Cover
Titel
The First World War. Vol. 1: To Arms


Autor(en)
Strachan, Hew
Erschienen
Anzahl Seiten
1227 S.
Preis
£17.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Pöhlmann, München

Am 4. Oktober 1914 - in Frankreich, Belgien, Polen und Galizien tobten längst die ebenso chaotischen wie verlustreichen Schlachten des ersten Weltkriegsjahres - bunkerte der deutsche Kreuzer EMDEN in aller Ruhe im Hafen der britischen Basis Diego Garcia im Indischen Ozean Kohle - die Nachricht vom Ausbruch des Krieges hatte die Insulaner noch nicht erreicht (S. 479). In einem Krieg, den der Autor des hier zu besprechenden Bandes als global von Anbeginn deklariert (S. XVI), dürfte es sich um eine glückliche Ausnahme von der traurigen Regel gehandelt haben. Hew Strachan, Chichele Professor of the History of War am All Souls College in Oxford schildert die Anekdote im ersten Band seiner auf drei Bände angelegten Geschichte des Ersten Weltkrieges. Die Erwartungen des Verlags waren hoch, galt es doch bei Oxford UP, Cruttwells „A history of the Great War“ (1934) als Leitpublikation zu ersetzen. Die Erwartungen der Leser dürften nicht geringer gewesen sein, haben sich doch die Paradigmen der Weltkriegshistoriografie seither stark verschoben. Zudem hat die Konjunktur des Themas in den vergangenen beiden Jahrzehnten eine kaum noch zu überblickende Menge an Forschungserträgen gezeitigt.

„To Arms“ behandelt die Kriegsursachen, die Julikrise 1914 und den Kriegsverlauf bis Anfang 1915. In diese chronologische Grundstruktur werden zusätzlich zentrale Themenblöcke eingefügt, die für die gesamte Kriegsdauer untersucht werden - im vorliegenden Band sind es der Krieg im Pazifik und in Afrika sowie die Themen Kriegsfinanzierung und industrielle Mobilmachung (bis 1916). Diese Konzeption erweist sich bei der Lektüre als überaus gelungen, ermöglicht sie doch die konzise Information zu diesen in sich relativ abgeschlossenen Themen.

Strachans erklärtes Ziel ist es, die anglozentrierte Perspektive früherer Darstellungen zu überwinden. Dass ihm damit ernst ist, zeigt schon die Gliederung des Stoffs. So ist die namentlich in angelsächsischen Darstellungen chronische Fixierung auf die Westfront hier nicht gegeben. Breiten Raum nehmen die Ostfront und der Balkan ein, und dabei die Kriegspläne und Operationen Österreich-Ungarns, Russlands und Serbiens - Themen, die man wiederum in deutschen Darstellungen oft nur unterbelichtet findet. Auch eine Untersuchung der Vorkriegsrüstung und Operationen der Flotten findet man hierzulande eher in Spezialpublikationen, die das Thema selten so in einen weiteren historischen Kontext einzubetten vermögen wie Hew Strachan das tut. Der ebenfalls informativ geschilderte Krieg im Osmanischen Reich bzw. im muslimischen Gürtel zwischen Maghreb und Afghanistan gewinnt durch die zeitgenössische Entwicklung dieser geostrategischen Räume eine ganz neue Relevanz. Somit dürfte es kaum einen Schauplatz dieses globalen Krieges geben, der in dem Band keine Beachtung findet.

Im Mittelpunkt der Darstellungen stehen die außen- und innenpolitischen, die wirtschaftlichen und natürlich die militärischen Sphären des Krieges. Wer eine Erfahrungs- oder Kulturgeschichte des Weltkrieges sucht, ist mit Strachan falsch beraten. Das Kapitel „The Ideas of 1914“ findet sich bezeichnenderweise nicht in der chronologischen Folge und damit am Anfang sondern als Epilog, der merkwürdig quer zum gesamten Aufbau des Bandes liegt. „Today in Britain“, stellt Strachan einleitend fest, „most schoolchildren learn about the war through its literary legacy. The differences in approach are profound. The war’s assocation with adventure, excitement, courage, and even purpose has been replaced by its connotations of suffering, waste, and tragedy. In truth […] neither is exclusive of the other” (S. XV). Nun liegt ihm nichts ferner, als den Krieg als Abenteuer wieder zu entdecken, aber die handlungsleitenden Motive der Akteure möchte Strachan dann doch wieder stärker im Fokus der historischen Betrachtung sehen als dies bei einer Geschichtsschreibung der Fall ist, die sich inzwischen in ganz bemerkenswerter Weise der Erfahrung als Leitkategorie verschrieben hat. Dieser Unterschied in der Perspektive deutet sich in „To Arms“ vorsichtig an, und man wird mit Interesse beobachten, ob und wo er in den folgenden Bänden noch pointierter zutage treten wird. Gegenwärtig dürfte es kaum einen Historiker geben, der militärische Organisationen, ihre Strategien und ihre Instrumente so anschaulich schildert wie Hew Strachan. Drei ausgewählte Beispiele sollen hierfür genannt werden:

Aus der parallelen Untersuchung von Land- und Seestrategien gelingt es Strachan aufzuzeigen, dass sich bis 1914 bei den Militärmächten, die über moderne Großkampfschiffflotten verfügten - vor allem Großbritannien und das Deutsche Reich -, zwei grundsätzlich verschiedene Strategiemuster entwickelt hatten. Eine in vielerlei Hinsicht noch napoleonisch zu nennende Landstrategie der Massenheere, die taktisch stark offensiv und operativ-strategisch am militärischen Vernichtungsgedanken orientiert war. Und eine Seestrategie, die ihrer Natur nach eine Vorform moderner Abschreckung war. Der Einsatz der Flotte zur großen Schlacht à tout prix musste ihren Protagonisten geradezu selbstmörderisch erscheinen. Denn die Dreadnoughts galten als perspektivische Garanten der Seemacht, die es über den Krieg hinaus in eine Friedensordnung hinein zu retten galt.

Zweites (und wenig bekanntes), operationsgeschichtliches Beispiel: die Schilderung der Sarikamisch-Offensive der türkischen Armee in Richtung auf den russischen Kaukasus im Dezember 1914. Unter hohem politischem Druck geplant, entwickelte sich der Angriff über verschneites Hochgebirge bald zum Desaster für die Türken (und die maßgeblich an den Planungen beteiligten deutschen Stabsoffiziere). Strachan stellt nun über den operationsgeschichtlichen Rahmen hinaus die Frage, welche Wende der Krieg genommen hätte, wenn das Osmanische Reich früh und erfolgreich im Kaukasus eine Front gegen Russland eröffnet hätte.

Drittens: die Munitionskrise von 1914/15. Dabei untersucht Hew Strachan zunächst einmal die industrielle Versorgungsproblematik im Detail und setzt sie in Beziehung zum rasanten Wandel des Kriegesbildes von 1914. Dann arbeitet er die innenpolitische Dimension heraus. Denn was zunächst als kriegsindustrielles Problem wahrgenommen wurde, entwickelte sich - am extremsten am britischen Konflikt zwischen Kriegsminister Kitchener und Schatzkanzler Lloyd George zu beobachten - zur ersten größeren Machtprobe zwischen militärischen und zivilen Führungen im Krieg.

In der gewählten Perspektive meistert Strachan den umfangreichen Stoff und er verzichtet auf flamboyanten Thesenwirbel, wie man ihn etwa von Niall Fergusons „The Pity of War“ (1998) in Erinnerung hat. Der vergleichende Ansatz Strachans erfordert eine entsprechend aufwändige Erarbeitung der nationalen Forschungsliteraturen und auch diese gelingt ganz hervorragend. Für die Forschungen zu den Mittelmächten vermisst man nur wenige Beiträge, und diese zumeist, weil sie wohl erst nach Abschluss des Manuskriptes erschienen sind (etwa Holger Afflerbachs Arbeit zum Dreibund, Günther Kronenbitter zur österreichisch-ungarischen Militärorganisation vor 1914 oder Hans-Ulrich Seidts Biografie zu Oskar von Niedermayer). Es wird deutlich, wie ertragreich gerade auch die ältere und bisweilen nur noch unter ideologiekritischen Gesichtspunkten rezipierte Literatur sein kann - sofern man sich denn im Arkanum militärischer Fachliteratur zu Recht zu finden vermag.

In der Breite der Themenpalette, im Tiefgang der einzelnen Untersuchungen, der sich so natürlich nur in einem mehrbändigen Werk erreichen lässt, und durch seine konsequent vergleichenden Perspektive wird das Buch der momentanen Konjunktur des Themas „Erster Weltkrieg“ nicht nur wichtige Anstöße geben, es wird diese Konjunktur wohl auch überdauern.

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