Titel
Clemens Freiherr von Schorlemer (1856-1922). Preußischer Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten der Jahre 1910-1917


Autor(en)
Gerhold, Dieter
Anzahl Seiten
338 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhold Zilch, Arbeitsstelle "Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817-1934/38", Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Die biografische Literatur zur Geschichte des späten Wilhelminischen Deutschland sowie des Ersten Weltkrieges weist erhebliche Lücken auf. Während für die Reichskanzler Bernhard Fürst v. Bülow, Theobald von Bethmann Hollweg, Georg Graf von Hertling und Maximilian Prinz von Baden sowie die militärischen Führer Paul von Beneckendorff und von Hindenburg, Erich von Ludendorff, Alfred von Tirpitz und Wilhelm Groener, schließlich natürlich überreichlich zu Wilhelm II. selbst Lebensbeschreibungen bzw. eingehende Analysen des Wirkens in jenen für Deutschland so schicksalhaften Jahren vorliegen, fehlen aus den Quellen gearbeitete Studien zu vielen anderen politischen Hauptakteuren wie z.B. zu den meisten preußischen Staatsministern und zu fast allen Reichsstaatssekretären. In diese Lücke stößt Dieter Gerhold mit einer Münsteraner Dissertation aus dem Jahre 2002, die dem Wirken des Landwirtschaftsministers Clemens Freiherr von Schorlemer gewidmet ist. Dem Titel entsprechend beschäftigt sich der Hauptteil der Darstellung (S. 45-238) mit jenen knapp sieben Jahren im Leben Schorlemers, in denen er als Minister einem wichtigen preußischen Ressort vorstand und darüber hinaus aufgrund der spezifischen staatsrechtlichen Struktur des Kaiserreichs die Grundlinien der Agrarpolitik in ganz Deutschland mitbestimmte. Dabei wird der Zeit nach August 1914 annähernd so viel Platz eingeräumt wie der Periode bis zum Kriegsausbruch.

Nach einer kurzen Einleitung (S. 5-12), die die Notwendigkeit einer Schorlemer-Biografie ausführt und den unbefriedigenden Forschungsstand skizziert, widmet sich Gerhold dem „Lebenslauf vor 1910“ (S. 13-44). In dem Bemühen, das familiäre Umfeld des Protagonisten sowie die Stellung des rheinisch-westfälischen Freiherrengeschlechts zu beschreiben, werden überreich regional- sowie lokalgeschichtliche Details angeführt, wobei zu fragen ist, welchen biografischen Wert z.B. genau belegte Angaben wie jene haben, dass der Ort Lieser seit dem Jahre 634 datiert ist (S. 17, Anm. 17). Dieser Positivismus steht im Gegensatz zu der fast lexikonhaften „Abarbeitung“ des Lebenslaufs während der ersten Karriereschritte Schorlemers auf rund zweieinhalb Seiten (S. 14-16) vom Beginn des Jura-Studiums 1874 bis zum ersten (kommissarischen) Landratsamt 1888. Unklar bleibt, warum der Autor das reiche Material zur Ausbildung Schorlemers als Assessor und Referendar, das in den von Gerold eingesehenen Personalakten überliefert ist, fast nicht ausgewertet hat. Examensklausuren und Probearbeiten mit dazugehörigen Gutachten hätten unter Umständen Aussagen zu juristischen Spezialkenntnissen bzw. wissenschaftlichen Vorlieben geben können; dienstliche Beurteilungen hätten weitere Anhaltspunkte dafür liefern können, warum gerade dieser junge Beamte unter Tausenden Mitbewerbern den Schritt bis zum Minister schaffte. Ebenso hätte z.B. ein Immediat-Gesuch der Schwiegermutter Schorlemers, Hyancinthe Puricelli, den Schwiegersohn nicht als Oberpräsidialrat weit weg nach Breslau zu berufen, sondern ihn in der Nähe, als Regierungspräsident in Düsseldorf zu verwenden, ein Schlaglicht auf Familienbande sowie erhoffte bzw. tatsächliche Beziehungen zum Kaiser werfen können. 1

Gerhold benutzt für den Hauptteil der Arbeit keine rein chronologische Darstellung, sondern wählt politische Schlüsselprobleme aus, um das Handeln seines Protagonisten zu exemplifizieren. Für die ersten vier Jahre ist das die sog. Ostmarkenpolitik (S. 57-96), während weitere Tätigkeitsfelder des Landwirtschaftsministers kürzer abgehandelt werden: Neben zwei Unterabschnitten „Ernaehrungspolitik“ (S. 106-117) sowie „Finanzielle Deckung der Militärvorlagen von 1912 und 1913“ (S. 118-120) gibt es eine knappe Aufzählung „Gesetzesarbeit des landwirtschaftlichen Ressorts“ (S. 96-106). Für die Zeit ab August 1914 heißt der Schwerpunkt natürlich „Kriegsernährungswirtschaft“ (S. 148-200); hinzu kommen „Ostmarken- und Polenpolitik“ (S. 207-210), „Änderung des Reichsvereinsgesetzes (1915/16)“ (S. 210-214) und „Preußische Wahlrechtsfragen“ (S. 214-224). Der „Rest“ wird wiederum unter „Gesetzgebungsarbeit des landwirtschaftlichen Ressorts“ (S. 202-207) kaum mehr als summarisch aufgelistet. - Nimmt man nun die einzelnen Untersuchungen, dann bieten sie breite, aus den Quellen gearbeitete Darstellungen, die sowohl die Problemstellungen gut erfassen als auch das Wirken Schorlemers plastisch machen. Dabei reflektiert Gerhold in der Regel den Forschungsstand. Nicht befriedigend erscheinen dem Rezensenten Ausführungen zur konjunkturellen Situation von 1913 bis zum Kriegsausbruch (S. 56, Anm. 54), zu den Gründen für die Errichtung von Kalkstickstoffwerken 1914/15 (S. 156), wo die Frage des Munitionsbedarfs keine Berücksichtigung findet, sowie zum Konflikt um die Forderung nach einem „wirtschaftlichen Generalstab“ Mitte 1915 (S. 161 f.), der zu sehr auf den Gegensatz zwischen Schorlemer und dem Reichsstaatssekretär des Innern sowie Vizepräsidenten des Staatsministeriums Clemens Delbrück reduziert wird und die Einflussnahmen der Militärs unterbelichtet. Schließlich bleibt zu fragen, ob eine biografische Darstellung mit diesen, wenn auch unbestritten wichtigen Streiflichtern, das tatsächliche Wirken Schorlemers ausreichend erfasst, oder nur Stückwerk ist, zumal der Autor keine Rechenschaft darüber ablegt, inwieweit z.B. die nur aufgelisteten Gesetzesprojekte von Schorlemer vollständig in die Hand seiner Vortragenden Räte gelegt worden waren, oder inwieweit der Minister selbst hierauf Einfluss nahm.

Insgesamt zieht Gerhold reiches Quellenmaterial heran - neben dem 36-seitigen Literaturverzeichnis (S. 299-335) beeindruckt eine 16-seitige Auflistung von Akten (S. 283-298) aus 61 (!) Archiven, die übrigens mit Siglen aus 3 bis 4 Buchstaben zitiert werden, was die Lesbarkeit der Anmerkungen recht erschwert. Hervorzuheben ist zudem die Auswertung mehrerer Zeitungsausschnittssammlungen. Dieses Pressematerial ermöglicht es, das Bild Schorlemers in der Öffentlichkeit facettenreich zu zeichnen. Zu den Pluspunkten der Arbeit gehört dabei, dass die einzelnen Artikel nicht nur bibliografisch nachgewiesen werden, sondern auch die genauen Fundorte der benutzten Ausschnitte ergänzt werden, was vor allem bei kleineren und heute schwer oder nicht mehr nachweisbaren Organen im Interesse weiterführender Forschungen zu begrüßen ist. Wiewohl durch die Menge des Zeitungsmaterials dichte Bilder entstehen, bleibt die Darstellung insoweit etwas unbefriedigend, als Gerhold nur selten nach Gewicht bzw. Reichweite der Artikel fragt. Und so stehen Zitate z.B. aus der Frankfurter Zeitung gleichrangig neben solchen der Schleswiger Grenzpost, die in Hadersleben erschien (S. 60). Und wie bei den Archiven werden auch die meisten Zeitungen nur mit Buchstabenkürzeln zitiert, was das Abkürzungsverzeichnis auf 8 Seiten anschwellen lässt (S. 273-282).

Die bereits erwähnten Beziehungen zu Wilhelm II. sind ein Aspekt, der im Zusammenhang mit der Berufung Schorlemers zum Minister unterbelichtet bleibt. Der millionenschwere Großgrundbesitzer und bereits 1901 zum Mitglied des Herrenhauses ernannte mittlere Beamte wurde nun im Zusammenhang mit dem sog. „Antrag Schorlemer“ zur preußischen Wahlrechtsvorlage von 1910 erstmals einer breiten politischen Öffentlichkeit bekannt; nur wenig später erfolgt seine Berufung. Das alles wird von Gerhold (S. 48-56) ausführlich und unter Anführung zahlreicher Zitate zur Parität der Konfessionen angesichts der Wahl eines Katholiken beschrieben und analysiert. Das ist wichtig und wohl kaum noch ergänzungsbedürftig. Es bleibt aber weitgehend im Dunkeln, wer Schorlemer als möglichen Kandidaten sowohl Bethmann Hollweg als auch dem Monarchen und dem Hof gegenüber vorgeschlagen hat und wie sich der Prozess der Auswahl hinter den Kulissen im Detail vollzog. Selbst im Unterabschnitt „Verhältnis zu Kaiser Wilhelm II. und zu anderen Persönlichkeiten“ (S. 131-136) sind dem Hohenzollern nur knapp eineinhalb Seiten gewidmet. Zwar sind auch an anderen Stellen der Arbeit Bezüge zu finden, z.B. auf S. 62 und S. 182f. gemeinsame Jagdausflüge (mit genauer Angabe der Strecken) sowie die sicher nicht unwichtigen regelmäßigen Weinsendungen an den Berliner Hof (S. 36), aber das sind alles nur Streiflichter, die die entscheidende Frage nach den letzten Gründen für die Ernennung nicht beantworten. Eine ähnliche Quellenabstinenz ist auch bei der sog. Schorlemer-Krisis vom Frühjahr 1914 zu beobachten, die im Wesentlichen anhand der Presse abgehandelt wird (S. 143 f.), ohne dass anscheinend interne Materialien, Tagebücher, Briefwechsel usw. herangezogen wurden. - Diese Lücken in der Quellenarbeit fallen um so mehr auf, als Gerhold bei der Darstellung der Juli-Krise 1917 und des Rücktritts Schorlemers gerade auch das vielfältige Beziehungsgeflecht im preußischen Staatsministerium und zu den obersten Reichsbehörden, zur Obersten Heeresleitung sowie zu Wilhelm II. und den Hof anhand gerade eben jener benannten Quellengruppen ausführlich erörtert (S. 184-198 und S. 224-237). Ebenso finden sich an dieser Stelle der Arbeit auch Hinweise auf subjektive Faktoren, die von einer struktualistischen bzw. auf sozialgeschichtliche Fragestellungen fokussierten Geschichtsschreibung vielfach zu wenig beachtet werden, wenn auf die Verzögerung wichtiger politischer Entscheidungen durch eine (tatsächliche oder vorgeschobene?) Erkrankung Wilhelms II. verwiesen wird (S. 182f.).

Fassen wir zusammen: Gerhold hat mit großem Fleiß wertvolles Material zu einem Lebensbild Schorlemers gesammelt und teilweise in einzelnen, den Forschungsstand erweiternden Analysen verarbeitet - eine umfassende Biografie des Landwirtschaftsministers steht jedoch noch aus.

Anmerkungen:
1 Vgl. das Immediatgesuch v. 30.7.1898, in: Geheimes Staatsarchiv Stiftung Preußischer Kulturbesitz, I. HA, Rep. 77, Nr. 2501, n.f.

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