: "Fritz Lenz of Munich went so far as to argue that the tendency to believe in Lamarckism - the doctrine of the inheritance of acquired characteristics - was inborn" (S.58). Anhand der genetischen Krebsforschung illustriert Proctor Sander Gilmans These von der Pathologisierung des jüdischen Körpers (S.59-68).

Unterschiedlich nuancierte, zum Teil widersprüchliche Theorien waren aber, so läßt sich das Kapitel zusammenfassen, vor allem der Hintergrund, vor dem erörtert wurde, inwieweit Umweltfaktoren die Krebsbildung beeinflußten. Dies hatte den Effekt eines weithin sachlichen Diskussionsklimas innerhalb der deutschen Krebsforscher-Community.

Die Kapitel vier, fünf und sechs sind Fallstudien zu den einzelnen zeitgenössisch wie aktuell als Karzinogene verdächtigten Umweltfaktoren: gesundheitsschädigende Einflüsse am Arbeitsplatz, Ernährung und Rauchen.

Das sechste Kapitel "The Campaign against Tobacco" ist die ausführliche Version einiger bereits veröffentlichter Aufsätze Proctors (1996, 1997). An der Anti-Rauchkampagne ist nach Proctor besonders hervorzuheben, daß sie von der historischen (angelsächsischen) Public-Health-Forschung bislang übersehen wurde. Die 1950er Jahre sind zwar Schlüsseljahre für die US-amerikanische und britische Epidemiologie, und ihre Ausbildung ist eng mit der Tabak-Krebsforschung verbunden (Sellers 1997). Abhängigkeit und Lungenkrebsgefahr fanden jedoch bereits im Deutschland der 1930er Jahre eine breite medizinische Anerkennung.

Facettenreich werden in Kapitel fünf "The Nazi Diet" die Konnotationen von Ernährung in der NS-Kultur aufgeschlüsselt und an ältere lebensreformerische Projekte rückgebunden. Der spezifische NS-Zuschnitt erfolgte, so Proctor, zu nicht geringen Teilen über die politisch-symbolische Bedeutung von "Hitlers Körper" (S.9, S.140). Verweise auf Kriegsökonomie und Wehrtüchtigkeit sowie sozial- und rassenhygienische Argumente ergänzten die NS-Rede von der Ernährung.

Der weithin betriebenen NS-Politik der Naturnähe stellt Proctor die Forschungen zu Lebensmittelzusätzen gegenüber, die gesundheitsfördernd und/oder leistungssteigernd wirken sollten: Proctor erwähnt vor allem die deutsche Rezeption und den Ausbau der Vitaminforschung, die in die 1930er Jahre fielen. Präventive und therapeutische Diäten gegen alle denkbaren Krankheiten waren zahlreich (S.161) und Krebs war ein bevorzugter Kandidat der Vitaminforscher. Die Ergebnisse blieben uneindeutig. Vitamine konnten weder als Karzinogene noch als Anti-Karzinogene identifiziert werden (S.162-164).

Die Diskussion um Lebensmittelfaben war ähnlich intensiv, verlief jedoch weit weniger kontrovers: Die karzinogene Wirkung von Teerfarben wie "Buttergelb" wurde von der Öffentlichkeit vermutet, von Krebsforschern nachgewiesen (S.167), und auch innerhalb der farbchemischen Industrie anerkannt.

Während das dritte Kapitel die Krebsdiskussion beinahe ausschließlich als Forschungsproblem einer Wissenschaftler-Community behandelte, und die Kapitel fünf und sechs Gewicht und Ort der Krebsdiskussionen innerhalb der öffentlichen Gesundheitspflege bestimmten, geht es in Kapitel vier "Occupational Carcinogenesis" darum, das Verhältnis zwischen öffentlicher Gesundheitspflege (der 'Stadthygiene' des 19. Jh.) und der Gewerbehygiene auszuloten. Die Gewerbehygiene ist der älteste Krebsforschungskontext. Zur Rekonstruktion der frühen Fachdiskussionen und Konflikte um Berufskrebse kann sich Proctor weitgehend auf vorhandende Forschungsliteratur stützen, die meist um einzelne kanzerogene Stoffe (Radium, Arsen, Quarz, Asbest, Anilinfarben) entstanden ist. Proctor gibt einen konzisen Überblick über einen wichtigen Teil der Anfang des 20. Jh. in Deutschland noch jungen Disziplin Arbeitsmedizin.

Die Anbindung der Gewerbehygiene an Fragen der öffentlichen Gesundheit oder der "Volksgesundheit" erfolgt zum einen über die Versicherungs- und Leistungsmedizin (S.71, S.76) und das Konzept der Konstitution (S.117, vgl. auch S.69/70).

Zum anderen gibt Proctor die Diskussionen um Röntgenstrahlen und radioaktive Strahlen wieder, die parallel in der öffentlichen Gesundheitspflege und in der Gewerbehygiene geführt wurden. Während in der Kur- und Bädermedizin bis in die 1930er Jahre hinein die Vorteile und Heilungsmöglichkeiten im Mittelpunkt standen und Röntgen- wie Radiumstrahlen für die verschiedensten Leiden und Krankheiten therapeutisch eingesetzt wurden (S.95), fanden die von Röntgen- und Radiumstrahlen verursachten Lungenkrebse (letztere als Schneeberger Lungenkrankheit) bereits Eingang in die Erste Berufskrankheiten-Verordnung von 1925.

Zu Recht finden in diesem Kapitel die stark beworbenen und beinahe euphorisch durchgesetzten Reihenuntersuchungen zur Krebsvorsorge per (mobilem) Röntgenapparat Aufmerksamkeit. Der performative Charakter dieser Massenuntersuchungen kam den didaktischen wie ideologischen Absichten der Präventionskampagnen entgegen. Die Sensibilisierung großer Bevölkerungsgruppen wurde erleichtert und der aktivistische Anstrich der Reihen-Röntgenuntersuchungen fügte sich in die NS-Mobilisierungspraktiken ein. Das Phänomen ist aber auch ein Paradebeispiel für Stabilisierungseffekte zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Mithilfe der mobilen Röntgenapparate wurden an alltäglichen Orten laborähnliche Situationen geschaffen, die zwischen beiden Sphären vermittelten, ja es kam zu einem regelrechten 'Handel': Für die Öffentlichkeit erhärteten faszinierende Röntgenbilder die medizinischen Fakten der Krebsforschung. Die Wissenschaft wiederum sammelte in der Öffentlichkeit neue epidemiologische und klinische Evidenz: Auf Parteitagen, bei regionalen Aktionen und in Fabriken wurde massenhaft geröntgt. Ergebnisse der Strahlenforschung, die anzeigten, daß häufige Röntgenbestrahlung ihrerseits Röntgenkarzinome verursachen könnten, regulierten schließlich den Präventionsoptimismus (S.27): Im Februar 1941 wurde die Röntgenverordnung erlassen (S.91).

Der Reiz von Proctors Arbeit liegt nicht zuletzt in dem unternommenen asymmetrischen Vergleich der NS-Krebsforschung und -prävention mit den zunehmend für die Umweltdiskussion sensibilisierten 1960er und 70er Jahren in den USA. Zum einen erhellen sich in der vergleichenden Perspektive die spezifischen nationalen Bedingungen, unter denen Krebsforscher erfolgreich hohe Budgets durchsetzen können, gegenseitig. Zum anderen wurde mit diesem Buch der in den USA gängige onkologische Blick auf die Umweltgeschichte auch für deutsche Quellen eröffnet.

Literaturhinweise.
Proctor, Robert (1996): The Anti-Tobacco Campaign of the Nazis: A Little Known Aspect of Public Health in Germany, 1933-45, in: British Medical Journal 313, S.1450ff.
Proctor, Robert (1997): The Nazi War on Tobacco: Ideology, Evidence, and Possible Cancer Consequences, in: Bulletin of the History of Medicine 71, S.435ff.
Sellers, Christopher (1997): Discovering Environmental Cancer: Wilhelm Hueper, Post-World War II Epidemiology, and the Vanishing Clinician's Eye, in: American Journal of Public Health 87, N. 11, S.1824ff.

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