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Titel
Kriegskinder. Das Schicksal einer Generation


Autor(en)
Lorenz, Hilke
Erschienen
München 2003: List Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 21,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard E. Sollbach, Historisches Institut, Universität Dortmund

Auch Kinder sind Kriegsopfer. Auf diesen in der großen Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg, in der vor allem der militärische Aspekt dominiert, zumeist kaum beachtenden Sachverhalt macht das hier zu besprechende Werk eindrucksvoll aufmerksam. Schätzungsweise 74.000 Kinder kamen während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland allein bei Bombenangriffen ums Leben. Als bloße Objekte des politisch-militärischen Handelns höherer Gewalten, Mächte und Autoritäten sind Kinder dem Kriegsgeschehen ohnmächtig ausgeliefert. Sie gehören somit an erster Stelle zu den schuldlosen Kriegsopfern. Doch Kinder sind nicht nur Kriegsopfer im rein physischen Sinn, indem sie Tod und körperlichen Schmerz erleiden. Vor allem für den Zweiten Weltkrieg, in dem erstmals der den modernen Krieg kennzeichnende massive Einsatz der Luftwaffe in Form des strategischen Luftkriegs auch und gerade gegen die feindliche Zivilbevölkerung praktiziert wurde, trifft zu, dass in einem quantitativ und auch zeitmäßig viel größeren Ausmaß Kinder in psychischer Hinsicht Kriegsopfer geworden sind. Doch hat es lange Zeit gedauert, bis das Thema „Krieg und Kindheit“ auf breitere Aufmerksamkeit in Kreisen der Wissenschaft und der Öffentlichkeit stieß. Tatsächlich nimmt aber seit nunmehr gut zwei Jahrzehnten auch das allgemeine Interesse an der Frage zu, welchen Einfluss Kriegsereignisse auf den Verlauf der Kindheit und des späteren Erwachsenenlebens der Kindergeneration im Zweiten Weltkrieg haben bzw. hatten. Auf fachwissenschaftlichem Gebiet haben einschlägige Untersuchungen insbesondere des Arztes, Psychiaters und Psychotherapeuten Peter Heinl sowie des – inzwischen emeritierten – Professors für klinische Psychologie und Altersforschung, Hartmut Radebold, das Phänomen der Kriegs- bzw. Nachkriegstraumatisierungen und ihrer (Spät-) Folgen aufgezeigt und in das öffentliche Bewusstsein gebracht. 1

Diese breitgefächerten Traumatisierungen resultieren vor allem aus dem kriegsbedingten langfristigen bzw. dauerhaften Verlust des Vaters, der monate- oder gar jahrelangen Trennung von der Familie, den Schrecken des Krieges wie dem Erleben von Bombenangriffen und des Verlustes des Zuhauses, von Flucht und Vertreibung, von Hunger und Mangel auch am Lebensnotwendigsten. Zu den – langfristig wirkenden – psychischen Folgen früher Kriegstraumatisierungen zählen nach den einschlägigen Untersuchungsbefunden u.a. ein Sich-Allein-, Verlassen- und Verlorenfühlen, Empfindungen der Hoffnungs- und Sinnlosigkeit sowie der Verzweiflung, der Fremdheit und eine ruhelose Suche nach der eigenen Identität, eine unstillbare Sehnsucht nach Ruhe und Geborgenheit, häufige Träume bzw. Alpträume und Angstgefühle. Es ist der Vorzug des Buchs von Hilke Lorenz, dass in den darin geschilderten individuellen Kriegsschicksalen von 26 damaligen Kindern diese Dimension der psychischen Kriegsbeschädigung mit aufgenommen ist. Letztere führen sachlich wie auch zeitlich über die beschreibende Wiedergabe des individuell erlebten Kriegsgeschehens hinaus, das abgesehen von der Individualität als solches schon oft und auch autobiografisch geschildert worden ist. Alle von Hilke Lorenz hierfür ausgewählten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die inzwischen sämtlich das Rentenalter erreicht haben oder kurz davor stehen, leiden nämlich an psychischen Spätfolgen ihrer Kriegszeittraumen. Als wohltuend empfindet es der Rezensent hierbei aber, dass der sich sachlogisch aus der Schilderung des jeweiligen Kriegsschicksals der betreffenden Person und ihren speziellen psychischen Problemen im Erwachsenenalter ergebende Kausalzusammenhang nur taktvoll-behutsam von Hilke Lorenz angesprochen wird und sie hier im Wesentlichen die Fakten für sich sprechen lässt.

Umfangmäßig überwiegt in dem Buch jedoch die Schilderungen der eigentlichen Kriegserlebnisse der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Einen besonders breiten Raum nimmt dabei sachbedingt und zu Recht der Luftkrieg ein. Tatsächlich ist die deutsche Zivilbevölkerung durch den mit Erlass der Direktive vom 14.2.1942 für die britische Bomberflotte, nach der zukünftig (Flächen-)Bombardierungen vorwiegend gegen die (Wohn-)Zentren der deutschen Städte zu führen waren und ein Hauptziel des Luftkriegs die Untergrabung der (Kriegs-)Moral der deutschen Zivilbevölkerung bildete, in einem bisher in der Geschichte noch nie da gewesenen Ausmaß von dem Kriegsgeschehen direkt betroffen worden. Die hier gebrachten Wiedergaben von persönlichen Erlebnissen des Bombenkriegs – das ängstliche Hasten der Menschen bei Alarm in den Keller oder Luftschutzbunker, das angespannte bis hysterische Verharren der Schutzsuchenden und der schreckliche Anblick der angerichteten Zerstörungen und des verursachten menschlichen Leids – bieten im Wesentlichen nichts Neues. Neu und damit von informativem Wert ist, wie bereits erwähnt, die zeitliche wie sachliche Erweiterung über das eigentliche Kriegsgeschehen hinaus in Bezug auf die psychischen Langzeitfolgen des als Kriegstrauma nachwirkenden Luftangriff-Erlebnisses. Als Beispiel sei hier der Fall einer Frau angeführt, die als 7-Jährige nach dem verheerenden Großangriff auf Bad Heilbronn am 7.12.1944 durch eine Straße mit zu beiden Seiten lichterloh brennenden Häusern flüchten musste. Bis heute steht ihr, wenn sie den Geruch von verkohltem Holz verspürt, sofort das damalige Flammenmeer wieder vor Augen. Auch ängstigen sie der Anblick und die Detonationen eines Feuerwerks.

Weitere Themenkomplexe der kindlichen Kriegserlebnisse sind das Abschiednehmen insbesondere von dem zur Wehrmacht eingezogenen Vater, der Tod des Vaters an der Front, die (erweiterte) Kinderlandverschickung, Flucht und Vertreibung aus der Heimat, das Verlorengehen im Chaos der Völkerwanderung bei Kriegsende und das – nicht selten – problematische Wiederzusammenfinden der Familie, das Leben ohne Vater (die physische wie auch emotionale Vaterlosigkeit) und die Schwierigkeiten des Neuanfangs nach Kriegsende. Die hier zusammengetragenen Einzelschicksale von Kriegskindern machen gerade auf Grund ihres individuell-menschlichen Charakters deutlich fassbar, dass Krieg nicht mit dem endgültigen Einstellen jeglicher Kampfhandlungen aufhört, sondern Auswirkungen hat, die lange über das Kriegsende hinauswirken. Dadurch, dass die psychologischen Langzeiteffekte von Kriegstraumen in der hier vorliegenden Sammlung von entsprechend ausgewählten Kriegserlebnissen von Kindern im Zweiten Weltkrieg mit aufgenommen wurden, wird eindringlich auf eine bisher gerade in der historischen Kriegsliteratur zu wenig beachtete Dimension des Kriegsgeschehens aufmerksam gemacht. Kinder werden, das zeigen die hier wiedergegebenen Biografien sehr anschaulich, durch die kriegsverursachten psychischen Schäden der Entwicklungsvoraussetzungen beraubt, derer sie für eine normal-kindliche Entwicklung bedürfen, um das leben zu können, was und wie sie sind. Eine solche Beraubung kommt praktisch aber einer lebenslangen Bestrafung gleich, ohne dass die Kinder irgendeine Schuld trifft.

Kritisch muss aus fachhistorischer Sicht aber angemerkt werden, was jedoch nicht als Wertung, sondern als rein sachliche Feststellung gemeint ist, dass dieses Buch im streng-formalen Sinn kein wissenschaftliches Werk ist. Diese Aussage bezieht sich weniger auf das gänzliche Fehlen von einer Überprüfbarkeit der gebotenen Ausführungen ermöglichenden Fußnoten mit Quellennachweisen. Ein solcher Mangel kann auf Grund der Tatsache, dass der Text überwiegend auf Zeitzeugenaussagen basiert, als hingängig akzeptiert werden. Die Kritik bezieht sich vor allem auf die nicht deutliche bzw. erkennbare Trennung von der (indirekten) Wiedergabe von Zeitzeugenäußerungen bzw. der sich darauf stützende Ausführungen und den von Hilke Lorenz selbst stammenden – ausschmückenden - Zutaten. So wird z.B. im Fall eines Jungen, der einen im Garten gelandeten Bomben-Blindgänger fortschleppt, um ihn an einer geeigneten Stelle zur Explosion zu bringen, ausgeführt, dass der Junge hierbei über die Macht des Todesgeräts triumphierte, das bisher sein Leben kontrollierte und nun die Verhältnisse umgekehrt waren.

Unklar bleibt, ob hier mitgeteilte damalige Empfindungen oder nachträgliche Gedanken des Zeitzeugen wiedergegeben werden, oder ob es sich etwa um eine Interpretation bzw. eine eigenständige Ergänzung von Hilke Lorenz handelt. In einem anderen Bericht über einen Luftangriff, den ein Junge 1944 in Darmstadt erlebte, heißt es u.a. (S. 110): „Draußen auf den Straßen lagen andere Tote, die er gar nicht sofort als Leichen erkannte. Eher wirkten sie wie verkohlte Baumstämme.“ Der Vergleich von Brandleichen mit verkohlten Baumstämmen ist zwar sehr anschaulich und eingängig. Doch auch hier möchte der kritische Leser wissen, ob dies eine (damalige) Wahrnehmung des Zeitzeugen wiedergibt, oder ob es sich dabei um eine eigene veranschaulichende Zutat von Hilke Lorenz handelt.

Noch bedenklicher sind jedoch solche Fälle wie derjenige in der Geschichte eines kleinen Jungen, dessen Vater Ende August eingezogen wird. Hier wird ausgeführt, dass dem Vater auf dem Weg zur Sammelstelle Erinnerungen an seine Soldatenzeit im Ersten Weltkrieg durch den Kopf gingen, von denen er, wie es ausdrücklich im Text heißt, „seinem Sohn nie erzählt hatte“ (S. 38). Bei dieser Passsage kann es sich daher wohl nur um ein – empathisch gewonnenes? – Produkt der Phantasie von Hilke Lorenz handeln, wogegen an sich nichts einzuwenden wäre, wenn dies auch als solches deutlich kenntlich gemacht würde. Überhaupt kommen die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nur sehr selten und dann auch nur äußerst sparsam selbst zu Wort - andernfalls wäre aber wohl auch nicht ein sprachlich und stilistisch so ausgereiftes Werk zustande gekommen. Lässt man jedoch die erwähnten strengen fachkritischen bzw. wissenschaftlichen Maßstäbe außer Acht, vermittelt dieses gut lesbare Buch ein ausgesprochen anschauliches und einprägendes Bild von der facettenreichen Realität des Kriegsgeschehens im Zweiten Weltkrieg, so wie es Kinder erlebten, sowie von den „Kriegsbeschädigungen“, die viele davon mit in ihr späteres Leben nahmen.

Anmerkung:
1 S. z.B. Heinl, Peter, „Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg...“ Seelische Wunden aus der Kriegskindheit, München 2003; Radebold, Hartmut, Abwesende Väter. Folgen der Kriegskindheit in Psychoanalysen, Göttingen 2000, sowie die jüngst abgehaltenen Tagungen „Kriegskinder gestern und heute“ in der Ev. Akademie Bad Boll (17.-19.4.2000 (Dokumentation Nr. 12/2000) und das Symposium „Kriegsbeschädigte Kindheit (1932-35 und 1945-48): Folgen und offene Fragen“ an der Universität Kassel (6.-7.12.2002 ( die dort gehaltenen Vorträge sind abgedr. in: psychosozial, 26. Jg., Nr. 92 (2003), H. II, S. 9-101); außerdem gibt es inzwischen die Internet–Seiten www.kriegskinder.de und www.weltkrieg2kindheiten.de.

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