M. Schnettger (Hg.), Imperium Romanum

Cover
Titel
Imperium Romanum - irregulare corpus - Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie


Herausgeber
Schnettger, Matthias
Reihe
Veröffentlichunges des Instituts für Europäische Geschichte Mainz - Abteilung Universalgeschichte - Beihefte 57
Erschienen
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Jörn, Historisches Institut, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Die Frage, was das Alte Reich seinem Charakter nach eigentlich gewesen sei, bewegte die Zeitgenossen ebenso wie sie noch modernen Historikern Stoff für immer neue Diskussionen bietet. Eine Tagung, die Ende September 2001 im Institut für Europäische Geschichte in Mainz stattfand, fragte nach der unterschiedlichen Perzeption des Reiches durch Zeitgenossen im Reich und in seinen Nachbarländern, nach der Sicht der deutschen, österreichischen, französischen und polnischen Historiografie auf das Reich sowie nach aktuellen Forschungstendenzen. Innerhalb weniger Monate wurden die wichtigen Ergebnisse der Tagung für den Druck vorbereitet und der Forschung in einem gut redigierten Band zur Verfügung gestellt.

Die Beiträge des Bandes sind in vier Bereiche gegliedert. Den ersten, in welchem das Reich im Urteil der Zeitgenossen vorgestellt wird, eröffnet Burghart Schmidt mit seinem Aufsatz „Mappae Germaniae. Das Alte Reich in der kartografischen Überlieferung der Frühen Neuzeit“. Schmidt zeigt, dass Zeitgenossen wie Voltaire, die über die Eigenarten des Reiches reflektierten, nur sehr ungenaue karthografische Vorstellungen von dem Objekt ihres Interesses besaßen und fragt, „welches sinnbildende Vermögen Text und Karte im Betrachter der Frühen Neuzeit wachriefen, welche metabildenden Wertorientierungen sie zu festigen oder neu zu erschließen imstande waren und welche politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sie dabei implizierten“ (S. 8). Er untersucht verschiedenste karthografische Darstellungen und stellt fest, dass die vollständige wissenschaftliche Erschließung der Karten vom Alten Reich ein wichtiges Forschungsdesiderat bleibt. Die Illustrationen, 15 teils farbige zeitgenössische Darstellungen des Reiches, regen dazu an. Wolfgang Burgdorf zeigt in seinem interessanten Aufsatz „Das Reich geht mich nichts an. Goethes Götz von Berlichingen, das Reich und die Reichspublizistik“ den historischen und politisch-theoretischen Hintergrund für Goethes Drama, den er in den Reichsreformbemühungen um 1500, der forma Imperii-Debatte des 17. Jahrhunderts und politischen Fragen des späten 18. Jahrhunderts sieht. Ihn interessieren dabei besonders die zwei entgegengesetzten Interpretationen der Reichsverfassung, die in dem Stück vorgestellt werden. Er untersucht aber auch den Götz-Stoff als Teil der Reichspublizistik. Matthias Schnettger verdeutlicht in seinem Beitrag „Impero Romano – Impero Germanico. Italienische Perspektiven auf das Reich in der Frühen Neuzeit“ zunächst die unterschiedlichen, regional geprägten Sichtweisen der Italiener auf das Alte Reich und fokussiert seine Ausführungen vor allem auf die Republik Genua und die kleinen Lehen Reichsitaliens, für die er feststellt, dass „Reich und Reichsidee auch in der Frühen Neuzeit eine nicht unerhebliche Bedeutung besessen haben“ (S. 75). Er mahnt, bei der weiteren Erforschung der Reichsgeschichte die nichtdeutschen Randgebiete nicht aus den Augen zu verlieren und den Reichsbegriff so offen zu wählen, „wie sich das Alte Reich trotz aller partiellen Verdichtung gerade in seinen Randbereichen“ präsentierte (S. 75). Klaus-Richard Böhme beschäftigt sich in „Die Großmachtstellung bewahren – aber wie? Die schwedische Deutschlandpolitik nach 1648“ mit den verschiedenen Konzepten der schwedischen Krone und des Reichsrates zur Sicherung und zum partiellen Ausbau der erreichten Machtposition im Dreißigjährigen Krieg. Er zeigt den komplizierten Spagat zwischen den ambitionierten Kriegszielen in der Großmachtzeit und den begrenzten Staatsressourcen, zwischen Unterstützung für Kaiser und Reich bei der Abwehr der Türkengefahr und der Durchsetzung schwedischer Ansprüche auf die Reichsstadt Bremen gegen das Veto des Kaisers. Seine abschließende These, es wäre für Schweden wahrscheinlich günstiger gewesen, sich nach 1648 gegen eine finanzielle Abfindung aus Deutschland zurückzuziehen, schätzt er selbst als unrealistisches Gedankenspiel ein. Martin Wrede wendet sich in seinem Beitrag „L’ État de l’ Empire empire? Die französische Historiografie und das Reich im Zeitalter Ludwigs XIV. – Weltbild, Wissenschaft und Propaganda“ der zweiten, wichtigeren Garantiemacht des Westfälischen Friedens zu, die die Vorgänge im Alten Reich sehr genau beobachtete, um sie entsprechend ausnutzen zu können. In zahlreichen französischen Werken lässt sich die Erwartung des Niedergangs des Reiches in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nachweisen. Dem Ideal eines geordneten christlichen Gemeinwesens, wie es Frankreich verkörperte, wurden die Zustände im Alten Reich entgegengesetzt. Wrede bietet einen sehr guten Überblick über die Entwicklung des Reichsbildes in der zeitgenössischen französischen Historiografie. Helmut Gabel konzentriert sich in seinem Aufsatz „Ein verkanntes System? Das Alte Reich im zeitgenössischen niederländischen Urteil“ auf die zweite Hälfte des 17. und den Beginn des 18. Jahrhunderts und mithin auf eine Epoche, „in der zeitweilig überlebenswichtige allianzpolitische Erfordernisse die niederländische Republik näher an Kaiser und Reich heranrücken ließen“ (S. 114). Gabel stellt fest, dass in den überlieferten niederländischen Arbeiten der Staatsbegriff für das Reich vermieden wurde und dieses zwar als „Rechts- und ideelle Handlungsgemeinschaft“, jedoch nicht als „faktische Handlungseinheit“ angesehen wurde (S. 133). Christine Roll fragt „Hatten die Moskowiter einen Begriff vom Reich?“ und stellt ihre „Beobachtungen zu den Kenntnissen und Vorstellungen von der politischen Ordnung des Alten Reichs am Vorpetrinischen Zarenhof“ vor, in denen sie mit dem gängigen Urteil aufräumt, vor Peter I. habe man in Russland nur über sehr unklare Vorstellungen vom Alten Reich verfügt. Eine Öffnung Russlands nach Westeuropa beobachtet sie spätestens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und untersucht zunächst, welche Informationen über das Reich ihren Weg nach Moskau fanden. Sie stellt dabei das Problem der Übersetzung in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen und exemplifiziert dies hervorragend am Text des Osnabrücker Friedensvertrages. Roll erkennt, dass die gedankliche Auseinandersetzung mit Kaiser und Reich von den politischen Erfordernissen und Interessen in Russland abhing und die Perzeption des Reichs somit selektiv und auf den Herrscher und seine Berater beschränkt blieb.

Den zweiten Abschnitt „Das Alte Reich in der Historiographie“ eröffnet Eike Wolgast, der „Die Sicht des Alten Reiches bei Treitschke und Erdmannsdörfer“ vorstellt. Beide Altersgenossen nahmen das Reich „auf unterschiedliche Weise und dennoch in der grundsätzlichen Bewertung gleichgesinnt“ wahr (S. 169). Während Treitschke sich nur rückblickend aus der historischen Perspektive nach 1815 für das Reich interessierte, untersuchte Erdmannsdörfer die Epoche zwischen Westfälischem Frieden und dem Regierungsantritt Friedrichs II. von Preußen. Ersterer skizzierte lediglich die großen Linien der Reichsentwicklung, während letzterer ein sehr facettenreiches Panorama entwarf. Beide einte jedoch die Interpretation der Reichsgeschichte aus preußischer Sicht. Michael Derndarsky stellt diesem Doppelporträt seine Studie „Zwischen Idee und Wirklichkeit. Das Alte Reich in der Sicht Heinrich von Srbiks“ an die Seite. Srbik gilt nach wie vor als einer der bedeutendsten und einflussreichsten österreichischen Historiker der Zwischenkriegszeit, der seine 1929 vorgestellte Vorstellung eines gemeinsamen deutschen Volksbewusstseins auf ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein gründete. Die Ursachen hierfür sieht Derndarsky in der romantisierenden Sicht Srbiks auf die noch selbst erlebte Doppelmonarchie. Christophe Duhamelle untersucht „Das Alte Reich im toten Winkel der französischen Historiographie“ und widmet sich dabei weniger den französischen Forschungen zum Alten Reich als der Frage, warum es diese kaum gibt. Er macht seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dafür vor allem die gemeinsame deutsch-französische Faszination für einen zentralisierten Nationalstaat verantwortlich, sieht für die Zukunft vor allem hoffnungsvolle Ansätze in der Religionsgeschichte und in einer neuen Historikergeneration, die sich in ihren Dissertationen des mittlerweile erkannten Desiderats annimmt. Dariusz Makiłła beschreibt die Beziehungen zwischen Polen und dem Reich als eine „Friedliche Nachbarschaft“ und analysiert „Das Bild des Reiches in der polnischen Geschichtsschreibung“, das seit Jahrhunderten großes Interesse weckt, besonders in der älteren Historiografie aber überwiegend negativ dargestellt wurde. Interessant ist, dass die zeitgenössische Beschreibung des Reiches als „irregulare corpus“ eine Entsprechung in der Sicht der nichtpolnischen Geschichtsschreibung auf die polnische Republik als „institutionalisierte Unordnung“ fand. Vor allem in der jüngeren Forschung sieht Makiłła jedoch veränderte Wertungen des Reichs mit „seinem Reichtum der Verfassungsformen und politischen Lösungen“ (S. 229).

Eine dritte Gruppe von Beiträgen beschäftigt sich mit aktuellen Forschungstendenzen. Barbara Stollberg-Rilinger untersucht „Die zeremonielle Inszenierung des Reiches“ und fragt „Was leistet der kulturalistische Ansatz für die Reichsverfassungsgeschichte?“. Sie mahnt sehr eindringlich, diesen Ansatz für das Verständnis des Alten Reiches fruchtbar zu machen, um der Gefahr zu entgehen, wesentliche Aspekte der Reichsverfassungsgeschichte unbeachtet zu lassen und verdeutlicht die Möglichkeiten sehr eindrucksvoll am Beispiel der Zeremonialkonflikte. Dazu erinnert sie daran, dass symbolische Inszenierungen unterschiedlichster Art für das Funktionieren der Ordnung im Alten Reich von substantieller Bedeutung waren. Georg Schmidt fragt, ob „Das frühneuzeitliche Reich – Sonderweg und Modell für Europa oder Staat der deutschen Nation?“ war und stellt in einem eindringlich argumentierenden Beitrag noch einmal sein Modell des komplementären Reichsstaats zur Diskussion. Die Vorteile seines Konzepts gegenüber dem Modell eines „am Lehenreich orientierten übernationalen und überstaatlichen Reichssystem“ (274-276) sieht er in der Bindung des Raumes an die politisch-territoriale deutsche Nation, in der klaren Benennung der Besonderheiten der frühneuzeitlichen deutschen Staatsentwicklung, in der Scheidung ethnischer Nationsvorstellungen vom Reichsbegriff sowie in der Anerkennung des „freiheitlichen und erinnerungswürdigen Entwicklungspotentials“ (S. 276). Heinz Schilling argumentiert in seinem Beitrag „Das Alte Reich – ein teilmodernisiertes System als Ergebnis der partiellen Anpassung an die frühmoderne Staatsbildung in den Territorien und den europäischen Nachbarländern“ in sechs klar herausgearbeiteten Thesen zu den Themen Wehrverfassung, Organisation der politischen und diplomatischen Außenbeziehungen, Wirtschaftspolitik, Grenzbildung, Religions- und Konfessionsproblematik sowie zur sakralen Qualität des Reiches gegen die Auffassungen Schmidts. Die Diskussionsbeiträge von Ronald G. Asch und Johannes Burkhardt im letzten Abschnitt des Bandes greifen die Kontroverse zwischen Schmidt und Schilling auf, spitzen sie teilweise zu und vertiefen sie.

Die Hoffnungen des Herausgebers, der Band möge der Erforschung der Geschichte des Alten Reiches einige Impulse geben, werden sich mit Sicherheit erfüllen. Wo bietet sich an anderer Stelle ein solcher von den maßgeblichen Experten eröffneter Zugriff auf die Sichtweisen auf das Reich in Geschichte und Gegenwart? Wo spiegelt sich die aktuelle Diskussion um den Charakter des Reiches so konzentriert und prononciert wieder? Nutzte man diesen Band nicht für eigene Arbeiten, enthielte man sich wichtige Erkenntnisse und Denkanstöße vor – bei dem derzeitigen Niveau der Reichsforschung ist das kaum zu befürchten.

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