N. Hömke: Gesetzt den Fall, ein Geist erscheint

Titel
Gesetzt den Fall, ein Geist erscheint. Komposition und Motivik der ps-quintilianischen Declamationes maiores X, XIV und XV


Autor(en)
Hömke, Nicola
Reihe
Kalliope 2
Erschienen
Anzahl Seiten
II, 371 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Ronning, Seminar für Alte Geschichte, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die Kunst der Deklamation erfreut sich seit einiger Zeit der gesteigerten Aufmerksamkeit von Klassischen Philologen und Althistorikern - mit vollem Recht. Eine mit der "nouvelle rhétorique" Chaim Perelmans einsetzende Neubewertung der Redekunst und ein wachsendes Interesse an interdisziplinären, kulturwissenschaftlich orientierten Fragestellungen lässt auch die lange geschmähte antike Übungsrede in neuem Licht erscheinen. Insbesondere in ihrer römischen Ausformung gilt sie immer weniger als Kuriosum schlechten sprachlich-literarischen Geschmacks und immer stärker als eine ernstzunehmende sozial- und mentalitätsgeschichtliche Quellengruppe, die Auskunft über römische Wertvorstellungen und deren Tradierung zu geben vermag.

Wurde in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts vor allem nach der Realitätsnähe der antiken Deklamationen und damit ihrer Tauglichkeit als Vorbereitung für die Tätigkeit als Gerichtsredner gefragt, sah man ihre Bedeutung ab den 1990er Jahren vor allem in der Sozialisation des jungen Römers aus der Oberschicht: "schooling in persona", wie der Titel eines 1997 erschienen Aufsatzes von W. Martin Bloomer lautet.1 Die Altphilologin Nicola Hömke verficht in ihrer Heidelberger Dissertation eine davon abweichende These: Zumindest für die von ihr untersuchten pseudo-quintilianischen Declamationes maiores sei die Frage nach dem wie auch immer bestimmten praktischen Nutzen falsch gestellt; sie seien vielmehr zu Unterhaltungszwecken verfasst, und folgerichtig führe die Anwendung von Utilitätskriterien in der Analyse zu nicht adäquaten Wertungen. Hömke geht dabei von einer substantiellen Unterscheidung von Schul- und Schaudeklamation aus, für die sie nicht zuletzt Quintilian als Zeugen in Anspruch nimmt. Aus der Existenz zweier Arten von Deklamationen ergebe sich ein jeweils spezifischer Umgang mit inventio und dispositio, leite sich eine deutliche Differenz in den Themenstellungen und Gliederungsgrundsätzen ab. Die Schaudeklamation als Freizeitvergnügen eines erwachsenen Römers werde so weniger von der Gerichtswirklichkeit des kaiserzeitlichen Rom als von einer primär innerliterarischen Motivtradition beeinflusst. Auf diese Ergebnisse wird unten näher eingegangen werden, zunächst seien jedoch Struktur und Argumentationsgang der Arbeit von Hömke skizziert.

Nicola Hömke gliedert ihre Dissertation in sechs Abschnitte nebst eines Appendix mit Übersetzungen der behandelten Deklamationen. Das einleitende Kapitel ist der historischen Entwicklung der Deklamation in Rom und insbesondere ihrer Darstellung bei dem älteren Seneca gewidmet. Hierin sind erste grundlegende Ausführungen zu den unter dem Namen Quintilians überlieferten Declamationes maiores eingebunden, dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand Hömkes. Der Leser erhält einen umfassenden Einblick in die Thematik; wer sich rasch über die römische Deklamation informieren will, wird hier zuverlässig fündig werden. In einem zweiten Kapitel untersucht Hömke Äußerungen der diskursgewaltigen Autoren Quintilian, Tacitus und Plinius zur zeitgenössischen Deklamation: Anders als die ältere Forschung annahm, zeichnet sich in diesen Stellungnahmen keine einheitliche Haltung ab. Quintilian sieht die (Schau-)Deklamatoren primär unter dem Aspekt der professionellen Konkurrenz, aus den Briefen des Plinius lassen sich lediglich Augenblickseindrücke ermitteln, die Gesprächspartner im taciteischen Dialogus de Oratoribus schließlich vertreten vom Autor ironisierte Extrempositionen. Weder Quintilian noch die beiden senatorischen Schriftsteller aber verwerfen die Deklamation in Bausch und Bogen.

Der gewichtige dritte Teil des Buches von Nicola Hömke besteht aus detaillierten Strukturanalysen der Declamationes maiores X, XIV und XV. Die Themenstellungen dieser fiktiven Gerichtsreden schillern bunt und erinnern an die pralle Lebendigkeit der Welt der Komödie und des Romans: Ist die erste dieser Deklamationen eine Geschichte von nächtlich wiederkehrenden Toten und magischen Beschwörungen, so erzählen die beiden anderen von Hömke ausgewählten Reden von Liebes- bzw. Hasstränken und den prekären Beziehungen zwischen einer Prostituierten und ihrem verliebten Kunden. Hömkes Analysen von Aufbau und Argumentation folgen dabei einem strikt deduktiven Ansatz; sie dienen dem Nachweis "dramaturgischer Aspekte" (S. 89) in der Komposition der Deklamationen und sollen die These von den primär literarischen Ambitionen ihrer Verfasser belegen. Hömke kann überzeugend zeigen, dass scheinbare kompositorische "Fehler" der Deklamationen (insbesondere von Decl. mai. X) in der Tat nichts anderes als hoch funktionale Kunstgriffe zur Erzeugung von Spannung sind. Aus der Perspektive eines Gerichtsredners mache die Anlage aller drei Reden hingegen kaum Sinn: Ein definiertes Klageziel sei nicht erkennbar, die Position der vom Deklamator vertretenen Partei werde unnötig kompliziert. Vor Gericht könne eine so konzipierte Rede kaum Erfolg haben.

Auch der in Kapitel vier unternommene Versuch, die Themata und Leges der Deklamationen mit der antiken Rechtswirklichkeit zu korrelieren, führt zu einem ähnlichen Ergebnis: Wie bereits Joachim Dingel festgehalten hatte, ist ein Bezug zum tatsächlichen römischen oder auch griechischen (vor allem attischen) Rechtssystem nur sehr bedingt auszumachen.2 Als unmittelbare Vorbereitung des jungen Römers auf die anwaltliche Tätigkeit kamen diese Deklamationen mithin augenscheinlich nicht in Frage. Zu recht betont Hömke, dass "der Verzicht auf das juristisch Naheliegende" (S. 180, 198), auf alles objektiv Nachweisbare ein Charakteristikum der von ihr behandelten Reden ist. Im Mittelpunkt stehen nicht Realien, sondern die Gefühle der Prozessparteien. Äußere Beweismittel fehlen völlig, der Deklamator ist auf diejenigen Argumente verwiesen, die Aristoteles als "entechnisch" bezeichnet (Rhet. 1355 b 35ff.). Aber erst hier erweist sich doch wahre rhetorische Kompetenz: Mit handfesten Beweisen und glaubwürdigen Zeugen ist ein Prozess relativ leicht zu gewinnen, ohne diese aber zählt nur die Beredsamkeit des Anwalts. An diesem Punkt lässt sich also mit Hömke gegen Hömke weiterdenken: Gerade die so radikal unjuristische, subjektive Konstruktion des Falles zwingt den Deklamator zu einem Höchstmaß rhetorischer Virtuosität. Es darf nicht vergessen werden, dass Jurisprudenz und Anwaltstätigkeit in Rom keine Einheit bildeten, dass für den formaljuristischen Argumentationsgang in Gestalt der Pragmatici Spezialisten zur Hand waren (vgl. Quint. inst. or. 6,4,6; 12,3,4 und Cic. de orat. 1,253) und die Aufgabe des Patronus darin bestand, auf rhetorischem Wege die subjektive Wahrheit seines Klienten in den objektiven Urteilsspruch des Gerichtes zu überführen. So zielt denn beispielweise die Kritik des älteren Seneca an der Deklamationspraxis (contr. 9 praef. 2) in eine andere Richtung als Hömkes Prämissen: Er moniert nicht etwa, dass die Sach- und Personenkonstellationen der Deklamationen zu verworren seien, sondern dass es sich die Deklamatoren in aller Regel zu einfach machten - Seneca zufolge sucht der "schlechte" Deklamator den bequemsten Weg. In Hömkes Untersuchungen jedoch wird der gegenteilige Befund erhoben. Wenn also die jeweilige "Färbung" (der color) der untersuchten Declamationes maiores dem modernen Betrachter als prozesstaktisch abseitig vorkommt, dann mag dahinter doch durchaus der Wunsch eines "guten" Deklamators liegen, mit einem kühn eingeschlagenen Kurs die zuvor künstlich aufgetürmten rhetorischen Klippen zu umsegeln und so erst wahre Meisterschaft unter Beweis zu stellen - als Redner, nicht als Rechtsberater.

Im fünften Kapitel untersucht Hömke sodann die den ausgewählten Deklamationen zugrunde liegende Motivik. Wie sehr etwa die Figurenzeichnung des Magiers in Decl. mai. X auf Klischeevorstellungen und nicht auf die Kenntnis kultischer Praxis zurückgeht (S. 226), wie sehr die gesamte Deklamation aus der Paradoxografie schöpft, wird eindrucksvoll vor Augen geführt. Gleiches gilt für die Anleihen, die Decl. mai. XIV und XV unter anderem bei der römischen Elegie machen. Dieses Kapitel ist gewiss eine der großen Stärken des Buches. Doch auch hier ist Hömkes Deutung nicht unproblematisch: Literarische Motivik lässt nicht unbedingt auf ausschließlich literarische Motivierung schließen. Nicht alles, was Literatur benutzt, will auch reine (Unterhaltungs-)Literatur sein. Und im Zweifel war das literarisch geformte Klischee vor Gericht wirkungsvoller einzusetzen als irgendein zwar zutreffendes, aber nicht zu vermittelndes und den meisten suspektes Insiderwissen. Hömke scheint mir in weiten Teilen mit einem zu optimistischen Bild von der "Sachlichkeit" des römischen Gerichtswesens zu operieren.

In ihrer Schlussbetrachtung (Kap. 6) setzt sich Hömke mit sozial- und kulturhistorischen Deutungsversuchen in Bezug auf den römischen Deklamationsbetrieb auseinander. Sie wendet sich zunächst mit guten Gründen gegen eine "lediglich an Realien interessierte Herangehensweise" (S. 279), letztlich also gegen rein antiquarisch-positivistische Fragestellungen, auf die die Deklamationen kaum Antwort zu geben vermögen. Kann ich Nicola Hömke bis hierhin folgen, so gilt dies für ihre Kritik an den jüngeren Beiträgen zur römischen Deklamation - insbesondere von M. Beard und W. Bloomer, zu ergänzen wäre vor allem R. Kaster 3 - nur bedingt: Warum eine "soziokulturelle Inanspruchnahme" (S. 281) dieser Texte zugleich ihren literarischen Gehalt "aushöhle", ist nicht zu sehen. Vielmehr ist "soziokulturelle Inanspruchnahme" gerade ein Charakteristikum des antiken Umgangs mit Literatur. Dass literarische Figuren und Motivbausteine die Biografien antiker Menschen beständig begleiteten und bis zu einem gewissen Grade auch ihr Verhalten beeinflussten (Stichwort "zitathaftes Leben"), dass auch Quintilian sich den Redner nicht ohne ein tiefes Eintauchen in die "Literatur" vorstellen mochte (etwa inst. or. 10,5,14-16), zeigt an, dass die literarische Ausgestaltung eines Textes eine über Unterhaltung hinausgehende soziale Funktion nicht ausschloss. Erik Gundersons soeben erschienenes Buch "Declamation, Paternity, and Roman Identity" 4 bietet in dieser Hinsicht einen methodischen Gegenentwurf zu Hömke: Ebenfalls einem "literary reading" des Phänomens Deklamation verpflichtet, sieht er eine enge Wechselbeziehung zwischen der thematischen Entwicklung der Übungsreden und ihrer Bedeutung für die Ausbildung römischer "Identität" und vermeidet es auf diesem Wege, "Literatur" und "Gesellschaft" gegeneinander abzuschotten.

Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass sich die Schaudeklamation im Laufe der Zeit von der Schuldeklamation emanzipiert und ein Eigenleben entfaltet hat. Völlig voneinander zu trennen sind sie jedoch nicht. Darüber hinaus scheint kurzfristige Verwertbarkeit für die pugna forensis im ersten nachchristlichen Jahrhundert bei der Beurteilung des Deklamationswesens generell an Bedeutung verloren zu haben: Die Übungsrede stellt nun nicht mehr in erster Linie eine Vorbereitung auf die Tätigkeit als Gerichtsredner dar (aber doch auch dies), sondern ein allgemeines Kommunikationstraining für den Oberschichtrömer, das ihn von seiner Jugend bis ins hohe Alter begleitet. Was als Schulübung beginnt, wird zu einem Demonstrationsstück erworbener und stets zu vervollkommnender Fähigkeiten. Antiken Paradigmen folgend, ist die Deklamation nicht vom Wettbewerbsgedanken und vom Statuserwerb und Statuserhalt zu trennen: Selbst in ihrer "literarischsten" Form bleibt die Deklamation in die soziale Wirklichkeit eingebettet.

Hömkes Untersuchungen bieten daher - gerade wenn man ihre Grundthese nicht teilt - mit ihren ausgezeichneten Struktur- und Motivanalysen eine vortreffliche Basis für weitere Forschungen zur antiken Deklamation, ein Gebiet, auf dem paradoxerweise in den letzten Jahren die eigentlich philologisch-rhetorische Fragestellung zu Unrecht in das Hintertreffen geraten ist. Zugleich aber stellt sich um so mehr als ein Desiderat für künftige Arbeiten heraus, stets beides im Blick zu behalten: den Text mit seinen sprachlich-literarischen Eigenschaften und seine Verwurzelung in der ihn tragenden Gesellschaft.

Anmerkungen:
1 Bloomer, W. Martin, Schooling in Persona: Imagination and Subordination in Roman Antiquity, ClAnt 16 (1997), S. 57-78.
2 Dingel, Joachim, Scholastica materia. Untersuchungen zu den Declamationes minores und der Institutio oratoria Quintilians (UaLG 30), Berlin 1988, S. 5.
3 Beard, Mary, Looking (Harder) for Roman Myth. Dumézil, Declamation and the Problems of Definition, in: Graf, Fritz (Hg.), Mythos in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Roms (Colloquium Rauricum 3), Stuttgart 1993, S. 44-64; Kaster, Robert A., Controlling Reason: Declamation in Rhetorical Education at Rome, in: Too, Yun Lee (Hg.), Education in Greek and Roman Antiquity, Leiden 2001, S. 317-337.
4 Gunderson, Erik, Declamation, Paternity, and Roman Identity. Authority and the Rhetorical Self, Cambridge 2003.

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