F.-W. Henning (Hg.): Krisen und Krisenbewältigung

Titel
Krisen und Krisenbewältigung vom 19. Jahrhundert bis heute.


Herausgeber
Henning, Friedrich-Wilhelm
Erschienen
Frankfurt am Main 1998: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
213 S.
Preis
DM 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Björn Hansen, Sekretariat, Gesellschaft fuer Schleswig-Holsteinische Geschichte , Schönberg/Holstein bzw. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Ob man aus der Geschichte lernen kann oder nicht, ist ein alter Streit, der hier nicht entschieden werden kann. Auf jeden Fall ist es sehr lohnend, sich anzusehen, wie man in der Vergangenheit mit wirtschaftlichen Krisen umgegangen ist und auf welche Art sie - falls ueberhaupt - von den Unternehmen, ganzen Branchen oder Volkswirtschaften gemeistert wurden. Zudem relativiert der Blick auf vergangene Krisen die vermeintlich schlechte wirtschaftliche Lage der Gegenwart. Einen guten Zugang zum Thema "Krise" bietet der von Friedrich-Wilhelm Henning herausgegebene Tagungsband "Krisen und Krisenbewaeltigung vom 19. Jahrhundert bis heute". Der Band geht zurueck auf eine Tagung, die 1995 in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft fuer Unternehmensgeschichte stattfand. Er enthaelt sechs Vortraege ueber Krisen in den Branchen Textil, Stahl und Elektroindustrie sowie einen Beitrag zum Thema Kartelle. Trotz der Beschraenkung auf drei Branchen behandeln die einzelnen Fallbeispiele sehr unterschiedliche Krisenphaenomene, bei denen verschiedene Strategien zur Krisenueberwindung zum Einsatz kamen.

Die sieben Vortraege im einzelnen:

Clemens Wischermann beschaeftigt sich im ersten Beitrag mit dem Textilgewerbe in Deutschland im Umbruch zur Industrialisierung. Das laendliche Textilgewerbe geriet aufgrund der verstaerkten internationalen Konkurrenz in der ersten Haelfte des 19. Jahrhunderts in eine tiefe Strukturkrise. Nur in einigen Gebieten gelang es, diese Krise zu meistern. Anhand von zwei regionalen Beispielen - der Raum um Bielefeld sowie das Westmuensterland - legt Wischermann Gruende fuer eine erfolgreiche Krisenbewaeltigung dar. Im Hintergrund steht dabei die Frage, ob allein in einer langen Textil-Tradition einer Wirtschaftsregion der Schluessel fuer eine geglueckte Anpassung an die stark veraenderten Rahmenbedingungen liegen konnte. Im Raum Bielefeld sorgten die Leinenkaufleute fuer eine Ueberwindung der Krise, da sie die Leinenproduktion in Eigenregie uebernahmen, nachdem die Institution der Legge eine Modernisierung lange verhindert hatte. Das Westmuensterland profitierte hingegen von niedrigen Loehnen und der staatlich gefoerderten Modernisierung des Baumwollgewerbes im benachbarten niederlaendischen Twente; von hier aus konnten seit den 1830er Jahren qualifizierte Arbeitskraefte nach Westfalen abgeworben werden. Wischermann kommt aufgrund dieser beiden Fallbeispiele zum Ergebnis, dass die Krise des Textilgewerbes im Uebergang zur Industrialisierung nicht allein dadurch gemeistert werden konnte, dass in einer Region eine lange Tradition im Textilbereich bestand. In beiden betrachteten Regionen kam der Anstoss hin zu einer modernen Textilproduktion von aussen: Im Westmuensterland sorgten familiaere Bande in die Niederlande dafuer, dass von der modernen Entwicklung in Twente profitiert werden konnte. In Bielefeld suchte eine wohlhabende, an einem Ort konzentrierte Kaufmannschaft nach neuer Betaetigung und fand sie in der Leinenherstellung.

Konrad Neudoerfers Thema ist ebenfalls die Textilindustrie. Er beschreibt die Entwicklung dieser Branche seit 1945 in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Zwar brachten ein Mangel an Arbeitskraeften - verursacht durch das im bundesdeutschen Vergleich niedrige Lohnniveau - und eine immer staerkere internationale Konkurrenz die Textilindustrie seit den 60er Jahren zunehmend unter Druck; zu einer Strukturkrise kam es nach Ansicht von Neudoerfer jedoch erstmals Anfang der 80er Jahre. Dies ist seiner Meinung nach dann der Fall, wenn durch Zusammenwirken von strukturellen und konjunkturellen Faktoren eine Branche erheblich, dauerhaft und sprunghaft zu schrumpfen droht. Die gesamtwirtschaftliche Rezession Anfang der 80er Jahre sowie textilspezifische Strukturprobleme (Anstieg der Importe, Verschlechterung der Standortbedingungen, Verringerung der Ausgaben fuer Textilien durch die Konsumenten) hatten zur Folge, dass von 1981 bis 1983 die Textilindustrie bei Beschaeftigung und Produktion in kurzer Zeit starke Rueckgaenge zu verzeichnen hatte. Seit Mitte der 80er Jahre stabilisierte sich die Lage der Textilindustrie wieder - die Krise wurde durch den Markt ueberwunden. Eine zweite Strukturkrise praegt die Zeit seit 1992. Die Krise begann parallel mit der gesamtwirtschaftlichen Rezession Anfang der 90er Jahre und setzte sich weiter fort, als sich die anderen Branchen bereits wieder erholten. Besonders problematisch fuer die bundesdeutsche Textilindustrie wirken sich die weltweiten Ueberkapazitaeten und die hohen Lohnkosten im Inland aus. Wann der schnelle Schrumpfungsprozess der Textilindustrie beendet sein wird, ist nach Ansicht von Neudoerfer nicht abzusehen.

Ulrich Wengenroth beschaeftigt sich in seinem Vortrag mit der deutschen Stahlindustrie und ihrer Strategie zur Loesung von Krisen im Kaiserreich und der Zwischenkriegszeit. Diese Branche ist aufgrund ihrer Produkte (Investitionsgueter, Halbfabrikate) besonders stark den Schwankungen des Marktes unterworfen und somit sehr krisenanfaellig. Waehrend der Krise von 1874 befand sich die Stahlindustrie im Umstellungsprozess zu neuen Massenstahlverfahren mit groesseren Produktionskapazitaeten. Dieser Schub bei der Produktivitaet und den Kapazitaeten fiel zusammen mit fallenden Preisen und einem Rueckgang der Nachfrage in der Wirtschaftskrise. Die Krise der Branche haette nun durch eine Marktbereinigung bewaeltigt werden koennen, in der die ueberschuessigen Kapazitaeten abgebaut worden waeren. Die Banken wollten jedoch die Investitionen der Stahlunternehmen in die neue Technologie schuetzen, da die Kreditinstitute als Eigentuemer und Glaeubiger am wirtschaftlichen Wohlergehen vieler Stahlunternehmen lebhaftes Interesse besassen. Auf ihren Impuls hin wurde daher 1876 die "Schienengemeinschaft" als umfassendes Kartell der deutschen Stahlwerke gegruendet und auf diese Weise die Krise bewaeltigt. Das Kartell sorgte fuer ein hohes Preisniveau, wodurch die Stahlindustrie - trotz weiter bestehender Ueberkapazitaeten - profitabel arbeiten konnte und ihre Investitionen nicht verlor. Mitte der 1920er Jahre geriet die kartellierte deutsche Stahlindustrie durch Ueberkapazitaeten so stark unter Druck, dass es, um eine Marktbereinigung erneut zu vermeiden, zur Verzweiflungsgruendung der "Vereinigten Stahlwerke" kam. Sie fassten etwa die Haelfte der deutschen Produktionskapazitaeten zusammen. Dieses Grossunternehmen bekam in der Weltwirtschaftskrise akute Probleme und konnte 1932 nur durch die Uebernahme der Aktienmehrheit durch den Staat gerettet werden. Wengenroth kommt zu dem Schluss, dass marktwirtschaftliches Verhalten in der deutschen Stahlindustrie seit 1870 allmaehlich seine Attraktivitaet verloren hat und regelrecht verlernt wurde. In den Fuehrungsetagen hatte sich ein staendisch-technokratisches Denken manifestiert, das zur Loesung von Krisen auf Mechanismen ausserhalb der Unternehmen setzte.

Werner Plumpe beschreibt die Entwicklung der Stahlindustrie in der Bundesrepublik. Im Mittelpunkt steht dabei die starke Strukturkrise seit 1975 und die moeglichen Bewaeltigungsstrategien. Anders als im Kaiserreich und in der Zwischenkriegszeit favorisierte die westdeutsche Stahlindustrie hier eine marktwirtschaftliche Loesung, da sie innerhalb Westeuropas die mit Abstand produktivste Industrie war und zudem durch ihre diversifizierte Produktion Alternativen jenseits des Stahls besass. Die zum grossen Teil veraltete westeuropaeische Konkurrenz, darunter besonders die franzoesischen Hersteller, forderten die Ausrufung der Krisenlage nach dem Montanunionvertrag mit einer staatlichen Regulierung der Preise, Produktionsquoten und Importkontingente. Als Kompromiss kam es zu einem privatwirtschaftlichen Kartell ("Eurofer"), in dem sich die europaeischen Hersteller freiwillig auf Quoten und Preise einigten. Da die Stahlindustrien der anderen Staaten gegenueber den deutschen Herstellern aber auf Dauer nicht konkurrenzfaehig waren, staerkten die anderen EG-Staaten die heimischen Produzenten mit Subventionszahlungen und verzerrten auf diese Weise die Marktverhaeltnisse. Als sich die Krise ab 1980 weiter verschaerfte, Eurofer auseinanderbrach und nun ebenfalls in Westdeutschland Subventionen fuer die Stahlindustrie gezahlt wurden, stimmte auch die Bundesrepublik einer staatlichen Marktregulierung durch die Montanunion zu; dies bedeutete festgelegte Mindestpreise und Produktionsquoten auf europaeischer Ebene. Erst 1988, nachdem ein grosser Teil der Strukturlasten abgebaut worden waren, wurde dieses System wieder beseitigt.

Wilfried Feldenkirchens Thema ist die Krise der deutschen Elektroindustrie am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Ursache der Krise waren Probleme im "Unternehmergeschaeft", das im Mittelpunkt seines Vortrages steht. Das Unternehmergeschaeft ist eine Absatzstrategie fuer groessere Anlagen (E-Werke, Elektrifizierung von Pferdebahnen), bei der die Unternehmen der Elektroindustrie nicht nur die Anlagen lieferten, sondern sie auch finanzierten sowie zeitweise oder auf Dauer in eigener Regie betrieben. Da viele Kommunen Ende des 19. Jahrhunderts die hohen finanziellen Risiken fuer den Bau von elektrischen Anlagen nicht tragen wollten, musste die Elektroindustrie eine neue Vermarktungsstrategie einsetzen und im Rahmen des Unternehmergeschaefts nun auch die Funktion von Energieversorgungsunternehmen und Finanziers uebernehmen. Die Elektrounternehmen gruendeten dazu Tochtergesellschaften als AGs, die die neuen Anlagen betrieben und finanzierten. Da das Unternehmergeschaeft anfaenglich sehr profitabel lief, setzte es sich seit Mitte der 1880er Jahre rasch durch. Einer Hochkonjunktur der Elektroindustrie Mitte der 1890er Jahre folgte eine Krise, als die Saettigungsgrenze des Marktes erreicht wurde. Eine besondere Rolle spielten dabei Probleme beim Unternehmergeschaeft. Es band langfristig grosse Kapitalmengen und bedeutete ein hohes Risiko fuer den Fall, dass die Nachfrage nicht so weiter wuchs, wie sie es in der Vergangenheit getan hatte. Da die Kommunen als Auftraggeber von Unternehmergeschaeften wegen der verstaerkten Konkurrenz auf dem Elektromarkt die Preise der Anlagen zu druecken begannen, verringerte sich die Rentabilitaet vieler Anlagen. Es kam ab 1901 zu einer allgemeinen Finanzkrise in der Elektroindustrie, der einige Elektrounternehmen und Banken zum Opfer fielen. Siemens & Halske sowie die AEG konnten die Schwaeche ihrer Konkurrenten nutzen und sich zahlungsunfaehige Firmen angliedern. Diese beiden Grossunternehmen gingen als beherrschende Konzerne der deutschen Elektroindustrie aus der Krise hervor.

Franz-Josef Wissing widmet sich in seinem Beitrag der Lage der Elektroindustrie in der Bundesrepublik. Diese Branche hat das letzte halbe Jahrhundert ohne Krisen ueberstanden - nur in den Rezensionsjahren 1967, 1975 und 1992/93 flachte das Wachstum kurzfristig ab. Nach seiner Meinung befindet sich die Branche auch heute nicht in einer Krise, sondern nur in einer Phase der "entschiedenen Herausforderung". Zur Charakterisierung der aktuellen Lage der deutschen Elektroindustrie greift Wissing zwei Bereiche heraus, in denen besondere Herausforderungen bestehen: Dies sind zum einen die Folgen des technologischen Wandels mit einer wachsenden Bedeutung der Mikroelektronik und der Softwareindustrie. Zum anderen beschaeftigt er sich mit dem weltweiten Wandel der Maerkte; bedeutend fuer Deutschland sind hierbei die verstaerkte internationale Arbeitsteilung, das Aufholen ehemaliger Entwicklungslaender im technologischen Bereich und die geringen Investitionen des Auslands in Deutschland. Wenngleich die aktuelle Lage eine Herausforderung fuer die deutsche Elektroindustrie darstellt, geht Wissing doch davon aus, dass die Situation gemeistert werden kann.

Harm G. Schroeter beschaeftigt sich im letzten Vortrag mit Kartellen als Versuch der Krisenbewaeltigung. Dazu skizziert er die wichtigsten, zum Teil internationalen Kartelle in Industriebranchen der letzten 120 Jahre. Schroeter geht dabei der Frage nach, ob die Kartelle wirklich nur zum Zweck der Krisenbewaeltigung - als "Kinder der Not" - gegruendet wurden, oder ob bei ihnen nicht auch noch andere Faktoren von Bedeutung waren. Es zeigt sich, dass viele Kartelle nicht in Krisenzeiten errichtet wurden. Die Kartell-Mitglieder verfolgten oft eindeutig langfristige Ziele und behielten das Kartell, auch nach Ende der akuten Krise, ueber Jahrzehnte bei. In einigen Faellen dauerte der Aufbau des Kartells sehr lange - zu lange, als dass die Kartelle als Kriseninstrument haetten wirken koennen. Durch die Gruendung einiger Kartelle wurde erst eine krisenhafte Situation verursacht, anstatt eine Krise abzuschwaechen. In der Zeit bis 1945 herrschte in weiten Kreisen die Meinung, dass durch Kartelle krisenhaften Entwicklungen des Kapitalismus vorgebeugt werden koennte, auch wenn durch tatsaechliche Kartellgruendungen nur selten auf konjunkturelle Krisen reagiert wurde. Seit 1945 wurden Kartelle hingegen zunehmend negativ bewertet, da das amerikanische Modell des freien Wettbewerbs sich als ueberlegen erwiesen hatte und die USA eine allgemeine Dekartellierung in Europa foerderten.

Das Buch lebt von der Vielfaeltigkeit der betrachteten Krisen und Versuche zur Krisenbewaeltigung. Die meisten Aufsaetze sind sehr lesenswert. Wie bei jedem Tagungsband stellt sich auch hier die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den sieben Beitraegen. Leider haben die einzelnen Autoren sich nicht an einem genau definierten Krisenbegriff orientiert. Daher beschaeftigt sich dieser Sammelband mit sehr unterschiedlichen Phaenomenen. Diese koennen zwar alle mit dem Begriff Krise belegt werden; eine schaerfere Definition des Untersuchungsgegenstands und die Beschraenkung auf Krisen eines bestimmten Typs - beispielsweise Strukturkrisen - haetten diesem Sammelband meiner Meinung nach viel gebracht, Vergleiche zwischen den betrachteten Entwicklungen vereinfacht und der Erforschung oekonomischer Krisen mehr genuetzt. So gibt es nur wenig Verbindendes zwischen den sieben Beitraegen. Schade ist, dass bei einem Teil der Aufsaetze komplett auf Fussnoten und Literaturhinweise verzichtet wurde und dass auf Krisentheorien kaum eingegangen wurde.

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