C. Frugoni: Das Mittelalter auf der Nase

Cover
Titel
Das Mittelalter auf der Nase. Brillen, Bücher, Bankgeschäfte und andere Erfindungen des Mittelalters


Autor(en)
Frugoni, Chiara
Erschienen
München 2003: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
200 S., Abb.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Hartmann, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Schon der Titel des Buches macht auf amüsante Weise deutlich, um was es der Autorin geht: Das deutsche Wort „Brille“ leitet sich ab von dem Halbedelstein Beryll, aus dem man im Mittelalter die ersten Brillen schliff, und so sind wir uns sowohl bei der Brille wie bei vielen Gegenständen, Gebräuchen und Institutionen wohl nur sehr selten der Tatsache bewusst, dass sie dem Mittelalter entstammen. Wer denkt schon daran, dass das „Girokonto“ und der „Bankrott“ Erfindungen der oberitalienischen Kaufleute des 12. Jahrhunderts sind. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, möchte die Autorin, Professorin für Mittelalter an den Universitäten Rom und Pisa, einen „bunten Strauß“ mittelalterlicher Erfindungen und Entdeckungen präsentieren, als Hommage an die Epoche, die sie vertritt.

Ihr Buch hat sie in sechs Kapitel aufgeteilt. Im ersten (Lesen und Rechnen, S. 9-78) wird nicht nur mithilfe zahlreicher Abbildungen aus dem Spätmittelalter die Brille als mittelalterliche Erfindung präsentiert, sondern dieses Unterkapitel weitet sich anhand vieler Bilder aus zur „Bestandsaufnahme“, wie das Studierzimmer eines mittelalterlichen Gelehrten aussah und womit es bestückt war - denn die Gelehrten waren es, die Brillen nötig hatten, einst und heute; dann folgen Ausführungen zur mittelalterlichen Universität und zur Erfindung und Herstellung von Buch und Papier. Zum Stichwort „Rechnen“ gibt es Ausführungen zur arabischen Ziffer „Null“, zum Bankwesen und zu unserer Zeitrechnung nach Christi Geburt, die ebenfalls eine Erfindung des Mittelalters von großer Tragweite war. Im 2. Kapitel „Buntes Allerlei“ (S. 79-114) geht es um Spielkarten, das Schachspiel, den Karneval und die Erfindung der Räderuhr sowie die Anziehungskraft von Korallen im Mittelalter. Den mittelalterlichen Erfindungen zum Thema Bekleidung ist das 3. Kapitel (S. 115-128) gewidmet, während Kapitel 4 sich unter der Überschrift „Die Entdeckung der Gabel“ (S. 129-142) nicht nur mit dieser, sondern auch mit der Erfindung der Makkaroni und der Mühle beschäftigt. (Hier hat man den Eindruck, dass es für eine italienische Mediävistin „Ehrensache“ ist, dass die Pasta in Italien im Mittelalter erfunden worden sein muss, denn ganz so eindeutig sind die Belege nicht, wenn man diese Passage genau liest.) Das 5. Kapitel „Zur Kriegführung“ (S. 143-154) behandelt die Erfindung der Lanze, der Kriegsfahnen, des Schießpulvers und das Pferd, das allerdings auch in seiner Bedeutung als Zugtier nach Erfindung des Kummets gewertet wird. Kapitel 6 (Zu Land und zu Wasser, S. 155-159) erfasst verschiedenartige „Erfindungen“ wie die Schubkarre, den Kompass und den Nikolaus.

Wie geht die Autorin nun vor? Chiara Frugoni stellt die mittelalterlichen Entdeckungen und Erfindungen vor anhand von zeitgenössischen Fresken, Handschriftenillustrationen und Skulpturen, kombiniert mit überwiegend literarischen Texten, aus denen einschlägige Passagen zitiert werden. Es ist erstaunlich, welche Fülle von Bildern aus dem Mittelalter Menschen mit einer Brille darstellen oder Professoren und Studenten an einer Universität. Diese Bilder sind in geradezu verschwenderischer Weise und hervorragender Qualität über das ganze Buch verteilt - insgesamt 100 Abbildungen, 91 davon farbig. Sie sind die Hauptträger der Aussagen und sie wirken, zumal für ein breiteres Publikum, an das sich dieses Buch zuallererst wendet, vermutlich sehr viel überzeugender als wenn die Autorin mehr nichtliterarische Quellen oder gar Forschungsliteratur als Belege geboten hätte. Die Quellen, die Frugoni zitiert, stammen zeitlich überwiegend aus dem Spätmittelalter und regional hauptsächlich aus der Toskana: es sind vor allem Giovanni Boccacios Decamerone, Predigten Bernhardins von Siena und die Renaissance-Novellen Franco Sacchettis.

Der Anmerkungsapparat steht am Schluss des Bandes zusammen mit dem Quellen- und Literaturverzeichnis. Die Abbildungen sind eine gelungene Mischung von eher unbekannten Gemälden, Fresken, Buchilluminationen und Skulpturen sowie bekannten, aber immer überzeugt der scharfe Blick der Autorin für das Detail, sei es auch noch so klein. Sachquellen wurden eher selten miteinbezogen, lediglich bei den Räderuhren, dem Schachspiel und den Gabeln. So fehlen die in den 1950er-Jahren im Heidekloster Wienhausen gefundenen Nietbrillen des 14. Jahrhunderts, die die Ausführungen von Frugoni gut ergänzt hätten. Hier wie an anderen Stellen des Buches zeigt sich die starke Fixierung der Autorin auf Italien, auch bei der benutzten Literatur - so fehlen beispielsweise die Arbeiten von Arno Borst zum Thema Zeit und Zeitmessung. Verzichtet hat sie auch auf allzu lange Ausführungen: Die Erfindung der Zeitrechnung nach Christi Geburt wird beispielsweise auf einer einzigen Seite abgehandelt. Man hätte also das Thema, das Frugoni behandelt, ganz anders und viel umfassender abhandeln können, aber ob dies besser und überzeugender gewesen wäre, zumal für ein breiteres Publikum, bleibt dahingestellt. Das schwer genießbare Nachwort zum Buch von Norbert H. Ott, „Mit Bildern argumentieren“ (S. 160-168) zeigt nämlich gewissermaßen als Kontrast sehr treffend, wie schwer diese scheinbare Leichtigkeit des Schreibens solch allgemein-verständlicher Bücher mit wissenschaftlichem Anspruch ist.

Darüber hinaus hätte gerade dieses Buch von Chiara Frugoni ein solches Nachwort nicht gebraucht und hat es nicht verdient, auf diese Weise abgeschlossen zu werden; dafür nur ein Satz aus dem Nachwort von Ott als Kostprobe: „Über die auf der Grundlage einer mathematisch codierten Matrix technisch vermittelte Audiovisualität der Turing-Galaxis werden Bilder und Schriften, Noten und Zahlen zu Ikonotexten verknüpft, zu höchst komplexen multimedialen Kombinationen - ein Zugang zur Welt, der als alleinige Errungenschaft der elektronischen Medienkultur der Gegenwart gilt [...]“ (S. 161).

Die Übersetzung aus dem Italienischen von Verena Listl liest sich an und für sich sehr flüssig, sie lässt nur an manchen Stellen erkennen, dass offenbar kein Mediävist vor der Drucklegung den übersetzten Text durchgesehen hat, denn das italienische Wort „egira“ beispielsweise wird im deutschen mit „Hedschra“ (= Flucht Mohammeds von Mekka nach Medina, 622) übersetzt, wie man im Proseminar lernt, ist aber in der Übersetzung einfach italienisch belassen worden (S. 178 Anm. 98).

Doch am Schluss dieser Besprechung sollen nicht Marginalien stehen, die die Autorin nicht zu verantworten hat: Chiara Frugoni ist ein unterhaltsames Buch gelungen, das mit Schwung und Sinn für amüsante Quellen geschrieben ist, und von einer großen Kenntnis der Autorin in der bildenden Kunst des Mittelalters zeugt. Dem Beck Verlag ist zu danken, dass er die aufwändige Drucklegung auf sich genommen hat und die Bilder in sehr guter Qualität wiedergegeben werden, darüber hinaus wird das Buch zu einem angesichts des Gebotenen moderaten Preis angeboten. So wird das im Vorwort formulierte Anliegen der Autorin, „die Schönheit der mittelalterlichen Bilder und Quellen“ werde „ihre Wirkung auch beim Leser nicht verfehlen“, sicher Erfüllung finden; die Hommage an das Mittelalter ist ihr jedenfalls gelungen.

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