A. Göhres u.a (Hgg): Als Jesus arisch wurde

Titel
Als Jesus "arisch" wurde. Kirche, Christen, Juden in Nordelbien 1933-1945. Die Ausstellung in Kiel


Herausgeber
Göhres, Annette; Linck, Stephan; Liß-Walther, Joachim
Erschienen
Bremen 2003: Edition Temmen
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Wolfes, Institut für Evangelische Theologie, Freie Universität Berlin

Der Band dokumentiert die vom Nordelbischen Kirchenarchiv erarbeitete Wanderausstellung „Kirche, Christen, Juden in Nordelbien 1933-1945“, die am 20. September 2001 in Rendsburg erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.1 Die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Landeskirche wählte damit einen im gesamten Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bisher einzigartigen Weg, um sich mit ihrer Geschichte während des Dritten Reiches auseinanderzusetzen. Begleitet wurde die Ausstellungsinitiative von einem synodalen Diskussionsprozess über das Verhältnis von Christen und Juden. Die wissenschaftliche und mediale Thematisierung antisemitischer kirchlicher Traditionen war auf diese Weise von Anfang an mit der Absicht verknüpft, zu einer Neubestimmung des christlichen Verhältnisses zum Judentum, das heißt zu einer historisch und theologisch fundierten Neueinschätzung der Bedeutung jüdischer Frömmigkeit und Kultur für die eigene Religiosität zu gelangen. Das Ergebnis dieser Bemühung liegt in der Synodalerklärung „Christen und Juden“ vom September 2001 vor.2

Leicht skurril mutet der Bericht der Herausgeber über die unmittelbare Veranlassung des Ausstellungsprojektes an. Im Zusammenhang mit einer früheren kirchlichen Erklärung aus Anlass des 60. Jahrestages des Novemberpogroms war nämlich die Frage aufgeworfen worden, ob im derzeit geltenden landeskirchlichen Recht antijüdische Vorschriften, die zwischen 1933 und 1945 in den Vorgängerlandeskirchen von Eutin, Hamburg, Lübeck und Schleswig-Holstein gegolten hatten, formal noch in Kraft stünden. Hierdurch wurde nicht allein eine prekäre Rechtssituation offen gelegt, sondern es zeigte sich auch, dass die wissenschaftliche Erschließung entsprechender Materialien weitgehend noch ausstand. Mit der Ausstellung ist nun die rechtshistorische und die archivalische Problematik auf eine andere, inhaltliche Ebene gehoben worden. Sie bietet vielfältige Anknüpfungspunkte, um in eine differenzierte, sachlich fundierte Beschäftigung mit der Thematik „Kirche und Nationalsozialismus“ einzutreten. Hierzu dürfte auch der Umstand beitragen, dass an den jeweiligen Ausstellungsorten zusätzliche Akzentsetzungen in die Programmgestaltung eingehen und so die Diskussion auch auf lokale, bisweilen örtlich eng begrenzte Vorgänge und Sachverhalte Bezug nehmen kann. Erste Erträge dieses offenen Diskussions- und Forschungsprozesses sind bereits zu verzeichnen.3

Wie in allen anderen Teilen des Deutschen Reiches, ging auch in der nördlichsten preußischen Provinz nach 1933 von der nationalsozialistischen Weltanschauung eine starke Anziehungskraft auf den evangelisch-kirchlichen Bereich aus. Gering war die Zahl derer, die offen den totalitären Anspruch der NS-Ideologie als unvereinbar mit dem christlichen Glauben bezeichneten und sich insofern in einen Gegensatz zum Staat des Dritten Reiches stellten. Demgegenüber gehörten bereits vor 1933 siebenundzwanzig Prozent der schleswig-holsteinischen Pfarrer der NSDAP an. Im Jahr der Machtergreifung bekannten sich siebzig Prozent von ihnen zur nationalsozialistisch geprägten Glaubensbewegung „Deutsche Christen“. Durch die starke Präsenz der Deutschen Christen innerhalb der kirchenadministrativen Instanzen kam es in Schleswig-Holstein und auch in Hamburg binnen kurzer Zeit dazu, dass in der öffentlichen kirchlichen Darstellung die Zielsetzungen der NS-Staatsführung akzeptiert und bekräftigt wurden. In der Konsequenz bedeutete dies etwa, dass der staatliche Antisemitismus zur Richtlinie auch für die innerkirchliche Gesetzgebung wurde. Kirchliche Einrichtungen wurden nach politischen Vorgaben geführt; das Gemeindeleben bis hin zur Gottesdienstgestaltung unterlag in erheblichem Maße religionsfremden Prämissen.

Die Synodaltagung vom 12. September 1933, die die ersten Schritte zu einer judenfeindlichen Kirchengesetzgebung in Schleswig-Holstein unternahm, wurde von mehrheitlich in NS-Uniform gekleideten Mitgliedern abgehalten, weshalb Bischof Mordhorst die Anwesenden in seiner Predigt mit „Ihr Männer im Braunhemd“ ansprechen konnte. Neun Jahre später war, parallel zur behördlichen Identifizierung, Ausgrenzung und gewaltsamen Separierung von Personen jüdischer Herkunft – also jener Maßnahmen, die der planmäßigen Ermordung vorausgingen –, auch der kirchliche Isolationsprozess abgeschlossen: Am 10. Februar 1942 erging seitens des Kieler Landeskirchenamtes ein Erlass, wonach durch „die christliche Taufe [...] an der rassischen Eigenart des Juden, seiner Volkszugehörigkeit und seinem biologischen Sein nichts geändert“ werde. Eine deutsche evangelische Kirche habe aber das religiöse Leben deutscher „Volksgenossen“ zu pflegen und zu fördern. Infolgedessen könnten evangelische Christen mit jüdischer Familienherkunft, so genannte „rassejüdische Christen“, keinen Anspruch auf kirchliche Zugehörigkeit und Solidarität erheben. Ihnen komme in der Kirche „kein Raum und kein Recht“ zu. Unterzeichnet hatte diesen Erlass der Präsident des Kirchenamtes, Christian Kinder, der in der Anfangsphase des NS-Staates als „Reichsleiter“ der Deutschen Christen fungiert hatte.

Vor diesem mehr als deprimierenden Hintergrund wird die im Dokumentationsband jetzt noch einmal eingehend begründete Ausstellungskonzeption von der Frage geleitet, wie sich die im Handeln der Kircheninstitutionen repräsentierte Öffnung des kirchlichen Selbstverständnisses für die Staatsidee und Gesellschaftsvision des Nationalsozialismus auf das kirchliche Leben ausgewirkt hat. Zwei Aspekte werden dabei besonders betont: die Ausgrenzung der Kirchenmitglieder jüdischer Herkunft aus dem kirchengemeindlichen Alltag über diverse religiös, rechtlich und ideologisch motivierte Strategien sowie der Niederschlag, den dieses Vorgehen sowohl bei den kirchlich Verantwortlichen als auch bei den betroffenen Personen „in der Bandbreite möglichen Verhaltens“ gefunden hat (S. 10). Hiergegen ist von Kritikern eingewandt worden, die Komplexität der Geschehnisse lasse sich nur unzulänglich im Medium biografischer Darstellung aufnehmen. Doch stellt – wovon der Rezensent sich bei einem Besuch überzeugt hat – die Ausstellung einen hinreichend klaren Beurteilungsrahmen bereit, um die jeweilige individuelle Situierung einschätzen zu können.

Sofern dennoch in der biografischen Zentrierung ohne Zweifel eine pragmatische, dem unmittelbaren Ausstellungszweck geschuldete Selbstbeschränkung zur Geltung kommt, so bietet der Dokumentationsband nunmehr ein breites Spektrum an einschlägigen Materialien und weitergehenden Studien zu einzelnen Aspekten der Thematik. Über die vollständige Wiedergabe aller in der Ausstellung mitgeteilten Informationen hinaus, widmen sich eingehende Beiträge dem Problem, „wie das Christentum zum wichtigsten Transporteur antisemitischen Denkens werden konnte“ (S. 11). 4 Dies geschieht durch Studien zur christlichen Fundierung der abendländischen Judenfeindschaft (Siegfried Bergler), zur judenfeindlichen Einstellung Martin Luthers (Jörgen Sontag), zum Antisemitismus in der schleswig-holsteinischen Landeskirche (Stephan Linck), zu Wilhelm Halfmanns Schrift „Die Kirche und der Jude“ von 1936 – Halfmann war Mitglied der Bekennenden Kirche und seit 1946 Bischof für Holstein – (Klauspeter Reumann), zur Verbindung der schleswig-holsteinischen Landeskirche mit dem berüchtigten Eisenacher „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ (Hansjörg Buss) 5, zur Lage jüdischer Kinder und Jugendlicher in Schleswig-Holstein unter dem NS-Regime (Bettina Goldberg) sowie zur Rolle der Katholischen Kirche in den Jahren 1933 bis 1945 (Bernd Gaertner). Die Beiträge zeichnen, auch wenn man qualitative Unterschiede nicht in Abrede stellen wird, in ihrer Gesamtheit doch ein sehr prägnantes Bild. Zum Teil beruhen sie auf intensiven Studien; Neuland erschließt der Beitrag von Frau Goldberg. Unklar bleibt, weshalb sich die Theologische Fakultät der Universität Kiel weder am Vortragsprogramm noch am Dokumentationsband beteiligt hat. 6 Doch hat sie immerhin durch Vorarbeiten zu einer Ausstellungssektion über ihr früheres Mitglied, den Systematischen Theologen Hermann Mulert, die Ausstellungsgestaltung indirekt mit beeinflusst.7

Die Ausstellung konzentriert sich auf den Zeitraum der zwölf Jahre des Dritten Reiches. Im Blick auf die jetzt vorliegende Dokumentation hätte man sich gewünscht, dass auch die Zeit vor 1933 stärker in den Blick genommen worden wäre. Denn die breite Zustimmung, wie sie in den Jahren des Umbruchs 1933/34 gerade aus dem kirchlich orientierten protestantischen Milieu gegenüber der NS-Programmatik, einschließlich ihrer antisemitischen Fundierung, signalisiert wurde, lässt sich nicht verstehen, wenn man nicht auf die zutiefst antidemokratische Einstellung der meisten evangelischen Kirchenrepräsentanten der 1920er-Jahre zurückgeht. In zahlreichen öffentlichen Erklärungen machte die Kirche ihre Ablehnung der Weimarer Republik immer wieder deutlich. Ebenso bildet die meist latente, oft genug aber auch völlig unverdeckte Judenfeindschaft großer Teile der evangelischen Pfarrerschaft einen wichtigen Aspekt, wenn man nach Gründen für die Akzeptanz sucht, die der antisemitischen Vorgehensweise des Staates seit 1933 seitens des protestantischen Bürgertums entgegengebracht wurde.

Die Ausstellung selbst, aber auch das bisher vorliegende außerordentlich intensive öffentliche Echo auf sie macht die Notwendigkeit einer breitenwirksamen Auseinandersetzung mit der Verstrickung der evangelischen Kirche in die Realität der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft deutlich. 8 Es scheint allerdings bei den meisten Landeskirchen noch ein starkes Hemmnis wirksam zu sein, das erst allmählich, und zwar vor allem über biografische Forschungen zu einzelnen Kirchenführern, abgebaut wird. Die Antisemitismusproblematik unterliegt vielfach noch einem Tabu, dessen forschungspraktische Auswirkungen durch die permanente Konzentration auf den kirchlichen Widerstand kompensiert werden soll. Gerade aber die lutherischen Landeskirchen müssen an dieser Stelle zu äußerster Selbstkritik bereit sein, um zu einer der Thematik angemessenen Haltung zu gelangen. Die Ausstellung „Kirche – Christen – Juden“ der Nordelbischen Landeskirche hat den Weg gewiesen, und es steht zu hoffen, dass man ihrem Beispiel auch andernorts folgen wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu die Rezension von Uwe Schmidt für H-Soz-u-Kult vom 28. Mai 2003: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=16&type=rezausstellungenngen. Auf diese Besprechung bezieht sich eine kritische Stellungnahme der Hamburger Theologen Wolfgang Grünberg und Siegfried von Kortzfleisch vom 28. Juli 2003; siehe auch Schmidts am gleichen Tag veröffentlichte Replik.
2 „Christen und Juden“. Erklärung der Synode der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Rendsburg, den 22. September 2001; zugänglich unter: http://www.nordelbien.de/nordelbien/nor.abisz.synode/nor.synode.archiv/nor.synode.archiv.bs/berichtesyn.22/index.html
3 So ist im Zusammenhang mit der Präsentation der Ausstellung in Altona eine kirchenkreisbezogene Zusatzstudie vorgelegt worden: Liesching, Bernhard „Eine neue Zeit beginnt.“ Einblick in die Propstei Altona 1933-1945, Hamburg 2002.
4 Die meisten Beiträge gehen auf Vorträge zurück, die an unterschiedlichen Orten im Zusammenhang mit der Ausstellung gehalten wurden.
5 Buss geht auch auf die Rolle von zwei Kieler Theologieprofessoren, Hartmut Schmökel und Martin Redeker, näher ein (S. 181-184). Mit Recht stellt er fest: „Eine kritische Aufarbeitung der Tatsache, dass die überwiegende Anzahl der Theologen und Professoren, die dem Eisenacher Institut als Mitarbeiter angehörten, nach 1945 in Amt und Würden blieben und welche Auswirkungen und Bedeutung dies auch für die deutsche Nachkriegstheologie hatte und hat, steht noch aus“ (S. 185).
6 Die Herausgeber nehmen hierauf nur andeutungsweise Bezug; vgl. S. 10.
7 Vgl. S. 72f. (Station 7). Mulert (1879-1950), ein einflussreicher Vertreter der liberalprotestantischen Richtung in der zeitgenössischen Theologie, gehörte in den 1920er-Jahren dem „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ an. 1935 legte er aus Protest gegen die politischen Eingriffe der NS-Regierung in das Hochschulwesen seine Professur nieder. Im Folgejahr wurde der erwähnte Martin Redeker (1900-1970; emeritiert 1969) sein Nachfolger.
8 Vgl. hierzu die auf der Internetseite http://www.kirche-christen-juden.de zugänglich gemachten zahlreichen Stellungnahmen in der Presse und sonstigen Berichterstattung.

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