Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500-2005

Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500-2005

Veranstalter
Deutsches Historisches Museum (12344)
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12344
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.10.2005 - 12.02.2006

Publikation(en)

Beier-de Haan, Rosmarie (Hrsg.): Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500-2005. Wolfratshausen 2005 : Edition Minerva, ISBN 3-938832-02-9 383 S. € 48,00 (Buchhandelsausgabe)
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicola Lauré al-Samarai, Technische Universität Berlin

Migration ist ein quasi innereuropäisches Phänomen, der idealtypische Migrant ein weißer Westeuropäer! Zu diesem einigermaßen befremdlichen Fazit kann man nach dem Besuch der derzeit im Deutschen Historischen Museum (DHM) präsentierten Doppelausstellung gelangen, die unter dem Obertitel „Zuwanderungsland Deutschland“ sowohl den Versuch einer Zusammenfassung von 500 Jahren Migrationsgeschichte unternimmt als auch die spezifische Einwanderungsgeschichte der Hugenotten nachzeichnet.1 Dass die auf enger Fläche gedrängte und von gravierenden Auslassungen begleitete historische Gesamtübersicht mit der üppigen und detaillierten Herausstellung eines spezifischen migrationsgeschichtlichen Einzelaspektes allerdings kaum korrespondiert, ist nicht nur das Ergebnis eines konzeptionell schwer nachzuvollziehenden räumlichen Ungleichgewichtes. Vielmehr spiegelt sich das herrschende historiografische Konstrukt einer „integrativen Erfolgsgeschichte“, wie sie den französischen Glaubensflüchtlingen und ihren Nachfahren in der ihnen gewidmeten Ausstellung „Hugenotten“ bescheinigt wird, vor allen Dingen darin wider, dass der Heterogenität und Eigenständigkeit ihrer historischen und gegenwärtigen Perspektiven und Positionen ein entsprechender Raum zugestanden wird. Kurz: Sie werden als handelnde Subjekte der Geschichte wahr- und ernstgenommen.

Angesichts der Tatsache, dass keiner anderen MigrantInnengruppe eine derartig verortete und kontextuell eingebettete Repräsentation zuteil wird, ließe sich mutmaßen, dass deren Geschichten aus „leitkulturellem“ Blickwinkel offenbar von weniger „Erfolg“ gekrönt waren oder sind und sich folglich wesentlich schwieriger in eine hegemoniale historische Meistererzählung einpassen lassen, die den Referenzrahmen der Ausstellung „Migrationen 1500–2005“ bestimmt. Dabei wäre die sinnreiche Entscheidung sowohl für die umfängliche, den Bogen von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart schlagende Zeitspanne als auch für einen offenen Migrationsbegriff, der vor dem Hintergrund staatlicher und rechtlicher Regulierungen verschiedenartige Aspekte ökonomisch, politisch, religiös oder kulturell bedingter bzw. forcierter Wanderungsbewegungen und sozialer Mobilität zu integrieren versucht, in der Tat dazu geeignet gewesen, den „Blick [zu] schärfen für eine differenzierte Wahrnehmung und Reflexion“ (Vorwort des Katalogs, S. 6). Diesem wünschenswerten Anspruch steht allerdings die enzyklopädische, lediglich aufzählende Aneinanderreihung diverser Migrationsgeschichten gegenüber. Die deskriptiven, lehrbuchartigen Inhalte der erklärenden Zwischentexte sind nicht dazu geeignet, die fundamentalen Implikationen einzukreisen, welche sich aus den Fragen ergeben, wer wann warum ein- oder ausgeschlossen wurde und wird. Im Gegenteil: Die bloße Konstatierung solcher Prozesse und insbesondere ihre einseitige Vermittlung über vornehmlich herrschaftsgeschichtliches Wort- und Bildmaterial neutralisiert und normalisiert eine Vielzahl historischer und gegenwärtiger Machtkontexte samt der dazugehörigen multiplen Verknüpfungen von Gewaltausübung und Gewalterfahrung.

Eine auf diese Weise stattfindende Reproduktion machtvoller Wahrnehmungszusammenhänge ist Ausdruck einer monologischen Erinnerungspraxis mit durchaus vielsagenden Gedächtnislücken. Die einen wichtigen Schwerpunkt der Ausstellung bildende Diskussion der historisch jungen Konstruktion der deutschen Staatsbürgerschaft etwa erfolgt überraschenderweise unter Ausblendung des deutschen Kolonialismus, obgleich dieser das Reißbrett für eine zwar bürgerlich geprägte, jedoch auf einem modernen biologistischen Gesellschaftsverständnis beruhende „rassische“ Ordnung darstellte.2 Damit bleiben nicht nur die Wurzeln eines rassifizierten und noch immer sehr gegenwärtigen nationalen Identitätsentwurfs im Dunkeln, sondern auch die Kontinuitätslinien damit einhergehender und ebenfalls sehr gegenwärtiger anti-migrantischer Traditionen, Praktiken und Diskurse. In diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich ist zum einen die keineswegs zufällige Exklusion ganz bestimmter minorisierter Geschichten: Sinti und Roma, afrikanische und asiatische KolonialmigrantInnen, andere außereuropäische Zuwanderer und schwarze Deutsche, an deren metropolitaner Präsenz sich seit über einem Jahrhundert bedeutsame und folgenschwere Diskussionen über den Charakter eines völkisch-rassisch oder ethno-kulturell definierten Deutsch-Seins entzündeten, kollidieren mit dem eurozentrischen Rahmen einer weißen deutschen Historiografie und konstituieren in der Ausstellung eine spezifische Landschaft von blinden oder besser „weißen“ Flecken.

Die reduktionistische Interpretation globaler imperialer Gemengelagen verwischt zum anderen aber auch solche Verbindungslinien, die für eine kritische und historisch informierte Repräsentation der bundesdeutschen Arbeitsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg von Belang gewesen wären. Die fortlaufende diskursive Verdinglichung von MigrantInnen als Arbeitsobjekte, die überdies mit ihrer lediglich rudimentären Anerkennung als Rechtssubjekte verknüpft ist, verweist auf ein hierarchisches Spannungsfeld, innerhalb dessen nicht nur so genannte Nationalinteressen den Bedürfnissen und Rechten der Migrierten diametral gegenüberstehen, sondern ein von rassistischen Verwertungslogiken charakterisierter Umgang mit ihnen reproduziert wird3, dessen lebensweltliche und erfahrungsbezogene Konsequenzen sich im Rahmen der Ausstellung kaum erschließen.

Obwohl der Dimension des individuell Erlebten durchaus Beachtung gezollt ist, erscheint die konkrete Verwendung von Selbstzeugnissen migrantischer Erfahrungen aller Epochen problematisch. Ob Bettelknechte, fahrende Schüler und Wandergesellen der Frühen Neuzeit oder Zwangsarbeiter, Vertriebene und MigrantInnen des 20. Jahrhunderts: Die Ersetzung alternativer kultureller Zusammenhänge oder gar eigenständiger kollektiver Geschichten durch nunmehr gänzlich dekontextualisierte und tatsächlich ent-fremdete exemplarische Einzelstimmen dient vornehmlich der illustrativen Authentisierung bestimmter ereignisgeschichtlicher Vorgänge, womit den jeweiligen SprecherInnen innerhalb eines dominanten Deutungsrahmens die Rolle von „native informants“ zugewiesen und ihren beeindruckenden und hochkomplexen Erzählungen eine stark verengte Leserichtung vorgegeben wird.

Inwieweit die immer neue und selbstversichernde Einschreibung hegemonialer Blick-Verhältnisse samt der zwar klassischen, aber ganz sicher nicht interkulturellen, geschweige denn gleichberechtigten Kommunikation auch nur ansatzweise dazu geeignet sein könnte, ein sich an Klassen und Gruppen mit Migrationshintergrund richtendes museumspädagogisches Begleitprogramm zu entwerfen, muss man sich ernstlich fragen. Es bleibt zu hoffen, dass gerade diese AdressatInnen sich nicht an rassistischen, antisemitischen, antiziganistischen und anti-migrantischen Fremdbildern abarbeiten, sondern ihren eigenen Erfahrungen und Lebenswelten vertrauen und sich damit auseinandersetzen. Vor diesem Hintergrund dürfte für die meisten von ihnen eine Ausstellung wie die im DHM gezeigte die eigentliche „Parallelgesellschaft“ repräsentieren: eine nach wie vor geschlossene Gesellschaft, in der die Komplexität von Migrationsprozessen auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht wirklich ein Thema ist.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu bereits die anders akzentuierte Rezension von Jan Philipp Sternberg und Frank Kallensee (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=39&type=rezausstellungenngen).
2 Grosse, Pascal, Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland 1850–1918, Frankfurt am Main 2000, S. 11.
3 Ha, Kien Nghi, Ethnizität und Migration reloaded. Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs, Berlin 2004, S. 26.

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