Cover
Titel
Trianon.


Autor(en)
Zeidler, Miklós
Erschienen
Budapest 2003: Osiris Kiadó
Anzahl Seiten
932 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norbert Spannenberger, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Zwei Ereignisse der ungarischen Zeitgeschichte waren vor der Wende von 1989 aus der öffentlichen Erinnerungskultur Ungarns systematisch verbannt worden: Der Friedensvertrag von Trianon des Jahres 1920 und der Volksaufstand von 1956. Während letzteres Ereignis durchaus zum Gegenstand seriöser Forschung werden konnte, wurde „Trianon“ ein Lieblingsthema populistischer und/oder populärwissenschaftlicher Publikationen – und das mit einem unschlagbaren Erfolg. „Trianon“ gilt in der öffentlichen Wahrnehmung der Ungarn noch heute als Inbegriff für Ungerechtigkeit schlechthin. Hatte doch im Juni 1920 der damalige Staat etwa zwei Drittel seines Territoriums verloren, wodurch etwa ein Drittel des ungarischen Ethnikums zu Minderheiten der Nachbarstaaten wurde. Diese Regelung war in der Tat wirtschaftlich unvernünftig und propagandistisch leicht instrumentalisierbar, hatten doch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges ein „tausendjähriges“, vom Heiligen König Stephan gegründetes Staatsgebilde zerstückelt.

Die Veröffentlichung einer umfangreichen, kritischen Quellenedition wie der hier besprochenen war deshalb nicht nur legitim, sondern auch dringend notwendig. Mit Recht betont der Herausgeber sein Anliegen, dass mit diesem fundierten Buch auch der gesellschaftliche Diskurs, der wichtig und wünschenswert sei, auf sichere Fundamente gestellt werden sollte. Doch schon die „Formalien“ sprechen für sich: Schwarz dominiert den Umschlag, rechts oben ist außer dem Titel nur das zerstückelte Stephansreich abgebildet. Zeidler beteuert, dass es ihm nicht um die weitere Traumatisierung der Öffentlichkeit, noch weniger um eine „Folklorisierung“ des Sachverhaltes gehe, sondern darum, ein seriöses Informationsangebot vorzulegen. Diese selbstgestellte Vorgabe der Historisierung von Trianon wird erreicht, indem das Buch keine Aufsätze, Abhandlungen oder Analysen, sondern ausschließlich Quellenmaterial im weiteren Sinne beinhaltet. Diese sind strukturiert in zeitgenössische Quellen, die wiederum untergliedert sind in Kapitel, überschrieben mit: „Krieg und Zerfall“, „Friedenskonferenz und Friedensvertrag“ sowie „Revision und Krieg“, sprich Revisionspolitik der Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg. Im zweiten Drittel des Bandes werden „Politik und Erinnerungskultur“ thematisiert: „Trianon im zeitgenössischen Diskurs“, die proungarische Kampagne des britischen Lord Rothermere, das Schicksal der ungarischen Minderheiten in den so genannten „Nachfolgestaaten“, „Revisionspläne“ und schließlich Trianon in der Erinnerungskultur von 1945 bis 1996. Im dritten Abschnitt folgt die „wissenschaftliche Erinnerung“, die von 1923 bis 2001 reicht und Auszüge von Publikationen hervorragender Persönlichkeiten der ungarischen Publizistik, Politik, Wissenschaft etc. beinhaltet. Eine ausgewählte Bibliografie weiterführender Literatur ergänzt diese Quellenedition.

Der äußerst repräsentative Band ist reich bebildert; zahlreiche Illustrationen sind selbst Kennern der Materie unbekannt. Wichtige Kartenmaterialien, die etwa den Vertragstext von Trianon veranschaulichen und in die Texte integriert wurden, sind ebenso gelungen wie Momentaufnahmen von Kundgebungen gegen den Vertragsabschluss oder spätere Fotodokumente von irredentistischen Veranstaltungen. Diese bunte Vielfalt an visuellen Instrumenten beeinträchtigt die Seriosität keineswegs, vielmehr trägt sie zur Lesbarkeit der ansonsten trocken anmutenden Quellensammlung bei. Die Ergänzungen in den Fußnoten sind zwar knapp gehalten, ermöglichen aber das notwendige Verständnis der Quellen. Allerdings setzen etliche „Erklärungen“ überdurchschnittliche Kenntnisse voraus, was vermutlich mit dem gesteigerten Interesse des ungarischen Publikums kompensiert wird. Sehr gelungen ist die vielfältige Auswahl der Quellengattungen: So werden u.a. Parlamentsprotokolle oder Proklamationen ebenso berücksichtigt wie Parteiprogramme oder Essays zeitgenössischer Schriftsteller und Publizisten. Aufgrund der vom Herausgeber gewählten Strukturierung werden auch die unterschiedlichen Phasen der Revisionspolitik deutlich, die abhängig von der jeweiligen ungarischen Regierung oder den internationalen Gestaltungsmöglichkeiten variierten.

Beanstandet werden können nur Kleinigkeiten: Auf S. 319 ist eine Karte abgebildet, die Ungarn im Zustand von 1941 zeigt, und den Anteil der Bevölkerung nach Muttersprache verständlich zu machen verspricht. Es geht aber nicht hervor, nach welchen Kriterien diese Karte erstellt wurde: Werden hier Ergebnisse einer Volkszählung visualisiert, und wenn ja, aus welchem Jahr? Gewöhnungsbedürftig ist, dass Autorennamen in Grau vor dem schwarz gedruckten Titel stehen, wie z.B. auf S. 344 von Béla Bangha.

Insgesamt ist es eine sehr gelungene Publikation anzuzeigen, die dringend in Weltsprachen übersetzt werden sollte! Erstens könnten die historischen Quellen auch außerhalb Ungarns nutzbringend im Hochschulunterricht eingesetzt werden. Zweitens zeichnen die politologisch relevanten Materialien ein „authentisches“ Bild des Trianon-Diskurses in der ungarischen Gesellschaft nach. Der Bogen von der Vergangenheit bis in die Gegenwart würde so auch für Nichtungarn leicht nachvollziehbar.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension