Flucht, Vertreibung, Integration

Flucht, Vertreibung, Integration

Veranstalter
Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (http://www.hdg.de) (12309)
rda_hostInstitution_reex
12309
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.12.2005 - 17.04.2006

Publikation(en)

Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Flucht, Vertreibung, Integration. . Bielefeld 2005 : Kerber Verlag, ISBN 3-938025-51-4 210 S. € 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Voßkamp, Essen

„Beifall, der von Erleichterung zeugt“ – so fasste die Neue Zürcher Zeitung Reaktionen deutscher Medien zur Ausstellungseröffnung Anfang Dezember 2005 zusammen, um gleich darauf zu fragen: „Ja, was hatte man denn befürchtet? [...] Recht geheuer scheinen die Deutschen sich selbst und dem Ausland noch immer nicht zu sein, sonst gälte das Schulterklopfen für die Ausstellungsmacher nicht so sehr der geschichtspolitischen Korrektheit.“1

Eine „geschichtspolitische Botschaft“ der Ausstellung hatte der Projektleiter Hans-Joachim Westholt auf der Pressekonferenz des Eröffnungstages entschieden verneint. Bei einem Rundgang durch die Ausstellung kristallisieren sich aber zumindest zwei geschichtspolitische Aussagen heraus: Zum einen wird der Ereigniskomplex Vertreibung mit seiner Vorgeschichte und mit der aktuellen Diskussion kontextualisiert – eine Engführung auf die Perspektive der Vertriebenenverbände soll mit diesem Ansatz vermieden werden. Zum anderen liegt ein deutlicher Schwerpunkt auf dem Integrationsprozess, der weniger als Problem-, sondern als bundesrepublikanische Erfolgsgeschichte präsentiert wird. Die Umsiedlerpolitik und die Situation von Flüchtlingen und Vertriebenen in der DDR spielen dagegen eine vergleichsweise marginale Rolle.

Auf die Gliederung der Ausstellung in acht Bereiche nimmt die Struktur des Begleitbuches zur Ausstellung nicht direkt Bezug. Der Band bietet dem Besucher eher eine vertiefende Lektüre nach dem Gang durch die Ausstellung. Daher werden Ausstellung und Begleitband im Folgenden nacheinander vorgestellt.

Der erste Ausstellungsbereich umfasst Beispiele zu Zwangsmigrationen von Griechen, Türken und Armeniern am Beginn des 20. Jahrhunderts sowie die Umsiedlungsmaßnahmen unter dem NS-Regime. Ein daran anschließender, dunkel gehaltener Durchgang mit Fotos und Dokumenten symbolisiert das Grauen unter deutscher Besatzungsherrschaft. Etwas irritierend wirken an dieser Stelle die akustischen Reize aus dem folgenden Bereich „Flucht und Vertreibung“, in dem unter anderem Ton- und Filmdokumente eingesetzt werden. Ein aus Originalteilen nachgebautes Durchgangslager leitet den Besucher in den nächsten Abschnitt der Ausstellung, der sich mit der Integrationsgeschichte in sozialstruktureller, politischer und organisatorischer Hinsicht beschäftigt.

Die Ausstellung präsentiert aber nicht nur Geschichte, sondern auch Geschichten: An verschiedenen Stationen ergänzen gefilmte und thematisch strukturierte Zeitzeugeninterviews die Präsentation. Darüber hinaus sind am Beginn „Lebenswege“-Karten erhältlich, die in Lesegeräte eingeführt werden können und so dem Besucher ermöglichen, einzelne Biografien durch die Ausstellung zu verfolgen. Der Eindruck von Authentizität wird hier allerdings dadurch gemindert, dass im Gegensatz zu den gefilmten Befragungen die Ergebnisse der Interviews nicht als Originalzitate, sondern als aufbereitete Erzählungen präsentiert werden.

Beeindruckend ist die Fülle an Quellenmaterial unterschiedlichster Provenienz, die von Organisatoren und Mitarbeitern der Ausstellung zusammengetragen wurde und dicht präsentiert wird: Fotos, Filmausschnitte, Tondokumente, Karten, Aktenmaterial, Gegenstände, Bücher, Karikaturen, Plakate und vieles mehr. Das birgt Chancen und Risiken zugleich. Die Chance liegt darin, die Besucher auf verschiedenen Wahrnehmungsfeldern ansprechen zu können und unterschiedliche Vorkenntnisse zu bedienen. Ein Risiko liegt in der Gefahr der Überfrachtung und der geringen Kontextualisierung durch ergänzende Tafeln, die inhaltlich sehr knapp gehalten sind. (Kritisch anzumerken ist hier auch, dass abgesehen von Tafelüberschriften keine englischen Übersetzungen vorhanden sind.)

Die Ausstellungsarchitektur bietet den Besuchern wenig Orientierungshilfen und wirkt recht unübersichtlich. Es mag sein, dass die Gestaltung die Komplexität des Themas versinnbildlichen soll, doch wären klarere Strukturen und Leitlinien zu wünschen gewesen, da die Material- und Informationsfülle die Besucher ohnehin vor eine Herausforderung stellt. Dies bestätigen auch einige Einträge im Besucherbuch, in denen Unübersichtlichkeit als Hauptkritikpunkt vermerkt wird.

Umfassend positiv – auch wenn nicht jeder Leser allen Bewertungen der Beiträge folgen mag – ist dagegen das Begleitbuch der Ausstellung zu würdigen, das insgesamt 19 Beiträge in fünf Kapiteln umfasst. Allen AutorInnen ist gemeinsam, dass sie ihre Inhalte wissenschaftlich fundiert und gleichzeitig verständlich präsentieren. Nach einer Einleitung von Hermann Schäfer, bis vor kurzem Präsident des Hauses der Geschichte, erläutert Michael von Engelhardt die Ergebnisse der oben erwähnten narrativen Zeitzeugeninterviews und ihre Verwendung für die Lebenswegestationen der Ausstellung. Unterschiedliche Herkunftsgebiete sowie generationelle und geschlechtsspezifische Faktoren lassen ein differenziertes Bild der biografischen Prägungen durch den Einschnitt von Flucht und Vertreibung entstehen.

Das Kapitel „Vorgeschichte“ leitet K. Erik Franzen mit einem Überblick zu Zwangsmigrationen vor dem Zweiten Weltkrieg ein. Die Wirkmächtigkeit des Prinzips der nationalen Homogenisierung zeigt Franzen anhand der Bevölkerungsverschiebungen und Verfolgungen von Minderheiten im Kontext des Ersten Weltkriegs, des Genozids an den Armeniern sowie an der Entstehung neuer und der Persistenz alter Nationalitätenkonflikte in der Neuordnung Europas. Johannes Hürter setzt sich mit der „Volkstumspolitik“ des nationalsozialistischen Besatzungsregimes in Osteuropa auseinander und weist im Zusammenhang mit der angestrebten „Endlösung der Tschechenfrage“ im Protektoratsgebiet darauf hin, dass „nur die deutsche Niederlage den 7,5 Millionen Tschechen den Weg zwischen der Skylla der Zwangsgermanisierung und der Charybdis der Zwangsumsiedlung“ ersparte (S. 40).

Das Kapitel „Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkrieges“ umfasst zunächst drei Beiträge, die sich mit der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Polen (Piotr Madajczyk), aus der Tschechoslowakei (Detlef Brandes) und den Migrationen in Südosteuropa (Konrad Gündisch) beschäftigen. In einem vierten Beitrag analysiert Wolfram Eggeling die literarische Repräsentation der Bevölkerungstransfers von Griechen und Türken Anfang der 1920er-Jahre sowie der Deportation der Armenier 1915. Im Anschluss vergleicht Eggeling die literarischen Figuren und Bilder mit dem Spektrum an Romanen zur deutschen Vertreibungserfahrung.

Im folgenden Kapitel „Ankunft und Integration“ finden sich sechs Beiträge, von denen die ersten beiden die Situation der „Umsiedler“ in der DDR thematisieren: Michael Schwartz stellt Soforthilfepolitik und Assimilationsdruck der SED auf die geschätzten 4,1 Millionen Vertriebenen in der SBZ/DDR dar. Schwartz dekonstruiert den Mythos der Bodenreform, von der nur ein Bruchteil der Vertriebenen profitierte. Größte Bedeutung für die soziale Integration hatte nach Schwartz dagegen der „in den 1950er Jahren erfolgte Einstieg vieler Vertriebener in die Arbeiter- und Angestelltenschaft des industriellen Sektors sowie des ausufernden Verwaltungsbereichs im SED-Staat“ (S. 95). Repressionspolitik und Tabuisierung der Flüchtlingsidentität wurden in der DDR-Literatur aufgegriffen. Schriftsteller unterliefen damit auch die sprachpolitischen Assimilierungsversuche der SED, wie Petra Wohlfahrt an Heiner Müllers Werk „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ und zahlreichen weiteren Beispielen zeigt.

Mathias Beer skizziert die Migrationsbewegungen nach Westdeutschland, dadurch entstehende Konfliktfelder sowie administrative und politische Lösungsstrategien. Beer beschreibt die Eingliederung im Westen als beispiellose Leistung, warnt aber davor, den Prozess als „Integrationswunder“ zu glorifizieren: Das Gegeneinander der „Konfliktgemeinschaft“ der Nachkriegszeit sei erst allmählich zu einem Neben- und Miteinander geworden (S. 123). Im westdeutschen Nachkriegsfilm fand die konfliktive Ebene nur in Ausnahmen wie „Mamitschka“ (1955) Berücksichtigung – Filme, die beim Publikum aber durchfielen. Dagegen florierten Heimatfilme, die Vertriebenen die Rolle meist dankbarer und klagloser Randfiguren zuwiesen und ihnen damit, so Hanno Sowade, eine systemstabilisierende Funktion im westdeutschen Nachkriegsfilm übertrugen (S. 128).

Ulrich von Hehl beschäftigt sich mit der integrativen Funktion der beiden christlichen Kirchen. Alteritätserfahrungen und Reibungsflächen traten freilich auch auf religiösem Gebiet zutage, wo unterschiedliche Frömmigkeitsformen und die Verschiebung konfessioneller Verhältnisse die Kluft zwischen Einheimischen und Flüchtlingen zusätzlich zementierten. Matthias Stickler stellt die Organisationsgeschichte der Vertriebenenverbände und ihrer maßgeblichen Akteure dar, die sich als „nationale Avantgarde“ verstanden (S. 146). Die wechselhafte Erfolgs- und Verfallsgeschichte zeichnet Stickler bis zur Interessenverlagerung seit der Übernahme des BdV-Vorsitzes durch Erika Steinbach nach. Damit stellt Sticklers Beitrag auch die Überleitung zum letzten Kapitel her: „Zeitgenössische Diskussion“. Es ist ein Verdienst der Ausstellungsplaner und Herausgeber des Begleitbandes, dass der aktuelle Diskurs so breit reflektiert wird.

Thomas Urban gibt Einblicke in die polnische Perspektive auf das Thema Vertreibung – von der staatlich gelenkten Geschichtspolitik bis zu den Vertreibungsdebatten nach 1989. Während Mitte der 1990er-Jahre die Aufarbeitung des tabuisierten Schicksals der Deutschen in den Fokus rückte und dies eine Fülle wissenschaftlicher und publizistischer Reaktionen erzeugte, zeichnet sich die zweite Debatte seit 2002 durch gereizte Reflexe der Publizistik auf das Projekt „Zentrum gegen Vertreibungen“ und den innerdeutschen Opferdiskurs aus. Im tschechisch-deutschen Verhältnis gingen Versöhnungsgesten von Václav Havel bald unter im Konflikt um die Beneš-Dekrete zwischen sudetendeutscher Landsmannschaft, der bayerischen Landesregierung und der Tschechischen Republik. Thomas Speckmann greift die Rezeption dieser Konfliktfelder in den Medien auf, wobei die „massenmediale Erinnerungsoffensive“ (S. 177) seit den ersten großen TV-Dokumentationen des Jahres 2001 einen Schwerpunkt bildet.

Alfred de Zayas diskutiert die völkerrechtliche Dimension – die Frage völkerrechtlich bindender Vertreibungsverbote und des Minderheitenschutzes seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Im letzten Beitrag des Bandes gelangt Bernd Faulenbach zu dem Schluss, dass die Vertreibung der Deutschen als europäisches Problem zu behandeln und auch europäisch aufzuarbeiten sei: „Wir brauchen ein europäisches Gedächtnis, in dem sehr verschiedene Erfahrungen aufgehoben sind.“ (S. 195)

Die Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“ ist noch bis zum 17. April 2006 im Bonner Haus der Geschichte zu sehen, von Mai bis August im Deutschen Historischen Museum in Berlin und von Dezember 2006 bis April 2007 im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig.

Anmerkung:
1 Güntner, Joachim, Annäherungen an ein heikles Thema, in: Neue Zürcher Zeitung, 16.12.2005. – Vgl. z.B. Kellerhoff, Sven Felix, Fremde deutsche Heimat, in: Welt, 3.12.2005; Augstein, Franziska, Auf dem Leiterwagen, in: Süddeutsche Zeitung, 3.12.2005; Tilmann, Christina, Geschichte vom Schlüsselbund, in: Tagesspiegel, 4.12.2005; Jeismann, Michael, Tränen sind nicht aus Blei, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.12.2005; Kohler, Michael, Kein deutscher Sonderweg, in: Frankfurter Rundschau, 6.12.2005; Lau, Jörg, Ein deutscher Abschied, in: ZEIT, 8.12.2005; Feddersen, Jan, Die kalte Heimat, in: taz, 10.12.2005.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch