Chr. Hilger: Rechtsstaatsbegriffe im Dritten Reich

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Titel
Rechtsstaatsbegriffe im Dritten Reich. Eine Strukturanalyse


Autor(en)
Hilger, Christian
Reihe
Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 39
Erschienen
Tübingen 2003: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XIV, 249 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lothar Becker, Amt des Oberbürgermeisters, Stadt Köln

„Trotz allem wird es in Deutschland beim Rechtsstaat bleiben. Ein Volk, das die Erzählung vom Michael Kohlhaas ersann, das die Rütliszene schuf, das die Antwort des Müllers von Sanssouci von Geschlecht zu Geschlecht überlieferte, das die richterliche Unabhängigkeit durch ein Martyrium erzwang, lässt sich sein Ideal weder durch ausländische Einflüsse noch durch vorübergehende Staatsnotwendigkeiten rauben“.1

Der Verwaltungsrechtler Walter Jellinek glaubte 1931 den Abbau der Rechtsstaatlichkeit während des Ersten Weltkriegs überwunden und sah optimistisch in die Zukunft. Tatsächlich ist auch heute die Rechtsstaatlichkeit einer der Grundpfeiler des Grundgesetzes. Ende des 18. Jahrhunderts erstmals verwandt wird der Begriff durch die Vertreter des Frühliberalismus etabliert.2 Die ursprüngliche materielle, programmatische Forderung nach Gewährung von Menschenrechten, Gewaltenteilung und unabhängiger Justiz wurde im weiteren Verlauf des Jahrhunderts auf ein formales Begriffsverständnis reduziert. Unter dem beherrschenden Einfluss des Positivismus erhält der vordem verfassungspolitische Begriff nunmehr eine dogmatische Prägung als Ordnungsgrundsatz für das Verhältnis zwischen Gesetz, Verwaltung und Bürger: Die Verwaltung wird an Recht und Gesetz gebunden. Sie darf nur dann in die Freiheitsrechte des Individuums eingreifen, wenn der Gesetzgeber hierfür eine gesetzliche Grundlage geschaffen hat und die Verwaltung bei ihrem Handeln nicht gegen ein Gesetz verstößt. Überwacht wird dies durch eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit.3

Das Rechtsstaatsverständnis des Grundgesetzes geht über dieses formale Verständnis hinaus. Als umfassende Pflicht zur Sicherung der Freiheit des Einzelnen und zur Herstellung einer gerechten Ordnung insgesamt zielt der Rechtsstaat auf die Beschränkung staatlicher Macht im Interesse der Freiheit des Bürgers. Damit wurde versucht, die Konsequenzen aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus zu ziehen, der die nach dem rein formalen Begriffsverständnis erforderlichen äußeren Formen eines Rechtsstaats beibehalten und Unrecht in Gesetzesform zu kleiden versucht hatte. Damit verbunden ist auch die bewusste Abgrenzung des Grundgesetzes zu den Entwicklungen in der DDR und dem dort propagierten sozialistischen Rechtsstaat. Die Rückwendung zum materiellen Rechtsstaatsverständnis ist aber auch auf die seinerzeit erfolgende Abkehr vom Rechtspositivismus zurückzuführen. Bereits in der Weimarer Republik sah sich das bürgerlich-liberale formale Rechtsstaatsverständnis erheblicher Kritik gegenüber. Der bürgerliche Individualismus habe dadurch den deutschen Begriff des Rechtsstaates vereinnahmt, den Staat „zum streng kontrollierten Diener der Gesellschaft“ degradiert und letztlich zugrunde gerichtet.4 Mit dem Begriff des „Totalen Staates“ wurde aus Kreisen der Konservativen Revolution noch in der Endphase der Weimarer Republik versucht, dem westlichen eine „deutsches“ Konzept entgegenzustellen.5

Die Greifswalder Dissertation von Christian Hilger widmet sich diesem Streit um den Rechtsstaat im Dritten Reich. Hilger wählt einen deskriptiven Ansatz zur Erfassung der verschiedenen „Auffassungen zum Begriff des Rechtsstaates“ mit dem Ziel, die Eigenheiten, Gemeinsamkeiten und Abweichungen der vertretenen Positionen schärfer herauszuarbeiten, als es die rechtsgeschichtliche Forschung zum Nationalsozialismus nach seiner Ansicht bisher vermocht habe. Dies versucht Hilgers im Wege einer Strukturanalyse, ausgehend von einem „ausdrucksbezogenen Begriffsverständnis“, von dem er sich einen transparenteren Zugriff auf die rechtsstaatliche Problematik erhofft, als sie es seiner Meinung nach bereichsdogmatische oder institutionenorientierte Fragestellungen zu erreichen vermögen. (S. 5) Hilger möchte mit seiner Analyse begrifflicher Strukturen dazu beitragen, die „rechtsdogmatischen und rechtsphilosophischen Fraktionen innerhalb der Juristenschaft offen zu legen“ und dadurch Fortschritte für die Analyse des NS-Systems zu erreichen. Die Einbeziehung wissenschaftsgeschichtlicher Aspekte hält er hierbei ausdrücklich für entbehrlich (S. 10).

Hilger gliedert seine Arbeit, die ursprünglich als die Rechtsstaatsdiskussion in der DDR einbeziehende vergleichende Untersuchung geplant war (S. 10, Anm. 36), in vier Kapitel. In den ersten drei Kapiteln arbeitet er sorgfältig die verschiedenen Deutungsmuster in der zeitgenössischen Literatur heraus. Im ersten Kapitel führt Hilger den bürgerlich-liberalistischen Rechtsstaatsbegriff ein und skizziert das Bild der zeitgenössischen rechtswissenschaftlichen Literatur von diesem „gemeinsamen Gegner“ (S. 12ff.). Anschließend widmet er sich den aus seiner Sicht extremen Gegenpositionen innerhalb der Debatte: Der einen radikalen Bruch mit den Traditionen betonenden Position des jungen Schmitt-Schülers Günther Krauß von 1935 stellt er eine sich auf Kontinuität berufenden Auffassung des seinerzeit renommierten Staatsrechtlers Otto Koellreutter gegenüber (S. 20ff., 33ff.). In den beiden nachfolgenden Kapiteln stellt der Autor dann die Rechtsstaatsbegriffe vor, die aus seiner Sicht das Dritte Reich als ein „Element ihrer Extension“ ausgeben (S. 7). Dies sind im zweiten Kapitel „weitgehend unabhängig von den Strukturen des ´bürgerlich-liberalen` Rechtsstaatsbegriffs gebildete Begriffe“ (S. 79). Darunter fasst Hilger die das Merkmal der „Rasse“ betonenden Positionen von Helmut Nicolai, Hans Frank oder Carl Schmitt ebenso wie die Ausführungen von Julius Binder. Im dritten Kapitel fasst er die „weitgehend in Abhängigkeit von den Strukturen des ´bürgerlich-liberalen` Rechtsstaatsbegriffs entwickelten Begriffe“ von Autoren wie Roland Freisler, Heinrich Lange, Bodo von Dennewitz, Hans Helfritz oder Edgar Tatarin-Tarnheydens zusammen (S. 130ff.). Im vierten Kapitel schließlich versucht Hilger anhand eines Vergleichs mit dem „bürgerlich-liberalen“ Rechtsstaatsbegriff, aber auch einer Analyse der Aussagen zu neuen nationalsozialistischen Formeln und Begriffen die Verschiedenheiten und Eigenständigkeiten der zuvor entwickelten Begriffsverständnisse aufzuzeigen (S. 19 ff.).

Hilger gelangt abschließend zu dem Ergebnis, dass die vom ursprünglichen „bürgerlich-liberalen“ Rechtsstaatsverständnis verschiedensten Interpretationen von Schmitt, Nicolai und Frank die geringste Eigenständigkeit gegenüber dem jeweiligen Staatsbegriff aufweisen. Die angestrebte Überwindung überkommener staatsrechtlicher Strukturen sei anhand des Begriffsverständnisses des Staates vorgenommen worden. Der Prägung eines eigenständigen Rechtsstaatsbegriffes sei gar nicht erforderlich gewesen. Diejenigen Vertreter, die wie Helfritz oder Tatarin-Tarnheyden, eine eigenständige Rechtsstaatsposition herausarbeiten, blieben den Merkmalen des bürgerlich-liberalen Rechtsstaatsbegriffes verhaftet und dadurch dem Vorwurf des Festhaltens an liberalen Denkmustern ausgesetzt (vgl. S. 204ff.). Abschließend hält Hilger fest, dass alle Begriffsdeutungsversuche eines gemeinsam haben: Sie alle enthielten Ansätze zur Rechtfertigung des nationalsozialistischen Systems. Eine darüber hinausgehende Legitimationswirkung hätten vor allem diejenigen Positionen erlangen können, die sich „auf einem überpositiven Wert- und Wirklichkeitsverständnis gründen“.

Die in vielen Teilen anregende Untersuchung Hilgers überzeugt insgesamt jedoch nicht. Dies gilt für das Ergebnis ebenso wie für die methodische Vorgehensweise. Eine von den Zeitumständen losgelöste Begriffsinterpretation leuchtet insbesondere für die ersten Jahre des Dritten Reiches nicht ein. Die Hoffnungen auf einen höheren Grad an Wissenschaftlichkeit durch isolierte Begriffsinterpretation mögen bei der Untersuchung der aktuellen staatrechtlichen Strukturen berechtigt sein, in einer wissenschaftsgeschichtlichen Betrachtung müssen sie hingegen enttäuscht werden. Die Staatsrechtswissenschaft hatte bereits im Verlauf der Weimarer Republik den „Lockungen“ und „Zwängen“ der Politik mehr und mehr nachgegeben und damit den nachfolgenden Bedeutungsverlust eingeleitet.6 In den ersten beiden Jahren nach der Machtübergabe spielten für den staatsrechtlichen Autor tagespolitischen Wendungen und vor allem persönliche Standortbestimmungen und Karriereplanungen eine entscheidende Rolle.7 Die eigene Position wurde nicht rechtstheoretisch, sondern tagesaktuell begründet und angepasst. Der Nachweis liberalen Denkens diente nicht der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern war Ausdruck akademischen Verdrängungswettbewerbs. Die Diskussion um den Wandel des Rechtsstaatsbegriffes diente hierbei als Mittel der Beweisführung.

Im Unrechtsstaat des Dritten Reichs bildete der „Streit um den Rechtsstaat“ eine der Hauptdebatten der Staatsrechtswissenschaft und gleichzeitig einen wesentlichen Beitrag zur Selbstzerstörung der Fachdisziplin.8 Für die so genannte Konsolidierungsphase des Regimes besaß die Fassade des „nationalen Rechtsstaates“ erhebliche Bedeutung.9 Die Staatsrechtslehre nach 1933 war sich einig in der eindeutigen Ablehnung des bürgerlichen formalen Rechtsstaatsverständnisses. Im Ringen um die Meinungsführerschaft im neuen Staat lieferten sich die Staatsrechtler nun einen erbitterten Streit, in dem rivalisierende Positionen nur zu gern als liberales Denken markiert und damit abqualifiziert wurden. Carl Schmitt gelang es auch hier erneut, mit der zeitgemäßeren Formel des „nationalsozialistischen Rechtsstaates“ 10 bzw. später dem „deutschen Rechtsstaat Adolf Hitlers“ 11 und in geschicktem Taktieren die Deutungshoheit zu erlangen.12 Sein resümierender Beitrag „Was bedeutet der Streit um den ´Rechtsstaat`“ 13 bildet 1935 gleichzeitig auch das Ende der Debatte. Die Verfassungsfrage hatte sich insgesamt erledigt.14 Aber auch die sie tragende Disziplin hatte sich zu diesem Zeitpunkt selbst zerstört. Die Vorahnung Otto Mayers über Deutungsmöglichkeiten und Aussagekraft des Rechtsstaatsbegriffes, in den „jeder immer seine juristischen Ideale hineinzulegen geneigt ist“ 15, erfuhr im Streit um den Rechtsstaat eine erneute (neue?), traurige Bestätigung.

Abschließend überwiegt ein zwiespältiger Eindruck. Die Untersuchung von Hilger bietet einen interessanten und differenzierten Überblick über die unterschiedliche Verwendung des Rechtsstaatsbegriffs im Dritten Reich. Sprachlich macht es der Autor dem Leser nicht immer leicht, seinen Ausführungen zu folgen. Was aber vor allem fehlt, ist die Einordnung der Ergebnisse in den historischen Kontext. Der zeitgenössische Hintergrund der einzelnen Stimmen bleibt – politisch wie biografisch – unklar. Eine Auseinandersetzung mit neuerer Forschung fehlt. Man mag die historisch-politischen Hintergründe im Rahmen einer Analyse begrifflicher Strukturen vielleicht zurückstellen können, ausblenden – so wie Hilger dies glaubt – kann man sie hingegen nicht. Gerade der Streit um den Rechtsstaat in den Anfangsjahren des Dritten Reichs zeigt, wie wichtig die Kenntnis der Zeitumstände ist. Insbesondere das Jahr 1933 war innerhalb der Staatsrechtlehre (und nicht nur dort), weniger von fachlichen als vielmehr persönlichen und interessengeleiteten Auseinandersetzungen geprägt.16 Aber auch allgemein sollte gelten: Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung kann die Geschichte nicht „ausblenden“.

Anmerkungen:
1 Jellinek, Walter, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. Berlin 1931, S. 96, zit. nach Stolleis, Michael, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Dritter Band 1914-1945, München 1999, S. 71.
2 Mohl, Robert von, Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg, Bd. 1, Tübingen 1929, S. 8; Ders., Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, Tübingen 1832; vgl. zur Entstehung und Entwicklung des Begriffs Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Enstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: Ders., Recht, Staat und Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt am Main 1991, S. 143-169; Stolleis, Michael, Artikel Rechtsstaat, in: Erler, Adalbert; Kaufmann, Ekkehart (Hgg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte 4, Berlin 1990, Sp. 367-375.
3 Vgl. Anschütz, Gerhard, in: Meyer; Georg; Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. Leipzig 1919, S. 29.
4 Schmitt, Carl, Verfassungslehre, München 1928, S. 125ff.
5 Forsthoff, Ernst, Der totale Staat, Hamburg 1933, S. 7; zur Entstehungsgeschichte dieser Schrift und zur Kontinuität des dahinter stehenden Konzepts vgl. Koenen, Andreas, Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reichs“, Darmstadt 1995, S. 458ff.
6 Vgl. Stolleis, Michael, Staatsrechtslehre und Politik, Heidelberg 1996, S. 14.
7 Vgl. Stolleis (s. Anm. 1), S. 318ff.
8 Vgl. Stolleis (s. Anm. 1), S. 330ff.; Koenen (s. Anm. 5), S. 463ff.
9 Koellreutter, Otto, Der nationale Rechtsstaat, Tübingen 1932; vgl. Stolleis (s. Anm. 1), S. 333f.
10 Schmitt, Carl, Der Neubau des Staats- und Verwaltungsrechts, in: Schraut, Rudolf (Hg.), Deutscher Juristentag. 4. Reichstagung des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen e.V., München 1933, S. 242-252.
11 Schmitt, Carl, Der Rechtsstaat, in: Frank, Hans (Hg.), Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung, München 1935, S. 3-10; hier S. 4f.
12 Zu Machtstreben und kalkulierter Begriffsprägung Schmitts vgl. Stolleis (s. Anm. 1), S. 323ff.; Koenen (s. Anm. 5), S. 463ff.; Becker, Lothar, „Schritte auf einer abschüssigen Bahn“. Das Archiv des öffentlichen Rechts und die deutsche Staatsrechtswissenschaft im Dritten Reich, Tübingen 1999, S. 98ff.
13 Schmitt, Carl, Was bedeutet der Streit um den „Rechtsstaat“?, Zeitschrift für die gesamten Staatswissenschaften 95 (1934/1935), S. 189-201.
14 Forsthoff, Ernst, Das neue Gesicht der Verwaltung und der Verwaltungsrechtswissenschaft, Deutsches Recht 1935, S. 331-335; bes. S. 332.
15 Mayer, Otto, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, Leipzig 1895, S. 61.
16 Zur allgemeinen „Wendung der Verhältnisse ins Persönliche“ vgl. Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 5. Aufl. München 1996, S. 722; zu den Auswirkungen in der Staatsrechtslehre vgl. Becker (s. Anm. 12), S. 65ff.

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