A. Epple: Empfindsame Geschichtsschreibung

Cover
Titel
Empfindsame Geschichtsschreibung. Eine Geschlechtergeschichte der Historiographie zwischen Aufklärung und Historismus


Autor(en)
Epple, Angelika
Reihe
Beiträge zur Geschichtskultur 26
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
444 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Burgdorf, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Der Titel der Bielefelder Dissertation von Angelika Epple ist einem überaus interessanten Thema gewidmet: weiblicher Geschichtsschreibung um 1800. Epple orientiert sich mit ihren einleitenden Überlegungen jedoch nicht, wie man vielleicht erwartet, an den großen Vertreterinnen der jüngeren feministischen Geschichtsschreibung, sondern an den Theoriepatriarchen Paul Ricoeur, Reinhart Koselleck und ihrem Doktorvater Jörn Rüsen. Die Maßstäbe der Untersuchung setzen zudem die großen Männer der deutschen Aufklärung: Herder, Schiller, Mendelssohn, besonders Christian Fürchtegott Gellert mit seiner Brieftheorie. Letztere liefert die Poetik der Empfindsamkeit, das „Basismodell“, wonach Frauen in besonderer Weise zum wahrhaftigen Schreiben befähigt seien. „Der Brief als Paradigma weiblichen Schreibens“ (S. 58).

Nach 144 Seiten theoretischen Reflexionen und Herausarbeitung des dominanten männlichen regelpoetischen bzw. regelhistoriographischen Diskurses folgen zwölf „Einzelfallstudien“. Die ihnen zugrundeliegenden Texte sind sehr heterogen. Friederika Baldingers Darstellung ihrer Verstandesgeschichte umfasst nur neun Seiten, Johanna Isabella von Wallenrodts Roman eines Lebens 1.300 Seiten, eine Studie „in degressiver Breite“ (S. 169). Die Fallstudien werden mit einer etwas überraschenden Erklärung eingeleitet: „Ich frage nicht, welche Antworten geben uns die Texte von Frauen auf die in den bisherigen Kapiteln aufgeworfenen Fragen, sondern ich versuche, in einzelnen close readings ihre eigene Sinnkonstruktion nachzuprüfen, ihre Fragen zu entdecken, um zu verstehen, auf was sie antworten oder um zumindest mein (eventuelles) Unverständnis genauer fassen zu können.“ Dennoch werden die zwölf Texte stets nach dem gleichen Schema durchdekliniert: a) die Kommunikationssituation, b) zeitliche Struktur und c) der historiographische Pakt. Im ersten Abschnitt geht es jeweils um die Adressaten. Während unter b nach dem Verhältnis von individueller und öffentlicher Zeit und ihren Schnittstellen, d. h., nach den (auto)biographischen zeitlichen Sinnstrukturen und den intersubjektiv-normativen Ereignis- und Zeitablaufmustern gefragt wird, geht es im letzten Abschnitt um Kategorie, Maß und Bestimmbarkeit der Wahrhaftigkeit, wie sie den Einzeltexten eingeschrieben ist. Die zwölf Texte werden insgesamt daraufhin befragt, inwieweit sie vom Basismodell abweichen, oder es transformieren.

Philipp Lejeune bezeichnet mit dem Begriff des „autobiographischen Paktes“ eine Erwartungshaltung, welche durch das Genre der Autobiographie beim Leser geweckt wird (S. 20). Im Anschluss daran und an Ricoeurs Konzept des Wahr(haftigk)eitspaktes kreiert Epple den Begriff des „historiographischen Paktes“ und führt aus, dass „sich die Griffigkeit des historiographischen Paktes“ (S. 58) insbesondere bei Briefen zeige. Sie wendet sich dann jedoch nicht Briefen oder historischen Darstellungen zu, sondern biographischen und autobiographischen Schriften von „Quellenautorinnen“. „Als Beispiele für Erzählungen, die zwar als historische Erzählungen einzustufen sind, aber nicht die Bedingungen der Geschichtsschreibung erfüllen, gelten in der vorliegenden Studie zunächst Autobiographien von Frauen“ (S. 24). Den Leser beschleicht der Verdacht, hier liege ein Zirkelschluss vor. „Da ich den historiographischen Pakt an Lejeunes Entwurf des autobiographischen Paktes orientiert habe, lese ich Autobiographien als historische Erzählungen“ (S. 34). „Quellenauswahl [ist] eben auch ein schmerzlicher Prozess. Die Theorie des historiographischen Paktes gibt genau vor, welche Prosatexte als historische Erzählungen gelesen werden können.“ Von den angeblich nur 100 Frauen, die im Untersuchungszeitraum „als Schriftstellerinnen eigenständige Texte verfasst haben, werden nur zwölf ausführlicher zu Wort kommen. Die meisten anderen Erzählungen erfüllen den historiographischen Pakt nicht“ (S. 45). Dies scheint auch auf weibliche Geschichtsschreibung im engeren Sinne zuzutreffen: Autobiographien von Herrscherinnen, die vielen weiblichen Reisebeschreibungen mit zeitgeschichtlichen Reflexionen oder Rahel Varnhagen von Enses zeitgeschichtliche Charakterstudien kommen nicht vor, Therese Hubers Geschichte des Cevennenkrieges (1834) ist für den Untersuchungszeitraum zu spät erschienen.

Zwei der zwölf Texte hätten nach den „strengen Aufnahmekriterien“ (S. 152) Epples eigentlich nicht der Untersuchung zugrunde liegen dürfen. „Die literarische [Erzählung] schließe ich aus Mangel eines geeigneten wissenschaftlichen Untersuchungsinstrumentariums aus einer Analyse aus“ (S. 24). Caroline Rudolphi spricht in der Vorrede ihres „Gemäldes weiblicher Erziehung“ aber selbst von der „Einkleidung in ein romanähnliches Gewand“. Auch die abschließende Beilage „Ergänzung des Historischen in vorliegendem Gemälde“ bleibt unbestimmt. Namen und Orte werden teilweise nur durch Anfangsbuchstaben angedeutet. Die welterschütternden Ereignisse unmittelbar vor der Veröffentlichung 1807 werden nicht thematisiert.

Noch unpassender erscheint in diesem Kontext Sophie Mereaus Aufsatz „Ninon de Lenclos“, handelt es sich doch um eine gekürzte Übersetzung von Antoine Brets „Mémoires sur la vie de mademoiselle de Lenclos“ (1756). Ein Vergleich zeigt „eine so große Übereinstimmung, dass sie als ausschließliche Vorlage angenommen werden muss. Weite Passagen wurden in freier Übersetzung übernommen, keine Handlungsstränge wurden hinzugefügt, die Chronologie der Ereignisse wurde ohne Abweichungen reproduziert“ (S. 307). Wenn es sich hier überhaupt um Geschichtsschreibung handelt, dann doch eher um eine männliche. Johanna Schopenhauers „Fernow-Biographie“ hat über weite Strecken eher den Charakter einer Brief- und Dokumentenkompilation.

Ein besonderes Interesse Epples gilt den Situationen der schreibenden Frauen. Aussagen darüber werden aber allein aufgrund der zwölf Texte getroffen. Eine Überprüfung der tatsächlichen Situation der Frauen anhand anderer Quellen unterbleibt. Es geht der Verfasserin vorrangig darum, die mangelhafte Ausbildung der schreibenden Frauen zu belegen. Ein Abgleich mit der bestehenden breiten Forschung zur nur sehr differenziert zu erfassenden Ausbildung von Frauen im 18. Jahrhundert erfolgt ebenso wenig, wie ein Vergleich der Bescheidenheitstopoi der schreibenden Frauen in den Paratexten mit Bescheidenheits- und Demutstopoi in männlichen Biographien und Autobiographien der Zeit unterbleibt. Selbst Karoline Woltmanns „Leben und Geist der Frau von Sévigné“ muss die mangelnde Ausbildung der Madame de Sévigné dokumentieren. Anhand entsprechender Aussagen Woltmanns werden deren eigene Erwartungshorizonte, Wertmuster und entsprechende Modelle als Charakteristika ihrer spezifischen „empfindsamen Geschichtsschreibung“ herausgearbeitet.

Da die Verfasserin sich bei ihrer Analyse allein auf die zwölf Texte beschränkt, bleibt auch das in diesen Texten auftretende Personal blass. Die „Neue“ oder „Allgemeine Deutsche Biographie“ kommen in den Fußnoten ebenso wenig vor wie die entsprechenden französischen Werke. Trotzdem überrascht der Text mit mancher Fußnote, wie z. B. „den Namen den Generals [Kyau] konnte ich in den einschlägigen Nachschlagewerken nicht nachweisen“ (S. 184 f.). Friedrich Wilhelm von Kyau war einer der bekanntesten Heerführer Friedrichs II. von Preußen. Bereits im Ersten Schlesischen Krieg erhielt er den Orden pour le mérite. Er trug den Schwarzen Adlerorden, im Siebenjährigen Krieg übernahm er nach der Gefangennahme des Herzogs von Bevern das Oberkommando in Schlesien. Es ist sehr erstaunlich ihn „in den einschlägigen Nachschlagewerken“ nicht zu finden.

Schon die der ganzen Dissertation zugrundeliegende These wirkt merkwürdig unbestimmt, und wird durch die zeitliche Beschränkung der Arbeit auch in keiner Weise untermauert (könnte also nur als Hypothese formuliert werden): „Meine These ist hierbei, dass ein Nebeneinander dieser unterschiedlichen Formen der Geschichtsschreibung noch weit ins 19. und 20. Jahrhundert, wenn nicht bis in die Gegenwart erhalten geblieben ist“ (S. 42). Bedauerlicherweise schränkt die Zitierweise der Autorin den Lesekomfort erheblich ein. Nachnamen der Autorinnen und Autoren plus Jahreszahl führt zur Verwirrung, wenn viele gleich mit mehreren Texten vertreten sind. Zwischenzeitlich wurde dies auch der Autorin zu kompliziert. „In diesem Kapitel gebe ich Kurztitel an, um den Überblick über die verschiedenen Aufsätze Gatterers zu erleichtern“ (S. 90). Sein Aufsatz „Von der Evidenz in der Geschichtskunde“ wird dann aber nicht mit „Evidenz“ abgekürzt, sondern mit „Von der“ (S. 91). Das ist schmerzhaft, und unschön ist, dass die Fußnoten mal vor, mal hinter den Satzzeichen stehen.

Manche Behauptung Epples scheint etwas gewagt. So z. B. diese: „Im Untersuchungszeitraum [1770-1810] gibt es keine Texte von Frauen, die in diesem strengen Sinne Kriterien der Wissenschaftlichkeit genügen.“ Schließlich gab es gerade in dieser Zeit in Deutschland, in Italien und anderswo bereits Frauen, die den Doktor- oder Magistergrad erworben hatten oder sich auch unabhängig davon wissenschaftlich betätigten. Dorothea Schlözer wird in Epples Arbeit nur flüchtig erwähnt (S. 70 Anm. 49). Weit weg von der historischen Realität ist auch die Feststellung, „es ist ein Ergebnis meiner Untersuchung, dass nur adlige Frauen sich politischer Fragen annehmen“ (S. 114).

Während manches Handwerkliche und auch Teile der Thesenführung nicht überzeugen können, so legt Epple doch einige sensible Textinterpretationen vor und konfrontiert diese mit dem als Basismodell herausgearbeiteten, „männlichen“ Diskurs über das (historische) Erzählen und die Schreibbefähigungen der Geschlechter. Wenn dabei die Definition von „Empfindsame Geschichtsschreibung“ in acht Punkten als Sammelbegriff für die Merkmale der untersuchten Fallbeispiele als Endergebnis der Studie steht, ist damit ein Angebot zur Einordnung in umfassendere Historiographiegeschichten gemacht. Ob gerade in einem solchen größeren Zusammenhang dieses Etikett für die doch sehr unterschiedlichen Texte und Genres dienlich ist, muss sich erst noch erweisen.

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