B. W. Loewenstein: Wir und die anderen

Cover
Titel
Wir und die anderen. Historische und kultursoziologische Betrachtungen


Autor(en)
Loewenstein, Bedř ich W.
Reihe
Mitteleuropa-Studien 2
Erschienen
Anzahl Seiten
436 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans Lemberg, Marburg

Bedřich W. Loewenstein, emeritierter Professor der Freien Universität Berlin, hat eine Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen vorgelegt, die bisher teils verstreut in deutschen oder tschechischen Sammelbänden, Zeitschriften und Festschriften erschienen sind, teils hier erstmals veröffentlicht werden. Dieser Band ist zuvor bereits 1997 auf Tschechisch herausgekommen. Die Übersetzungen – aus dem Deutschen ins Tschechische oder umgekehrt – bereiteten keine Probleme: Der Autor beherrscht beide Sprachen bis in die feinste Nuance. Als Kind deutschsprachiger Eltern hat er die Protektoratszeit in Prag mit knapper Not überlebt und ist nach 1945 in tschechischer Umgebung aufgewachsen.

Unter dem kommunistischen Regime wurde Loewenstein 1951 für vier Jahre vom Studium relegiert; danach doch noch zum Historiker ausgebildet, war er in den 1960er-Jahren wissenschaftlicher Mitarbeiter des Historischen Instituts der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften. Er war dort für deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zuständig, hielt sich als Stipendiat des Mainzer Instituts für Europäische Geschichte auch eine Zeitlang in der Bundesrepublik auf und gehörte zu denjenigen Historikern seines Landes, die sich energisch für eine „Entprovinzialisierung“ der tschechoslowakischen Geschichtswissenschaft und die Wiedergewinnung ihrer internationalen Gesprächsfähigkeit nach einem Jahrzehnt der orthodox marxistisch-leninistischen Abschließung einsetzten. So zeigt er sich auch im vorliegenden Band kaum je als bloßer „Bohemist“ – sein Beobachtungsfeld ist die europäische Geschichte. Wenn schon vom deutsch-tschechischen Verhältnis oder von Vergleichen der beiden Milieus die Rede ist, dann nie in der üblichen zwanghaften Reduktion auf die sudetendeutsch-tschechische Szenerie. Loewenstein, über den wie über viele seiner tschechischen Kollegen 1970 Berufsverbot verhängt wurde, war in den darauf folgenden Jahren als Presse-Dokumentarist in der bundesdeutschen Prager Botschaft tätig, bis er 1979 an die Freie Universität nach Berlin berufen wurde.

Die beiden Fassungen des Sammelbandes unterscheiden sich geringfügig: Die tschechische Version enthält die im Deutschen nicht abgedruckten Texte „Totalitarismus und Moderne“, „Kunst des Friedens“ sowie „Wissenschaftlicher und utopischer Sozialismus“. In der deutschen Ausgabe befinden sich hingegen zusätzlich einige Beiträge, die erst nach dem Erscheinen der tschechischen in Druck gingen oder geschrieben wurden.

„Wir und die anderen“, der Text, der dem Band den Titel gegeben hat, erschließt Mechanismen des menschlichen Zusammenlebens, des Umgangs mit Fremden, der Freund-Feind-Beziehungen bis hin zu ethnischen Konflikten mit der ganzen Breite der methodischen Palette, die Loewenstein zur Verfügung steht: Laut Untertitel des Bandes sind es „Historische und kultursoziologische Betrachtungen“; sie wären aber auch als kulturanthropologisch zu bezeichnen. Es geht dem Autor darum, „zu vergleichen und zu verstehen“ – mit historischer Tiefe und mit Gegenwartsbezug. Aus Überzeugung und aufgrund bitterer Erfahrungen wendet sich Loewenstein gegen das „manichäische“ Wir-Ihr-Denken. Er hat keine Angst vor den Grenzen der Disziplinen: Er ist Historiker wie Philosoph und scheut keine Ausgriffe auf Soziologie und Psychologie, ja Psychoanalyse (in Berlin hat er ein Kolloquium „Geschichte und Psychologie“ gegründet1).

Einen wichtigen Schwerpunkt dieser Sammlung bilden die Themenbereiche Patriotismus, Nationalismus und Historismus. Gerade hier fasziniert die Weite des zeitlichen und räumlichen Horizontes, über den Loewenstein verfügt. Dass er nicht nur im 20. Jahrhundert zu Hause ist, sondern sich ebenso sicher im 19. bewegt, verweist auf einen Kompetenzbereich, den er sich schon mit seinen ersten Arbeiten erobert hatte, nämlich die Geschichte der deutschen nationalen und liberalen Bewegung des frühen 19. Jahrhunderts. Von da aus war er zu seinem Hauptinteressengebiet vorgestoßen, dem Faschismus in Europa, und darüber hinaus zu den Kräften, die die „Zivilisation“ bedrohen. Um sie, anders gesagt um die Bürgergesellschaft oder überhaupt um die Moderne kreisen die Forschungen und das Nachdenken Loewensteins.2 Diese Generalthemen werden auch im vorliegenden Band weiter entwickelt; der erste Beitrag verrät mit seinem sprechenden Titel: „Sapere aude. Die unerträgliche Schwere der Neuzeit“ in seinem aufklärerischen Akzent den Grundansatz des Autors.

Loewenstein urteilt über niemanden und nichts bloß „korrekt“. Die Souveränität seiner Urteile zeigt sich in seiner ausführlichen Diskussion der Thesen von Ernst Nolte. Loewenstein steht – nicht nur hier – ganz auf eigenen Füßen und gehört eigentlich zu keiner „Gruppe“ in seinen beiden Heimaten, weder in Deutschland noch in Tschechien. In diesem Text zum Beispiel hebt sich der Autor deutlich von der einmütigen Schar der Nolte-Kritiker ab, redet aber keineswegs den Apologeten Noltes das Wort. Solch selbstständige Analysen breitet Loewenstein auch für das Werk anderer in diesem Band von ihm behandelter Personen aus (Bernard Bolzano, Golo Mann und vor allem T.G. Masaryk). Gerade der Philosophieprofessor und Gründer-Präsident der Tschechoslowakischen Republik Masaryk, der es auch post mortem schwer hatte, zwischen bodenloser Verteufelung durch Stalinisten und hagiografisch-undifferenzierter Verehrung durch seine Anhänger bis in die nachkommunistische Gegenwart einen angemessenen Platz zu finden, erfährt bei Loewenstein, der bekennt, in Masaryks Gedanken während seiner Jugend einen Richtstern gesehen zu haben, eine kritisch-abgewogene Würdigung.

In mehreren Beiträgen begegnet dem Leser das Nachdenken über Symbole, sei es in einem Beitrag zu dem von Michaela Marek demnächst herausgegebenen großen Sammelband über „Bauen für die Nation“, wo Bauwerke auf Machtsymbolik bzw. Symbolmacht abgeklopft werden, oder in grundsätzlichen „historisch-anthropologischen Überlegungen“ zur Frage, inwiefern der Mensch ein animal symbolicum sei.

Gegen Ende des Bandes finden sich einige Beiträge zum Thema Revolution. Loewenstein spricht hier aus der Erfahrung der Folgen von Revolutionen und Pseudo-Revolutionen und der Auswirkungen der in ihnen zum „Sieg“ gebrachten Ideologien auf die Menschen. Lebenserfahrung mit leicht resignativer Bitterkeit transportiert der Beitrag über den tschechischen Antisemitismus, in dem Loewenstein „mit Fakten am Lack der Legenden kratzt“, es habe einen solchen bei „den“ Tschechen per se nicht gegeben und es gebe ihn auch heute nicht. Nach diesem Text hat man kaum mehr Appetit auf den versöhnlich-heiteren letzten Beitrag über „Geschichte und das Lachen“, also das Witzeerzählen in Diktaturen.

Zwischen den 25 Texten Loewensteins gibt es Berührungen, kaum aber Überschneidungen; jeder enthält einen in sich abgerundeten Gedankengang. An dem Band, der mehr bietet als bloß eine „Auswahl aus Publizistik und wissenschaftlicher Essayistik“ (wie auf dem Deckel angekündigt), fasziniert einerseits der Reim, den sich Loewenstein auf seine Zeit macht (denn bloß historisch ist eigentlich keiner seiner Aufsätze, jeder ist in irgendeiner Weise ad rem und zugleich verankert in den Lebenserfahrungen des Autors). Andererseits vermitteln sich bei der Lektüre Zugänge zu Literatur, die oft genug am Rande des üblichen Fokus der Historiker liegt. Nichts davon aber wird bloß referiert, sondern die Auswahl geht, angeeignet und umverwandelt, in die originären Erkenntnisse und Urteile Loewensteins ein. Selbst die Fußnoten werden zu inspirierender Lektüre. Sie wird ergänzt durch zwei angehängte Laudationes von Bernd Ulrich und Vilém Prečan, die den „Grenzüberschreiter und Vermittler“ Loewenstein würdigen.3 Der vorliegende Band könnte also Gelegenheit geben, den höchst anregenden Überlegungen und Analysen Loewensteins über die Gemeinde seiner akademischen Schüler, Freunde und Stammleser hinaus breitere Bekanntheit zu verschaffen.

Anmerkungen:
1 Loewenstein, Bedřich (Hg.), Annäherungen. Geschichte und Psychologie, Pfaffenweiler 1992.
2 Eine Auswahl: Loewenstein, Bedřich, Středověk dvacátého století [Das Mittelalter des zwanzigsten Jahrhunderts. Einige Überlegungen zum Faschismen und seine Voraussetzungen], Praha 1970; Ders., Plädoyer für die Zivilisation, Hamburg 1973; Ders., Der Entwurf der Moderne. Vom Geist der bürgerlichen Gesellschaft, Essen 1987, Darmstadt 1990; Ders., Problemfelder der Moderne: Elemente politischer Kultur, Darmstadt 1990.
3 Siehe auch Prečan, Vilém u.a. (Hgg.), Grenzüberschreitungen oder der Vermittler Bedřich Loewenstein. Festschrift zum 70. Geburstag eines europäischen Historikers/Překračování hranic aneb zprostředkovatel Bedřich Loewenstein. Jubilejní spis k 70. narozeninám evropského historika, Praha 1999.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch