Titel
Radikale Jugend. Die sozialistische Jugendbewegung der Schweiz 1900-1930


Autor(en)
Petersen, Andreas
Erschienen
Zürich 2001: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 42,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Andresen, Pädagogisches Institut, Universität Zürich

Andreas Petersen wird seinem Anspruch, in der Studie über die sozialistische Jugendbewegung der Schweiz mehrere Bereiche und Fragestellungen zusammenzuführen, weitgehend gerecht. Der Autor gibt eingangs drei mögliche Lektüremarkierungen vor, und diese charakterisieren die Komplexität der mehr als 600 Seiten starken, dichten, aber gut lesbaren Untersuchung: Petersen will, erstens, einen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der sozialistischen Jugend und damit zur Geschichte der Jugend in der Schweiz leisten. Sodann verfolgt er, zweitens, historiografisch und jugendtheoretisch einen Zugang zur Generationentheorie und erprobt deren Plausibilität. Schließlich versteht er, drittens, seine Studie auch als Ansatz einer Ursachenforschung, die sich auf die Radikalisierungsformen und -tendenzen von Jugendbewegungen konzentriert.

Materialer Ausgangspunkt der theoretischen Analysen sind die gedruckten und ungedruckten Quellen zur sozialistischen Jugendbewegung in der Schweiz. Deren Entwicklung und Verlauf unterteilt Petersen chronologisch und folgt damit einer zeitlichen Ordnung, die sich auch in der Geschichtsschreibung zur deutschen Jugendbewegung durchgesetzt hat. Die in drei großen Abschnitten strukturierten Phasen erleichtern zwar die Lektüre, aber sie sind auch von den Problemen, die die Konstruktion scharfer Zäsuren stets mit sich bringt, nicht frei.

Nach der theoretischen und methodischen Einbettung der Arbeit bietet Petersen zunächst einen Überblick über die Geschichte der „Jugend in der Schweiz am Anfang des 20. Jahrhunderts“ und deckt so wichtige Aspekte zur Formierung von Jugend in Abhängigkeit zum bestehenden politischen, sozialen und kulturellen System, konkret also zur „nationalen Entwicklung“ (S. 71) in der Schweiz, auf. Deutlich wird dabei auch, dass die Annahmen über die deutsche Geschichte der Jugend und Jugendbewegung keineswegs auf die Schweiz bruchlos übertragen werden können, was sich bereits an den Unterschieden zwischen den politischen Systemen und der politischen Kultur sowie an der Dynamik des sozialen Wandels manifestiert. In Anlehnung an die Schweizer Krisenforschung verweist Petersen auf eine im Vergleich zu den europäischen Nachbarn zeitlich später erfolgte Krisenwahrnehmung 1. Erst vor dem Ersten Weltkrieg zeigten sich u.a. an dem Zürcher Generalstreik von 1912 oder an heftigen Kunstdebatten Hinweise für eine Orientierungskrise der älteren und der jugendlichen Bevölkerung in den Schweizer Kantonen. Petersen arbeitet kenntnisreich und detailliert die Haltung der Schweiz gegenüber Modernisierungsphänomenen klar heraus, wodurch seine jugendhistorische Rekonstruktion an Substanz gewinnt.

Die drei zentralen Kapitel über die reformerische Phase der sozialistischen Jugendbewegung in der Schweiz von 1900-1907 (Kap. IV), die anarchistische Phase zwischen 1907-1915 (Kap. V) und schließlich über die bolschewistische Phase zwischen 1915-1921 (Kap. VI) folgen einem einheitlichen Muster in der Anlage der Argumentation.

Petersen legt zunächst die Situation der Schweizer Arbeiterbewegung für den betreffenden Zeitabschnitt dar und daran anknüpfend die dominante Fremdthematisierung von Jugend aus der Perspektive von Erwachsenen. Er übernimmt damit die in der historischen Jugendforschung etablierte und vor allem an der Geschichte von Jugendbewegungen und –organisationen erprobte Unterscheidung zwischen Fremd- und Selbstthematisierung 2. Darauf folgen die Thematisierung der Jugendgruppen, die Analyse von struktureller sowie ideologischer Entwicklung und die Darstellung von Aktivitäten. Die Kapitel schließen jeweils mit der Rekonstruktion von Radikalisierungsfaktoren, deren Objektivierungspunkte der Autor seinem generationstheoretischen Zuschnitt entnommen hat und die zudem aus der Analyse des Quellenmaterials stammen. Zu den Radikalisierungsfaktoren zählt er Generationslagerung und –einheit, den Einfluss von Erwachsenen, innerorganisatorische Faktoren, jugendspezifische Faktoren, Ideologie und vor allem auch soziale Kontrolle. Besonders aufschlussreich für den Gesamtzusammenhang der Studie sind die von Petersen fokussierten jugendspezifischen Faktoren einer Radikalisierung, weil er hier nach Identität, dem utopischen Potenzial der Jugend sowie nach Liebe und Rivalität fragt.

Für die Sozialgeschichte der Schweiz zu Beginn des 20. Jahrhunderts vermag Petersen einige Forschungslücken zu schließen, und hier liegt ein wesentlicher Ertrag der vorliegenden Studie. Insbesondere nutzt der Autor auch die Chance, in Anlehnung an Detlef Peukerts Untersuchungen die Arbeitermilieus als Lebenswelten proletarischer Jugendlicher über seine jugendtheoretische und –historische Fragestellung auszuleuchten. Es werde erstmals versucht, so der Autor selbst, sich der Lebenssituation der proletarischen Jugend über eine Auslegeordnung verschiedener Rahmenfaktoren zu nähern (S. 113). Insgesamt ermöglicht Petersen durch die Einbettung der sozialistischen Jugendbewegung in die Entwicklung, in Brüche und Konflikte der Arbeiterbewegung einen tiefen Einblick in die spezifischen Bedingungen des Schweizer Systems. So erschließen sich durch die Lektüre die Wirtschafts- und Sozialstruktur, die Bevölkerungsentwicklung, die Radikalisierung der Gewerkschaften, die Bedeutung einzelner Kantone und Städte wie Zürich und nicht zuletzt die Relevanz eines existierenden demokratischen Systems, das die Arbeiterschaft anders herausforderte als dies zeitgleich im deutschen Kaiserreich der Fall war.

An der Darstellung der Anfänge einer organisierten proletarischen Jugendbewegung durch den „Jungburschenverein“, den ein sozialreformerischer Pfarrer, Paul Pflüger, mit 35 Konfirmanden 1900 gründete, an der Rekonstruktion der Aktivitäten, der Konflikte (z.B. um die Integration von Mädchen) zeigen sich zahlreiche Elemente, die aus der internationalen Jugendforschung gut bekannt sind. Insbesondere treten bei den Aktivitäten der Bildungsanspruch der führenden (erwachsenen) Protagonisten sowie das Bedürfnis nach Geselligkeit hervor. Dem Selbstverständnis der Jugendpflege verpflichtet, gab es in den Anfangsjahren des Vereins kaum dezidiert politische Aspirationen. Erst ab 1907 orientierten sich die Jugendlichen an antimilitaristischen, revolutionär-aktivistischen Parolen, was Petersen nicht auf ein jugendspezifisches Bedürfnis nach Radikalität, sondern auf das Zurückdrängen des an Reformen orientierten gemäßigten Gründers Pflüger und auf den neuen Einfluss Fritz Brupbachers zurückführt.

Brupbacher war einer der wichtigen Exponenten des Schweizer Linksradikalismus und wurde zur zentralen Figur der Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Insbesondere in den Teilabschnitten zur Radikalisierung gelingt Petersen eine Kontextualisierung der Jugendbewegung, ohne dass die Frage nach dem Engagement der Jugendlichen selbst vernachlässigt wird. Allerdings verengt seine theoretische und methodologische Ausrichtung tendenziell den Blick, so dass die Lesarten der Quellen nicht alle diskursiven Nebenstränge, Diskontinuitäten oder Konflikte sichtbar machen. Die Radikalisierung erfolgt seiner Darstellung nach in einer stringenten Linearität, die mit wichtigen Annahmen und Kausalitäten verbunden scheint. Erst aus jugendtheoretischer Perspektive bricht Petersen diese Perspektive für ein identitätstheoretisches Argument auf: Radikalität dürfe keineswegs nur als ideologische Festlegung verstanden werden, sie sei vornehmlich auch ein Produkt jugendlicher Identitätsbildung. Die Identitätsbildung der jugendlichen Sozialisten erfolgte einerseits im Kontrast zu den Erwachsenen in Partei und Gewerkschaft, und andererseits formierte sie sich als spezielle Gruppenidentität gegenüber anderen jugendlichen Gruppierungen.

Radikalisierung, das zeigt der Autor durch die Quellen, ist demnach eine jugendspezifische Haltung in einem konkreten politischen Kontext. Hieraus resultiert auch das zuweilen eigentümlich anmutende Zusammenwirken einer Protesthaltung gegen die Tradition mit einer Faszination für Lesarten des Marxismus. „Die politischen Einstellungen der Jugendlichen entwickelten sich nicht gegen ihre Umwelt.“ (S. 336)

Petersen arbeitet heraus, dass Radikalisierung prinzipiell auf einer vorhandenen Protesthaltung basiere. Wo diese fehlte, wie beispielsweise bei den Mädchenvereinen, blieb Radikalisierung aus. An diesem Punkt wird deutlich, dass an die Geschlechterdifferenz und ihre Bedeutung für die Erforschung von Jugendbewegungen systematisch herangegangen werden muss, um eine normativ aufgeladene Konstruktion von Jugend und Radikalisierung auf der Basis männlicher Jugendbilder zu vermeiden.

Das umfangreichste Kapitel befasst sich mit der bolschewistischen Phase, was nicht nur aus dem interessanten Quellenbestand u.a. zu Leonhard Ragaz und Lenin resultieren mag, sondern auch den zentralen und international sich spiegelnden Konflikten geschuldet ist, womit der Autor an das Anliegen der Konfliktforschung wiederum konstruktiv anschließt.

Am Ende seiner materialreichen Untersuchung bemüht Petersen sich um die Formulierung eines thesenartigen Resümees. Aus diesem sticht ein Ergebnis heraus: Jugend müsse man im Kontext sozialistischer Jugendbewegung vor allem als „von Erwachsenen gemachte“ Jugend verstehen. Mit dieser Aussage dichotomisiert Petersen die methodologische Diskussion der Jugendforschung. Seine Analysen verweisen angesichts der von ihm aufgezeigten Komplexität eigentlich auf das Ineinanderwirken von Fremd- und Selbsthematisierung. Dass Jugend maßgeblich durch Erwachsene initiiert worden sei, bringt er mit seiner Rekonstruktion der Instrumentalisierung und Politisierung von Jugend durch Politik und Politiker in Verbindung. Hier wären weitere systematische Untersuchungen der Akteure und eine theoretische Betrachtung von Politisierungsmöglichkeiten im demokratischen System der Schweiz erhellend. Petersen selbst endet überraschenderweise pädagogisch: „Adoleszenten müssen Welterklärungsmuster angeboten werden, die Vorstellungen beinhalten, auf denen der demokratische Verfassungs- und Rechtsstaat als Errungenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts basiert.“ (S. 547) Durch seine lesenwerte und lehrreiche Studie hat Andreas Petersen eine Basis für weitere Fragestellungen und Untersuchungen gelegt.

Anmerkungen:
1 Siegenthaler, Hansjörg, Die Schweiz in der Krise des Fin de siècle, in: Graetz, Michael; Mattioli, Aram (Hgg.), Krisenwahrnehmungen im Fin de siècle. Jüdische und katholische Bildungseliten in Deutschland und in der Schweiz (Clio Lucernensis 4), Zürich 1997, S. 55-66.
2 Bühler, Johannes-Christoph von, Die gesellschaftliche Konstruktion des Jugendalters. Zur Entstehung der Jugendforschung am Beginn des 20. Jahrhunderts, Weinheim 1990.

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