K.-J. Hölkeskamp: Sinn (in) der Antike

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Titel
Sinn (in) der Antike. Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum


Herausgeber
Hölkeskamp, Karl-Joachim; Rüsen, Jörn; Stein-Hölkeskamp, Elke; Grütter, Heinrich Theodor
Erschienen
Mainz am Rhein 2003: Philipp von Zabern Verlag
Anzahl Seiten
VII, 422 S.
Preis
€ 65,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Charlotte Schubert, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Dieser Sammelband, der sich grundlegenden Fragen - nicht nur der Alten Geschichte - widmet, ist ein gelungenes Beispiel dafür, welche fruchtbaren Beiträge, die sowohl in die eigene Disziplin reichen als auch weit in andere hineinwirken, gelingen, wenn interdisziplinäre, zum Teil auch eng an die oft geschmähte, weil programmatisch ausgerichtete Drittmittelforschung gebundene, Forschergruppen zusammenwirken. Die Studiengruppe des Kulturwissenschaftlichen Instituts des Landes Nordrhein-Westfalen (Essen) hat es sich zur Aufgabe gemacht, Sinnkonzepte als "kulturelle Fundamentalgegebenheiten" (S. 8) zu entwerfen und in unterschiedlichen Bereichen zu erproben. Hierzu wurde auch eine Gruppe von Altertumswissenschaftlern eingeladen, diese in drei Veranstaltungen (2000/2001) "sinntheoretisch angeregte kulturwissenschaftlich ausgerichtete Geschichte" (S. 9) anzuwenden, zu überprüfen und zu modifizieren. Aufgrund der Vielfalt, aber auch der Unterschiede im methodischen Ansatz, werden die Beiträge hier einzeln vorgestellt:

Die Einleitung von Jörn Rüsen und Karl-Joachim Höleskamp ("Warum es sich lohnt, mit der Sinnfrage die Antike zu interpretieren") ist in sieben Abschnitte geteilt. Der erste untersucht den Kulturbegriff - generalisierend als transdisziplinäres Gebilde (Kulturwissenschaft) und spezifisch als Dimension der menschlichen Welt (Kultur als Inbegriff der Sinnbildungsleistungen, die Menschen vollziehen müssen). Nach einer Erläuterung des verwendeten Sinnbegriffs werden Sinnkonzepte und Beispiele der Elemente und Faktoren des Lebens dargestellt, die Sinnkonzepte ausmachen. Drei Modi, in denen Sinnkonzepte wirken, werden als fungierend (unstrittige Sinnkonzepte, z.B. Tag/Nacht, Hunger, Schlaf), reflexiv (Deutungsleistungen des menschlichen Bewusstseins, die nötig sind, wenn Sinnkonzepte neu oder unverständlich geworden sind) und operativ (Umsetzung des reflektierten Sinns in die Lebenspraxis) vorgestellt. Schließlich gehen die Autoren auf methodische Funktionen der Sinnfrage (heuristisch und interpretatorisch) und zuletzt auf die konkrete Weise der Sinnbildung ein, die als Praktiken, Räume oder Medien geschehen können und erforschbar sind - in diese drei Kategorien sind alle Beiträge des Buches eingeordnet.

In seinem Beitrag definiert Jan Assmann ("Sinnkonstruktionen im alten Ägypten") zunächst den Begriff 'Sinn' wie er ihn versteht und verwendet. Er untersucht dazu drei kulturelle Sinnbegriffe: a) transzendente (z.B. im Christentum mit der Sinnquelle des planenden und ordnenden Gottes), b) immanente (Theorien, die aus dem Kosmos oder der Natur den Sinn abgeleitet haben) und c) soziale Sinnquellen (z.B. Sinn als soziale und kulturelle Konstruktion). Nach einer etymologischen und etymografischen Betrachtung der altägyptischen Ma'at sowie deren Erklärung als Sinnquelle des ägyptischen Staates und seiner Religion und Wissenschaft (altägyptische Kultur) mit dem Bild der immer ins Verderben tendierenden Welt und dem sie in die richtige Bahn lenkenden Gott mit Pharao beschreibt Assmann die Zuordnung der ägyptischen Ma'at als Sinnquelle der Kategorie c. Er vergleicht praktische Aspekte dieser Ma'at mit anderen Sinnquellen (Christentum und Nietzsche). Assmann verweist auf den sehr interessanten Text des Laktanz, den hermetischen Traktat Asclepius, der den verheerenden Zusammenprall zweier unterschiedlicher Sinnquellen des Typs c (Ägypter) und des Typs a (frühe Christen) vorausahnend dokumentiert. Letztlich stehen sich seiner Ansicht nach hier in der antiken Sakralisierung des Sinns bereits der Kosmotheismus und der Monotheismus gegenüber.

Fritz-Heiner Mutschler ("Zu Sinnhorizont und Funktion griechischer, römischer und altchinesischer Geschichtsschreibung") vergleicht mit vielen Beispielen aus den klassischen griechischen Historikern Herodot, Thukydides und Polybios und den klassischen römischen Historikern Sallust, Livius und Tacitus sowie den klassischen chinesischen Historien Shu Jing, Chun Qiu (Konfuzius) und Shi Ji (Sima Qian) zwei Gesichtspunkte, die auch die beiden Teile des Beitrags bilden: Die Frage, welchen Sinnhorizont bei durchaus unterschiedlichen Wirkabsichten alle Gruppen dieser Historiker haben, beantwortet er damit, dass hier die unterschiedlichen Sinnhorizonte des menschheitsgeschichtlichen Horizonts von Anfang und Ende (griechisch), des nationalen mit dem höchstens gedachten, aber nicht realen Ende (römisch) und des Reichs in Zyklen von Ordnung und Chaos überhaupt, ohne die Möglichkeit eines Endes, einander gegenüberzustellen sind.

Kurt Raaflaub ("Zwischen Adel und Volk. Freiheit als Sinnkonzept in Griechenland und Rom") vergleicht politische Sinnbegriffe der Freiheit innerhalb der griechischen Welt (Athen und Sparta) sowie zwischen Griechen und Römern (Cäsar). Er definiert den griechischen Sinn des Begriffs "Freiheit" (eleutheria) anhand seiner Entwicklung, die aufgrund äußerer und innerer Ereignisse als eigentlich 'reaktives Konzept' vorangetrieben wird - denn "die Freiheit" gab es zunächst nicht außer im Doppelnegativum des "Nicht-Unfrei-Seins" in der Zeitspanne zwischen der homerischer Epoche und dem Hellenismus, wobei die klassische Zeit eine besondere Rolle spielt. In einer Fallstudie zu Cäsar zeigt Raaflaub, dass - obwohl auch der römische Freiheitsbegriff von seinem Ursprung her ein doppeltnegativer war - Cäsars Wirken zumindest Ansätze zeigte, im Sinne einer breiteren Oligarchie mit einem solchen Konzept dem Volk eine konstruktive Rolle bei Entscheidungen zuzugestehen.

Karl-Joachim Hölkeskamp ("Institutionalisierung durch Verortung. Die Endstehung der Öffentlichkeit im frühen Griechenland") untersucht in dieser Abhandlung den "'Sinn' des Bürgerseins", die Rede und den Ratschluss "über die und zugleich in der Polis". Dafür beleuchtet er die Entwicklung der politischen Rede in ihrer Verstetigung durch räumliche Verortung von Homer bis zur klassischen Polis sowie des Redeortes, der Agora, in demselben Zeitraum und definiert beides als soziale Institutionen, die Funktionen erfüllen, Sinnvorstellungen und "Leitideen gemeinsamen Handelns durch dauerhaft geregelte Formen solchen Handelns zu verwirklichen".

Wolfgang Rösler ("Kanonisierung und Identität: Homer, Hesiod und die Götter der Griechen") beschreibt ein griechisches Orientierungskonzept aus dem letzten Drittel des 6. Jahrhunderts, in dem als historischer Anfang einer griechischen Religion der Moment anzunehmen ist, in dem Homer und Hesiod den griechischen Göttern Gesicht, Namen und Fähigkeiten gaben. Dabei geht er näher auf die Konstruktion 'Homers' (wobei er den, das homerische rhapsodische Repertoire bewahrenden Homeriden eine besondere Bedeutung ähnlich den Pythagoreern und den Asklepiaden gibt) und Hesiods als Religionsstifter ein. Für Rösler wird dabei deutlich, warum Ilias und Odyssee zwar epische Texte sind, die Götter so darstellten, dass sie sich eigentlich nicht zur Verehrung eignen, aber diese den Anfang griechischer Überlieferung markierenden Werke dennoch die Funktion nicht vorhandener heiliger Schriften übernehmen mussten. Als ein anderes, jüngeres und viel rationaleres Orientierungskonzept sieht Rösler das Konzept der Sieben Weisen. Zuletzt stellt er ein drittes, mit Homer und Hesiod konkurrierendes Konzept vor - die Orphik, die in Orpheus als dem berühmten Sänger des Mythos eine Vorbereitung auf Tod und Jenseits anbot.

Justus Cobet ("Zeitsinn: Am Anfang unserer Geschichtsschreibung") beschäftigt sich mit dem Zeitsinn "unserer historiographischen Tradition" in seinen Anfängen bei Herodot und Thukydides, vorangehend aber auch mit Homer und Hesiod. Als Rahmen eines Zeitsinns sieht er bei Thukydides die Gegenwart (den Peloponnesischen Krieg) als eigentliche Geschichte und alles davor Geschehene als Vorgeschichte, bei Herodot hingegen seien mehrere historische Subjekte in einer kohärenten Erzählung integriert und damit ein universell scheinender Zeitrahmen geschaffen. Weiterhin vergleicht er die Erinnerungs- und Zeithorizonte bei Thukydides und Herodot, behandelt hier auch die Vorstellung von Ethnie bei Herodot und geht zuletzt auf das spatium historicum sowie das spatium mythicum ein. Cobet schließt mit einer kurzen Einordnung der beiden griechischen Historiografen in die Reihe weiterer Historien vom Hellenismus bis zur Spätantike.

Von der Archaik bis zum Hellenismus reichende Darstellungen mythischer Szenen vor allem auf Vasen ermöglichen es Luca Giuliani ("Kriegers Tischsitten - oder: Die Grenzen der Menschlichkeit. Achill als Problemfigur"), die Rezeption ethischer Autorität in den homerischen Werken zu untersuchen, die auch als Erziehungsliteratur bezeichnet wurden. Hierbei beschränkt er sich jedoch auf die Darstellung der Episode, in der Achill zusammen mit dem toten Hektor dessen Vater Priamos trifft. Anhand der Vasendarstellungen beschreibt er die sich mit der Zeit verändernde Darstellung dieser Szene. Um die Frage zu lösen, warum man sich mit einem derart wilden Helden wie Achill identifizieren sollte bzw. um die Abweichung in der Signalfunktion zu erklären, bezieht er Sigmund Freud mit ein, analysiert das Heldenmodell, erläutert die Christa Wolfsche Rezeption ihrer Kassandra ("Achill, das Vieh") und macht an den Widersprüchen der durch Achill verkörperten Werte schließlich dessen ethos-didaktischen Wert fest.

Tonio Hölscher ("Körper, Handlung und Raum als Sinnfiguren in der griechischen Kunst und Kultur") beschreibt in diesem Beitrag die Sinnfigur des Körpers in seiner zentralen Rolle für die griechische Kultur bei kulturellen Handlungen, Ritualen und Institutionen (politischer Dialog auf Agora). Im Rahmen einer "Kultur der Körper", die er darauf folgend näher aus der Perspektive der Körperlichkeit untersucht, zieht er den Bogen von Michelangelo bis zu neuzeitlichen Kunstepochen. Hölscher untersucht die bildliche Rezeption antiker Körperbilder und des Körpers an sich und widmet sich einer Analyse der antiken Sichtweise des Körpers sowie deren Ausdruck in Bildwerken. Dabei geht er im Besonderen auf eine griechische Geschichte der Körperdarstellungsweise vom 9. Jahrhundert v.Chr. bis zum frühen Hellenismus ein. Abschließend widmet er sich noch dem Verhältnis von Raum und Körper sowie von Staat und Körper, wobei er in der Metapher vom Staat als Körper die innere Verwandtschaft von Körper und Handlungsraum erkennt.

Da Christian Meier nach eigenem Bekunden über Sinn in der Antike "ganz zu schweigen von einem 'Sinn der Antike'" (S. 193) nichts vorzutragen hatte und auch - zu Unrecht! - davon ausgehen möchte, dass er die Ergebnisse seiner Arbeit als unbekannt voraussetzen könne, erörtert er zu Beginn seines Beitrages "Spuren von Fragen nach Sinn bei den Griechen in klassischer Zeit - Sinnbedürfnisse (oder was dafür gehalten werden könnte) und der Umgang damit im 5. Jahrhundert v. Chr." anhand von Beispielen, dass und wie Sinnbedürfnisse entstehen, zeigt auf, was es in der Antike, in der es die Geschichte und ihren tieferen Sinn noch nicht gab und sich die Frage danach auch nicht stellte, an anderen Sinnbedürfnissen gab. Eine Frage nach Sinn stellt sich allerdings jedes Mal dann, wenn "ganz aus der Rolle fallende Ereignisse" auftreten, 'das Erwartungswidrige' (ho paralogos), das dennoch erklärt werden muss. Er beschreibt insbesondere das nomologische Wissen, das bei Herodot, Thukydides und vor allem bei Aischylos sowie in der beabsichtigten Sinnlosigkeit bei Euripides aufgezeigt wird. Sein Bezug auf Aischylos und die so genannte Entmachtung des Areopags ist vielleicht nicht das günstigste Beispiel (s.u.), doch ist es mittlerweile unbestritten und allseits akzeptiert, dass der von Max Weber geprägte Begriff des nomologischen Wissens von Christian Meier in diesem Kontext für die Alte Geschichte etabliert und erweitert worden ist. Gerade diese Konzeption hat das Verständnis des 5. Jahrhunderts wesentlich vorangebracht. Um so interessanter ist es natürlich, dass Meier in einer langen Fußnote zu der von M. Braun in seiner Dissertation aufgerollten Frage Stellung nimmt1, ob in Aischylos' Orestie tatsächlich, wie Meier meint, das Ganze der Ordnung zur Disposition gestanden habe (im Sinne einer Alternative zwischen Volks- und Adelsherrschaft) oder ob es lediglich um die Rolle des Areopags als Hüter der dike ging (so Braun). Meier bleibt alles in allem bei seiner Position und spitzt sogar noch zu: "Wenn das (die Herrschaft der kleinen, unerfahrenen Leute in der Volksversammlung) nicht [...] als höchst aufregend, ja unerhört, 'unmöglich' empfunden worden wäre, hätte man damals in einem Ausmaß stumpfsinnig sein müssen, dass die ganze griechische Klassik unverständlich würde." So wird nun das gesamte Verständnis der Klassik an die Frage geknüpft, ob es einen "Sturz" des Areopags gegeben hat oder nicht!

In seinem Beitrag geht Peter Funke ("Politische und soziale Identitätsformen jenseits der Polis") auf die Bildung einer Identität als Zugehörigkeitsvorstellung und auf Identifikationsbezüge innerhalb griechischer Poliswelten ein. Er untersucht den Begriff polis und geht vor allem auf seine siedlungsgeografische Bedeutung ein. Dann stellt er das besondere Beispiel Athen vor, das als 'Riesenpolis' ein Gefüge von mehreren urbanen Zentren (den Demen) im Sinne eines Ensembles darstellte. Vor allem aber betont er den doppelten semantischen Gehalt des Polisbegriffs in seiner Spannung zwischen politischer und urbanistischer Ausrichtung, die langfristig - insbesondere gestützt auf archäologische Feldforschung - auf ein dynamisches Erklärungsmodell der 'antiken Stadt' hinführen kann.

Hans-Joachim Gehrke ("Bürgerliches Selbstverständnis und Polisidentität im Hellenismus") untersucht Sinn- und Orientierungskonzepte der Poleis in hellenistischer Zeit, wobei er auf den im Freiburger Sonderforschungsbereich "Identitäten und Alteritäten" entwickelten Konzepten aufbaut. Der Status 'Bürger' war sowohl identitätsstiftend als auch differenzierend, indem er eine hierarchische Gemeinschaft unterschiedlicher Art (z.B. Ehr-, Solidar-, Rechts- und Schicksalsgemeinschaft) markierte. Anhand von Beispielen verdeutlicht Gehrke die Auswirkungen dieser Kausalität und zeigt in einem zweiten Abschnitt die Bedeutung der Bürgerschaft für polisinterne Institutionen (z.B. Kultgemeinschaft, soziale Erziehung). Im letzten Abschnitt beleuchtet Gehrke die 'zwischenpoliteischen Beziehungen' (Kriege und gegenseitige Abscheu, aber auch bi- und multilaterale Beziehungen) und die Frage, wie offen die Bürgerschaft bzw. die Stadt waren (z.B. Gastbesuche bei Agonen und Kultveranstaltungen). Schließlich greift er auch ein weit über die Polis hinausreichendes identitätsstiftendes Gebilde auf, das koinon, das ebenso wie die auf die Polis gerichtete Konstruktion politisch-sozialer Identifikation viel Flexibilität und Durchlässigkeit zeigte.

Uwe Walter ("AHN MACHT SINN. Familientradition und Familienprofil im republikanischen Rom") führt in seinem Artikel aus, wie die römische Nobilität mit ihrem Traditionswissen, dass sich aus genealogischen Wissen, exempla und kulturellen Riten konstituierte, über das Kollektivgedächtnis und die Struktur des Geschichtsbewusstseins eine spezifische Erinnerungskultur prägte. Walter erläutert dies anhand der sehr detaillierten Schilderung der pompa funebris sowie am Beispiel der claudischen Familie und am Einzelfall des Brutus. Dabei wird sehr deutlich, wie wenig hier manipulative Herrschaftsmittel und wie stark Versäulung und Handlungsimperative aus gelenkter Tradition wirkten.

Basierte die römische Republik auf einem ritualisierten Konflikt oder einem inszenierten Konsens? Untersuchungen der Rituale aus dem Gemeinschaftsalltag der Römer, vor allem aus dem Bereich der Volksversammlungen sind eine wichtige Grundlage für die Konsenstheorie. Martin Jehne ("Integrationsrituale in der römischen Republik. Zur einbindenden Wirkung der Volksversammlungen") untersucht im Detail das Abstimmungsprocedere der Centuriatcomitien, das er als umständlich, zeitaufwendig und vor allem auch unberechenbar charakterisiert. Er vertritt die Ansicht, dass es bei Wahlentscheidungen nicht um programmatische Differenzen gegangen sei und sieht daher in der Symbolik der Rangdifferenzierung die einzig mögliche Motivation für die Teilnahme der einfachen Bürger. Zwar war demgegenüber die Abstimmung in den Tributcomitien deutlich egalitärer, aber auch hier - wie der Modus, in dem die Ergebnisse der Abstimmungen bekanntgegeben wurden (Gegenstimmen usw. wurden nie mitgeteilt), deutlich zeigt - war alles auf Konsensbildung ausgelegt, so dass - sehr überzeugend - gerade in den Volksversammlungen eine permanente Inszenierung von Einheit und Geschlossenheit stattfand.

Am 'Kampf' um die Beute, die in den Kriegen gewonnen wurde, entschied sich dieser Sinnbezug: Verdankte der siegreiche Feldherr der res publica alles (Erziehung, Karriere, Heer, Sieg) oder verdankte die res publica dem Feldherrn den Sieg und dessen Früchte? "Die römische Republik hat sich zu Tode triumphiert" (S. 299), so ist die Antwort von Egon Flaig ("Warum die Triumphe die römische Republik ruiniert haben - oder: Kann ein politisches System an zuviel Sinn zugrunde gehen?"). Der Triumph dient Flaig hier jedoch nur als Chiffre, um mit neun Thesen die mittlerweile auch in der Alten Geschichte verbreitete Sucht zu persiflieren, jede auch noch so wirre Begriffsverdrehung von Theorieanmutungen auf die dafür wenig geeigneten antiken Quellen zu übertragen. Alles nur ein Scherz? Nicht ganz, wie das markante Zitat doch deutlich versinnbildlicht.

Elke Stein-Hölkeskamp ("Vom homo politicus zum homo litteratus. Lebensziele und Lebensideale der römischen Elite von Cicero bis zum jüngeren Plinius") widmet sich in diesem Beitrag der Frage, welchen Schaffenssinn altgediente oder politisch kaltgestellte schreibende römische Nobiles während der Republik und in der Kaiserzeit sehen bzw. in welchem Sinnkontext sie ihr Leben neben der politischen Bühne gestalten konnten. Dabei zeichnet sie die Unterschiede über die Epochen hinweg nach - wo für Cicero noch politisches, ziviles oder richterliches Engagement als persönlicher Beitrag zur res publica hinter der Übernahme von Ämtern stand, war dies für den jüngeren Plinius eher die zu ertragende Last der mühevollen Pflichterfüllung für den Kaiser, die man nur aushält, um sich dann genüsslich in den wohlverdienten Müßiggang-Ruhestand zurückziehen zu können.

Im Mittelpunkt des Beitrags von Paul Zanker ("Die mythologischen Sarkophagreliefs als Ausdruck eines neuen Gefühlskultes. Reden im Superlativ") stehen römische Sarkophagreliefs seit der hadrianischen Zeit, die mit Hilfe mythologischer Allegorien die Bestatteten charakterisieren (Totenlob) oder den Schmerz ihres Verlustes beschreiben (Trauerhilfe). Beide Möglichkeiten sowie deren Darstellungsform erläutert Zanker, wobei er vor allem auf das Totenlob eingeht, so etwa auf mythische (unglückliche) Liebespaare als Darstellung der bürgerlichen Eheleute. In diesen Reliefs erkennt er eine neue Form der Vermittlung von Tugenden und Gefühlen, die er mit in den Grabgedichten zum Ausdruck kommenden vergleicht (z.B. bürgerliche Tugenden). Neben allgemeinen Veränderungen wie den zunehmenden Gefühlsäußerungen und der Privatisierung des Grabbereichs in der Bestattungspraxis führt er auch andere Beispiele an, in denen der Mythos als Sprache verwendet wird. Diese Sprach- und Grabrepräsentation sieht Zanker im Kontext einer neuen Erinnerungskultur der "Introvertierung".

Im Beitrag von Wilfried Nippel ("Der Apostel Paulus - ein Jude als römischer Bürger") wird anhand der Apostelgeschichte die Relevanz des Besitzes des römischen Bürgerrechts für Paulus und andere jüdische Mitbürger im 1. Jahrhundert n.Chr. verdeutlicht. Interessant ist der Hinweis auf die mehrschichtigen Identitäten des Apostels, die sich in seinem Lebensverlauf und dem entsprechenden Rechtsstatus auswirkten. Sehr deutlich zeigt sich dies in der Schutzfunktion des römischen Bürgerrechts, von dessen Privileg der Apostel jedoch nur im Notfall Gebrauch machen konnte und wollte, da einerseits die Rechtslage und die Ermessensspielräume nicht eindeutig waren und andererseits seine Zugehörigkeit zum Judentum auf dem Spiel stand.

Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer ("Bürger sein in den griechischen Städten des römischen Kaiserreiches") thematisiert die Bürgerschaftspraxis oströmischer polítes in ihren Poleis während der Kaiserzeit, indem er deren Identität in praktisches Bürgersein, reflexiven Bürgersinn und normatives Bürgerbild untergliedert. Am Beispiel einer Rede Dions von Prusa sowie Plutarchs Moralia zeigt er die Veränderungen, die sich insbesondere für die Poleis aus der Angliederung an das Römische Reich ergaben (Orientierungskrise des Adels). Danach widmet sich Meyer-Zwiffelhoffer dem griechischen Bürgerkonzept zunächst aus Sicht der Quellen, dann aus Sicht seiner Bürgerkategorien und legt dar, wie diese die Polis in architektonisch-baulicher Hinsicht prägten. Die letzten Punkte seines Beitrages behandeln drei Bereiche der Polis-Identitätsbildung: die polisbezogene, aristokratische Identitätsbildung (aristopoliteia und proteia), die Repräsentation der sozialen Ordnung im Rahmen der städtischen Rituale (pompaí und dianomaí) und die politische Identität des Demos (cheirotonía und epibóesis).

Aloys Winterling ("Über den Sinn der Beschäftigung mit der antiken Geschichte ") begründet schließlich mit drei Thesen den Sinn einer Beschäftigung mit Alter Geschichte: Zuviel Beschäftigung mit Alter Geschichte bedrohe diesen Sinn gegenwärtig (z.B. in der Quantität der Bibliografien und Nachschlagewerke); Sinn liege in der immer wieder neuen Herstellung statt der Bewahrung antiker Geschichte; Sinn sei die Neutralisierung der Wirkungen, die antike Vergangenheit auf die Gegenwart ausübe (z.B. über den Unterschied zwischen modernen und antiken Demokratien).

Anmerkungen:
1 Braun, M., Die Eumeniden des Aischylos und der Areopag (Classica Monacensia 19), Tübingen 1998; Flashar, H., Orest vor Gericht, in: Eder, W.; Hölkeskamp, K.-J. (Hg.), Volk und Verfassung im vorhellenistischen Griechenland. FS K.-W. Welwei, Stuttgart 1997, S. 99-111; Schubert, Ch., Der Areopag als Gerichtshof, ZRG 117 (2000), S. 103-132.

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