Titel
The Degaev Affair. Terror and Treason in Tsarist Russia


Autor(en)
Pipes, Richard
Erschienen
Anzahl Seiten
153 S.
Preis
$22.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felicitas Schwäbe, Berlin

Spätestens seit den 1970er-Jahren ist der russische revolutionäre Terrorismus Thema sowohl der politik- als auch der geschichtswissenschaftlichen Forschung. Viele AutorInnen verstehen dabei die erste Phase des russischen revolutionären Terrorismus als Beginn des modernen Terrorismus. Als „erste Phase“ wird gemeinhin jene Zeit bezeichnet, in der die Gruppe Narodnaja Wolja bzw. ihr Exekutivkomitee einen individuellen Terrorismus propagierte und praktizierte, der mit der Ermordung Zar Alexander II. am 1. März 1881 zugleich seinen Höhepunkt und sein Ende fand. Demgegenüber lässt sich als „zweite Phase“ das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bezeichnen: Neben der Partei der Sozialrevolutionäre (PSR), die den individuellen Terror als Strategie im Kampf gegen die Autokratie ins Parteiprogramm geschrieben hatte, praktizierten hier alle oppositionellen Gruppen verschiedene Formen von terroristischen Akten oder unterstützten sie zumindest. Zu beiden Phasen des russischen revolutionären Terrorismus sind Einzelstudien erschienen1, wobei die in den 1990er-Jahren veröffentlichten Arbeiten von Anna Geifman die ersten und zunächst einzigen waren, die sich um eine Perspektive jenseits von Parteiprogrammen bemühten.2 In ihrer jüngsten Monografie plädiert Geifman für einen interdisziplinären Ansatz bei der Untersuchung des russischen Terrorismus.3 Sie selbst stützt sich auf psychologische Angsttheorien, um das „psychological riddle“4 der Persönlichkeit Jewno Asefs zu lösen, jenes berühmten Polizeiagenten in den Reihen der russischen TerroristInnen, der während der zweiten Phase an der Spitze der PSR stand.

In seiner jüngsten Monografie „The Degaev Affair. Terror and Treason in Tsarist Russia“ hat sich Richard Pipes einen weniger bekannten Verräter oder Polizeiagenten aus der ersten Phase des russischen Terrorismus vorgenommen. Der 1858 geborene Sergei Degajew wurde nach ersten Kontakten zur revolutionären Bewegung und dem bald folgenden Ausschluss aus der St. Petersburger Militärakademie 1880 Mitglied der Narodnaja Wolja und war dort vor allem zuständig für die Rekrutierung neuer Mitglieder. Nach seiner Verhaftung im Dezember 1882 trug er entscheidend zur Ergreifung einer Reihe von Mitgliedern seiner Organisation bei, unter ihnen Vera Figner, zu diesem Zeitpunkt letztes auf freiem Fuß befindliches Führungsmitglied des Exekutivkomitees. Die im Januar 1883 von der Geheimpolizei arrangierte Flucht nutzte Degajew jedoch nicht dazu, die übrigen, in Westeuropa weilenden Führungsmitglieder der Narodnaja Wolja nach Russland zu locken und sie dort seinen Fluchthelfern auszuliefern. Nach St. Petersburg zurückgekehrt, beging er im Gegenteil im Dezember 1883 „Doppelverrat“, indem er Georgi Sudeikin, den Chef der St. Petersburger Geheimpolizei und potentesten Gegenspieler der revolutionären Bewegung ermordete. Nachdem ein in Paris gehaltenes „revolutionäres Tribunal“ Sergei Degajew eine Rückkehr nach Russland sowie jede weitere Tätigkeit in der revolutionären Bewegung unter Androhung der Todesstrafe untersagt hatte, emigrierte Degajew in die USA, wo er unter dem Namen Alexander Pell eine „conventional academic career“ (S. IX) als Mathematiker machte.

„The question that lies at the heart of this book asks which was the true Degaev-Pell: the kindly professor who in America would have been perfectly happy ‚in a social environment where research was the dominating interest,’5 or the revolutionary turncoat whose betrayals had sent scores of his comrades to prison in his native country and who had killed a man whose confidence he had gained?“ (S. 7) Unbeirrt von allen, insbesondere auch in der Forschung zur russischen und sowjetischen Geschichte angewandten neueren Ansätzen und Fragestellungen, legt Richard Pipes eine Studie vor, die nichts weiter anstrebt als „tracking my protagonist’s actions“ (S. IX). Dazu trägt er das nur spärlich vorhandene Material zu den Lebenswegen Degajews/Pells und Sudeikins zusammen, rekonstruiert mit viel Spekulation Begegnung, Annäherung und Zusammenarbeit der beiden Männer, um dann in einer Art Showdown die verschiedenen nicht ausgeführten Mordpläne Degajews und seiner Komplizen und schließlich den tatsächlichen Mord an Sudeikin minutiös nachzuerzählen. Hinzu kommen hier und da eingestreute Thesen, die weder in der Fragestellung angelegt sind noch durch das präsentierte Material getragen werden. Besonders gewagt ist etwa die direkte Linie, die Pipes von der Narodnaja Wolja zu Gulag und Konzentrationslager zieht (S. 15).

Ganz abgesehen davon, dass Pipes die Forschungsliteratur fast vollständig ignoriert, das Buch kein Literaturverzeichnis enthält und die inkonsequente Belegroutine wenig überzeugt; wird Pipes nicht einmal den bescheidenen Ansprüchen an eine reine Ereignisgeschichte gerecht. Verwirrende Detailhäufungen (S. 53-68; 94-107) und einige grobe redaktionelle Fehler 6 erschweren die Lesbarkeit.

Welche Möglichkeiten der Fall Degajew einer geschichtswissenschaftlichen Untersuchung hätte eröffnen können, wird gegen Ende des Buches deutlich, wenn Pipes im Anschluss an seine Rekonstruktion des Mordes an Sudeikin kurz einige Reaktionen darauf andeutet. Abgedruckt ist ein Plakat, das sechs Variationen von Degajews Porträt zeigt und eine Belohnung von 5.000 Rubeln für die Mitwirkung an seiner Verhaftung verspricht (S. 112ff.). Pipes erwähnt in einem Nebensatz, dass hier zum ersten Mal in der Geschichte des Zarenreiches die Regierung das Volk zur Mithilfe bei der Suche nach einem Verbrecher animierte. Stellte der Fall Degajew einen Einschnitt im Umgang der zaristischen Regierung mit der revolutionären Bewegung dar? Wie wurden die zu Tausenden verteilten Plakate aufgenommen? Welches Bild von Degajew zeichnete die russische (und im Vergleich dazu die nichtrussische) Presse? Welche Schlüsse lassen sich daraus im Hinblick auf die Akzeptanz des Terrors oder der Methoden der Geheimpolizei ziehen? So hätten einige der Fragen auf dem Weg zu einer spannenden Studie zur „Degajew-Affäre“ lauten können. Richard Pipes hat sie nicht gestellt und damit ein einigermaßen überflüssiges Buch geschrieben.

Anmerkungen:
1 Grundlegend zur ersten Phase: Hardy, Deborah, Land and Freedom, The Origins of Russian Terrorism, 1876-1879, Westport 1987; sowie von Borcke, Astrid, Violence and Terror in Russian Revolutionary Populism: the Narodnaya Volya, 1879-83, in: Mommsen, W. J.; Hirschfeld, G. (Hgg.), Social Protest, Violence and Terror in Nineteenth- and Twentieth-century Europe, London 1982, S. 48-62.
2 Insbesondere Geifman, Anna, Thou shalt kill, Revolutionary Terrorism in Russia, 1894-1917, Princeton 1993. Sally A. Boniece hat jüngst überzeugend gezeigt, wie sich der russische revolutionäre Terrorismus für kulturgeschichtliche Fragestellungen nutzbar machen lässt: Boniece, Sally A., The Spiridonova Case, 1906: Terror, Myth, and Martyrdom, in: Kritika 4 (2003), S. 571- 606.
3 Geifman, Anna, Entangled in Terror: The Azef Affair and the Russian Revolution, Wilmington 2000.
4 Geifman (wie Anm. 3), S. 4
5 Pipes zitiert hier Akeley, Lewis E., in: Alumni Quaterly of the University of South Dakota 17, Nr. 1 (April 1921), S. 29.
6 Offensichtlich falsche Jahreszahlen ( S. 3; 37) und eine fehlende Zeile (S. 124).

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension