S. Jersch-Wenzel: Quellen zur Geschichte der Juden

Titel
Quellen zur Geschichte der Juden in den Archiven der neuen Bundeslaender. Geheimes Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz, Teil II, Bd. 5


Herausgeber
Jersch-Wenzel, Stefi; Reinhard Ruerup
Erschienen
München 2000: K.G. Saur
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 120,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Wyrwa, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

Der 1947 aufgeloeste Staat Preussen, ein Konglomerat verschiedener Provinzen, einverleibter Laendereien und eroberter Staedte, hatte eine im Kalten Krieg zwischen Ost und West zerrissenen archivalische Hinterlassenschaft, die seit 1990 schrittweise wieder zusammengefuehrt wurde. Die Anfaenge seiner schriftlich dokumentierten Ueberlieferung gehen auf das 13. Jahrhundert zurueck. Am Ende des 16. Jahrhunderts wurden die Urkunden und Akten des brandenburgischen Kurfuerstentums erstmals in einem Archiv zusammengefuehrt. 1803 schliesslich erhielt es den Titel "Geheimes Staatsarchiv". Die darin verwahrten fruehesten Quellen zur preussischen Geschichte stammen ebenso wie auch die Belege ueber die ersten Juden, die sich in der Mark Brandenburg, Vorlaeufer des preussischen Staates, niedergelassen hatten, aus dem 13. Jahrhundert. In der zweiten Haelfte des 16. Jahrhunderts aber wurden die Juden, wie es hiess, "auf ewige Zeiten" des Landes verwiesen. Durch den Gewinn neuer Territorien im 17. Jahrhundert kamen Gebiete mit juedischer Bevoelkerung hinzu, und die Verwuestungen nach dem 30jaehrigen Krieg veranlassten den Kurfuersten erneut juedische Familien auch in der Hauptstadt aufzunehmen. Sie behielten aber einen minderen Rechtsstatus, nur einer kleinen Schicht von Hoffaktoren wurden einige Privilegien zuerkannt. Der militaerische Zusammenbruch Preussens ermoeglichte dann zwar eine Reformpolitik, die auch die Juden zu Staatsbuergern erklaerte. Dennoch wurde fuer die juedische Bevoelkerung in den verschiedenen Provinzen des preussischen Staat keine einheitliche Rechtsgrundlage geschaffen. Erst die Verfassung, die sich Preussen im Bund mit anderen norddeutschen Staaten 1869 gab, hat die rechtliche Gleichstellung der Juden proklamiert. Einschraenkende Verordnungen blieben in Preussen gleichwohl in Kraft. Die juedische Bevoelkerung erlebte im 19. Jahrhundert dabei einen ueberwaeltigenden sozialen Aufstieg, die antijuedische Gesellschaftsstimmung der christlichen Mehrheit konnte trotzdem nicht ueberwunden werden, so dass sich am Ende des 19. Jahrhunderts, ausgehend von der preussischen Hauptstadt Berlin, der Antisemitismus als eine neue Form von Judenfeindschaft verbreitete. Die Verfassung der Weimarer Republik hob zwar alle Kautelen und rechtlichen Benachteiligungen fuer die Juden auf, schon 1933 aber begann die Ruecknahme der Emanzipation, die zur Vertreibung und Ermordung auch der preussischen Juden fuehrte.

Wer diesen dramatischen und gebrochenen, voruebergehend auch hoffnungsvollen und dennoch so elend gescheiterten Weg der juedischen Geschichte in Preussen studieren moechte, dem steht nun mit den beiden Bestandsverzeichnissen ueber die Quellen zur Geschichte der Juden im Geheimen Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz eine Hilfe von unschaetzbarem Wert zu Verfuegung. Nachdem 1999 der erste Teil vorgelegt wurde, in dem die Quellen fuer die Zeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts erschlossen sind, erschien im folgenden Jahr der zweite und abschliessende Teil, in dem nun auch die Archivalien des 19. und 20. Jahrhunderts erfasst sind. Entsprechend dem Ordnungsprinzip des Archivs sind in detaillierter und pedantischer Kleinarbeit in diesem Band ueber 6000 Aktentitel erfasst, die sich auf die juedische Geschichte beziehen. Den weitaus groessten Teil nimmt mit ueber 3800 Titeln die erste Hauptabteilung mit den Unterlagen aus den preussischen Ministerien ein, wobei die einzelnen Bestaende zumeist praezise beschrieben und in ihrer Entstehung und Entwicklung vorgestellt werden. Im Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten etwa sind zahlreiche Akten ueber 'Judensachen' aus den diversen Staedten des preussischen Stadtes reponiert, also nicht nur Berlin, Potsdam, Koenigsberg und Breslau, sondern auch Hannover, Wiesbaden, Kassel und Koblenz zum Beispiel. Im Ministerium des Inneren sind die Antraege auf Namensaenderungen enthalten, und die Polizeibehoerde ueberlieferte die Unterlagen ueber ihre Zensurmassnahmen, von der in den 1830er und 1840er Jahren vielfach auch juedische Autoren betroffen waren; ein paar willkuerlich herausgegriffenen Aktentitel, die die Vielfalt und Breite des Quellenmaterials andeuten. Im Bestand des Justizministerium liegen zum Beispiel Unterlagen ueber die Strafverfolgung russisch-juedischer Anarchisten aus den 1870er Jahren, sowie Ermittlungsakten ueber die Schaendung juedischer Friedhoefe und Synagogen aus den Jahren der Weimarer Republik. Auch finden sich in diesem Bestand Akten ueber den Widerstand von Juden in den ersten Jahren des nationalsozialistischen Regimes, wobei sich in einigen Aktentiteln die Terminologie der DDR-Historiographie erhalten hat, etwa in den Akten ueber "Kaempfe gegen faschistische Organisationen". Weiter enthaellt dieser Bestand amtliche Unterlagen ueber die Durchfuehrung das Gesetzes zur "Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" aus diversen preussischen Bezirken. Gleichfalls in der ersten Hauptabteilung abgelegt sind diverse Nachlaesse, von Werner Sombart oder Friedrich Meinecke etwa. Aufschlussreich fuer die Geschichte des Antisemitismus ist hier vor allem die umfangreiche Hinterlassenschaft des Hofpredigers Adolf Stoecker, die allein 322 Aktentitel umfasst und in der neben den Schriften von Stoecker selbst zahlreiche Zeitschriften und Flugblaetter gesammelt sind. In dem 150 Akteneinheiten umfassenden Bestand 'Geheime Staatspolizei' finden sich unter anderem Lageberichte der Gestapo, Akten ueber Emigranten und die Aberkennung der Staatsangehoerigkeit etwa von Arnold Zweig und Anna Seghers. Aber auch in anderen Abteilungen finden sich Quellen ueber den Antisemitismus, so z. B. unter den Akten des Ministeriums fuer Handel und Gewerbe, das einen Titel mit geheimen Mitteilungen der Gestapo ueber den Boykott juedischer Geschaefte vom Anfang des Jahres 1934 enthaelt.

Neben den Akten der ersten Hauptabteilung bieten auch die kleineren Bestaende, etwa zum 'Koenigreich Westphalen', jenes 1807 von Napoleon geschaffenen Koenigreich, das nach dem Wiener Kongress in Teilen zu Preussen geschlagen wurde, mit seinen 26 Akten ueber die religioesen Fragen der Juden und seinen 24 Akten ueber das 'Konsistorium der Israeliten' aufschlussreiche Quellen zur Geschichte der Juden. Der Bestand 'Urkunden' wiederum enthaelt Quellen, die auf die aeltere Geschichte zurueckgehen, Belege ueber die Verbrennung von 39 Juden wegen angeblichen Hostienfrevels aus dem Jahre 1510, die Ernennungsurkunde des Juden Lippolt zum Muenzaufseher in Brandenburg aus dem Jahre 1556, sowie die Dokumente ueber dessen Hinrichtung im Jahre 1573. Die Hauptabteilung 'Siegel, Wappen, Genealogie' bietet praezise Daten ueber Geburten und Heiraten von Juden aus den Jahren 1812 bis 1874, Unterlagen, deren sich vor allem das Reichssippenamt in der Zeit des Nationalsozialismus bediente. In der Hauptabteilung 'Bilder' sind zahlreiche Portraets von preussischen Juden sowie Bauplaene und Zeichnungen von Synagogen oder juedischen Krankenhaeusern gesammelt. Auch dieser Bestand geht mit seinen ikonographischen Quellen bis auf das Ende des 16. Jahrhunderts zurueck. Die Abteilung 'Drucksachen' bietet u. a. Materialien, die der unmittelbaren Zeitgeschichte angehoeren: eine Schrift ueber "die verbrecherische Vergangenheit des Staatssekretaers" Heinrich Globke aus den 1960er Jahren und eine Dokumentation der Ausstellung "Verfolgung und Widerstand 1933-1945" in der alten Synagoge in Essen aus dem Jahre 1981. Neben den Akten der ersten Hauptabteilung nimmt schliesslich mit nahezu 1000 Titeln der Bestand des historischen Staatsarchivs Koenigsberg den zweitgroessten Raum ein, zu dem zusaetzlich allen 87 Findbuecher nebst einem 13 baendigen Index zur Verfuegung stehen.

Den Abschluss des Bandes bildet ein sorgfaeltig erstelltes Namens- und Ortsregister sowie ein Verzeichnis aller in den Aktentiteln auftauchenden Institutionen, Organisationen und Unternehmen, er bietet damit ein unerlaessliches Hilfsmittel fuer jeden, der sich mit der Geschichte der Juden in Preussen beschaeftigen moechte, und wer auf der Suche nach einem lohnenden Aufsatzthema ist, findet hier eine Fuelle von Anregungen. Zu hoffen bleibt nur, dass dieses Bestandsverzeichnis, das bisher lediglich in Form eines Buches publiziert wurde, moeglichst bald auch in einer benutzerfreundlichen CD-Rom vorgelegt und ins Internet gestellt wird.

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