Cover
Titel
Vital accounts. Quantifying health and population in eighteenth-century England and France


Autor(en)
Rusnock, Andrea Alice
Erschienen
Anzahl Seiten
268 S.
Preis
$70.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lars Behrisch, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Die Arbeit von Andrea Alice Rusnock baut auf einer Dissertation aus dem Jahr 1990 auf. Die verspätete Publikation erklärt die Probleme, die das Buch belasten: Streckenweise von der Forschung des letzten Jahrzehnts eingeholt, setzt es sich mit dieser nicht durch eine reflektierte Neupositionierung auseinander; inhaltlich aufgestockt, bietet es dennoch keine Gesamtinterpretation des Phänomens der Bevölkerungsquantifizierung im 18. Jahrhundert. Der Titel der Dissertation lautete “The Quantification of Things Human: Medicine and Political Arithmetic in Enlightenment England and France”. Tatsächlich stellen auch in der vorliegenden Arbeit nur die Kapitel zu den Anfängen der Medizinalstatistik, und zwar vor allem zur Impfstatistik, einen genuinen Beitrag zur Forschung dar, wobei die Autorin auch diese Materie bereits in Aufsatzform publiziert hat. 1 Auf die Versäumnisse der Arbeit als Forschungsleistung ist zurückzukommen. Zunächst soll der positiven Qualität des Buches Gerechtigkeit wiederfahren: Es bietet eine solide und sehr gut lesbare Einführung in die Anfänge der Statistik ‚avant la lettre’ - wurde der Begriff doch erst seit Ende des 18. Jahrhunderts auf diesen Kontext angewandt. 2

Die Wiege der Statistik stand im London des späten 17. Jahrhunderts. Hierfür gab es einen wissenschaftshistorischen Grund: Die Wirkkraft von Bacons Forderung nach Beobachtung, Vergleich und Tabellarisierung. Es gab überdies einen wissenschaftsorganisatorischen Grund – die Einrichtung der Royal Society of London im Jahr 1662, deren Mitglieder nicht zuletzt die Anwendung der Mathematik auf die Naturphilosophie pflegten. Vor allem aber gab es eine materielle Grundlage für statistische Berechnungen, wie sie an keinem anderen Ort existierte: die ‚Bills of Mortality’, wöchentliche Listen der Verstorbenen und der Todesursachen, die schon im 15. Jahrhundert zur Bekämpfung eines Grundübels der vormodernen Metropole, der häufigen Pestwellen nämlich, eingerichtet worden waren. Woche für Woche wurden die jeweiligen Angaben der Stadtgemeinden gesammelt, gedruckt und veröffentlicht. Mit gewissen Verbesserungen versehen – seit 1629 wurde das Geschlecht, seit 1728 auch das Alter der Verstorbenen registriert – sollten diese Listen über eineinhalb Jahrhunderte als die zentrale Quelle statistischer Arbeiten in England dienen.

Den Anfang machte der Londoner Händler John Graunt, der die Praxis seiner eigenen Buchführung auf die Mortalitätslisten anwandte: die neuartige tabellarische Auswertung beruhte „upon the Mathematicks of my Shop-Arithmetick“ (S. 18). Graunts Tabellen, veröffentlicht 1662 unter dem Titel „Natural and Political Observations Made upon the Bills of Mortality“, ermöglichten erstmals einen systematischen Abgleich zwischen Gemeinden und Stadtteilen, zwischen Todesursachen und Geschlechtsspezifika, zwischen früheren und gegenwärtigen Zuständen. Dabei sollte neben diesen ‚natürlichen’ Beobachtungen, die, ungeachtet der neuartigen Darstellungsform, noch der ursprünglichen Intention der Listen entsprachen, das gewonnene Wissen um die Zahl der Menschen und ihr Geschlecht, Stand, Alter, ihre Konfession usw. auch dem Staat Vorteile bieten. Geboren war damit eine neue Wissenschaft – die ‚politische Arithmetik’, wie sie Graunts Zeitgenosse William Petty nannte.

Die politische Stoßrichtung dieser Wissenschaft blieb jedoch, jetzt wie später, bloße Theorie. Trotz der unmittelbaren Beachtung, die Graunt erfuhr – Charles II. sorgte persönlich für seine Aufnahme in die Royal Society – und trotz der nachdrücklichen Betonung der praktischen politischen Relevanz quantitativer Analysen durch seine Nachfolger – genannt sei neben Petty vor allem Charles Davenant, der als Parlamentsmitglied und Zolldirektor durchaus politischen Einfluss besaß – fanden die Bemühungen der frühen Statistiker keinerlei Berücksichtigung in der politischen Diskussion. Die Berechnung der wehrfähigen Bevölkerung Londons, der Vergleich der Leistungsfähigkeit Englands und seiner Nachbarländer, der Zusammenhang zwischen Handel, Konsum und demografischer Entwicklung – all dies blieb eine rein akademische Diskussion, jedenfalls für die nächsten einhundert Jahre.

Hingegen gewannen die von Graunt so genannten ‚natürlichen’ Berechnungen eine unmittelbare praktische Relevanz vor dem Hintergrund der zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus der Türkei übernommenen Kenntnis der Impfung gegen die Pocken, die zweite Geißel der städtischen Bevölkerung. Die aktive Impfung mit Pockenviren war allerdings, im Gegensatz zur erst am Ende des Jahrhunderts eingeführten Kuhpockenimpfung, mit dem Risiko eines tödlichen Ausgangs verbunden. 3 So wurde die Frage, wie groß dieses Risiko war und in welchem Verhältnis es zur natürlichen Pockengefahr stand, zu einem zentralen Thema der neuen Wissenschaft. Den Beginn machte der Arzt und Mathematiker John Arbuthnot im Jahr 1722: er wertete die Mortalitätslisten eines Jahrzehnts nach dem Anteil der Pockentoten aus und kam zu einem Anteil von 1:12 oder, unter Abzug der (vermeintlich) nicht mit Pocken verbundenen Säuglingssterblichkeit, von 1:10. Dies kontrastierte er mit der geschätzten Impfsterblichkeit von 1:100 und folgerte, die Impfung, allgemein angewandt, „would save the City of London at least 1500 People Yearly“ (S. 49). Im Anschluss daran berechnete sein Kollege James Jurin das Risiko einer tödlichen Impfung auf der Grundlage empirischer Daten, die er mittels eines landesweiten Korrespondenznetzes zusammentrug. Seine Ergebnisse wichen nur geringfügig von denen Arbuthnots ab, besaßen dank ihrer Belegbarkeit aber mehr Überzeugungskraft und bewirkten so eine deutliche Zunahme der Impfungen in England.

Befürworter und Gegner der Pockenimpfung in England argumentierten überwiegend mit Tabellen und Zahlen. Gestritten wurde um die empirischen Grundlagen und die Methoden der Auswertung; die Aussagekraft der Zahlen aber wurde nicht in Frage gestellt. Ganz anders in Frankreich. Hier fehlte nicht nur, so die überzeugende Argumentation der Autorin, eine der Royal Society vergleichbare Assoziation selbstständig und interdisziplinär arbeitender Wissenschaftler: Noch mehr verhinderte die rigide korporative Struktur der französischen Ärzteschaft – auf regionaler wie zentraler Ebene – die Entfaltung eines Diskurses, der überkommene Praktiken und Überzeugungen in Frage stellte. Die englische Debatte wurde so zwar von den aufgeklärten Gelehrten rezipiert, aber nicht für die medizinische Praxis fruchtbar gemacht. Nachdem das Parlement die Pockenimpfung im Jahr 1763 verboten hatte, führte erst der Pockentod Ludwigs XV. eine Wende herbei: „One death caused by smallpox is worth more than the dissertations of La Condamine“, so ein zeitgenössischer Kommentar zur marginalen Rolle der Wissenschaft bei der Durchsetzung der Pockenimpfung (S. 90).

Aufgrund der schwachen institutionellen Unterstützung und des mangelnden professionellen Interesses blieben die empirischen und methodischen Beiträge der Franzosen zur Impfstatistik gering. Ähnliches gilt für die Erstellung von Korrelationen zwischen klimatischen Bedingungen, Alter und Krankheitsanfälligkeit: Auch hier führten die Engländer, zumal sie sich seit der zweiten Jahrhunderthälfte auf die Bereitstellung empirischen Datenmaterials durch die schnell wachsende Zahl medizinischer Einrichtungen stützen konnten. Der geringere Empirie- und Praxisbezug führte in Frankreich hingegen zu einer raschen Fortentwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Diese unterschiedlichen Traditionen schlugen sich schließlich auch in der jeweiligen Behandlung der Entvölkerungsdebatte nieder, die Montesquieu mit den ‚Lettres Persanes’ (1721) angestoßen hatte: Nahm die Bevölkerung Europas wirklich ständig ab? 4 Sowohl in Frankreich als auch in England wurde diese Frage seit den 1760er-Jahren verstärkt mit quantitativen Argumenten geführt. Angesichts des Fehlens von Volkszählungen ging man dabei vor allem daran, die Gesamtbevölkerung durch die Hochrechnung der den Pfarreiregistern entnommenen Geburts- und Sterbeziffern zu ermitteln. Doch während die englischen Statistiker den Nutzen zusätzlicher Berechnungsgrundlagen, etwa von Steuerregistern, diskutierten, widmeten sich die französischen Arithmetiker vor allem der mathematischen Seite der Frage. Die Daten erhielten sie dabei meist von der Regierung, die jetzt ein neues Interesse an statistischen Fragen zeigte.

So weit die Grundzüge der Darstellung, die am Ende leider ausfasert. Es gibt keinen erkennbaren Fluchtpunkt, nicht einmal einen chronologischen Schlusspunkt. Warum erwähnt die Autorin nicht die Einführung der Kuhpockenimpfung? Warum behandelt sie die mit dem Namen Malthus verbundene Wende in der Bevölkerungstheorie nicht als Resultat der Populationsdebatte, sondern verweist zu ihrer Erklärung nur auf die Französische Revolution (S. 211)? Der Grund ist offensichtlich. Andrea Rusnock erzählt die Geschichte der frühen Medizinal- und Bevölkerungsstatistik in Frankreich und England, und sie erzählt sie gut. Was jedoch fehlt, ist eine Einbettung in Forschungsfragen, ist eine analytische Perspektive, sind übergreifende Gesichtspunkte – seien sie wissenschaftsgeschichtlicher, ideengeschichtlicher, politik- oder sozialgeschichtlicher Art. Die Autorin bietet keine analytisch angeleitete ‚Geschichte der Zahlentabelle’, wie es der Umschlagstext nahe legt. Zwar sind Sammlung und Auswahl der zahlreichen abgedruckten Tabellen durchaus ein Verdienst. Doch neben Hinweisen auf augenfällige Veränderungen in Spaltenaufteilung und -beschriftung und der Wiedergabe einschlägiger Kommentare liefert Rusnock keine Leseanweisung für die Evolution des Mediums. Dazu wären durchgehend systematische Vergleichskriterien heranzuziehen: Wie viele Parameter enthielten die Tabellen? Welches Aggregationsniveau wiesen die eingesetzten Zahlen auf? Wo setzte man die Lesbarkeitsschwelle an? Welche Standards galten implizit oder explizit zwischen den ideologischen Lagern, diesseits und jenseits des Kanals?

Es fehlt auch der Hinweis auf entscheidende Brüche, es fehlt insbesondere die Diskussion der von Eric Brian aufgeworfenen Frage: Wie lässt sich die Allianz der Statistiker und des Staates im Frankreich der letzten beiden Jahrzehnte des Ancien Régime erklären, warum wurde die Idee einer auf Zahlen gegründeten Verwaltungsrationalität gerade jetzt umgesetzt? 5 Zudem wäre nach den sozialen und ökonomischen, politischen oder patriotischen Interessen zu fragen, die im Hintergrund der Zählungen und Berechnungen standen. Zwar unterlag die Entdeckung von ‚Bevölkerung’ als einer messbaren Größe durchaus einer eigenen Wahrnehmungslogik (S. 4). Doch auch sie war keine ‚black box’, sondern stand in Beziehung zu anderen Diskurs- und Handlungsfeldern. Diese Gemengelage lässt sich nicht in ihrer Gesamtheit erfassen, wohl aber in einzelnen Strängen: So wies Peter Buck in diesem Zusammenhang auf die Rolle der spezifischen Interessen der nicht Land besitzenden englischen Oberschicht hin, 6 während Jacques Dupâquier zeigen konnte, dass William Petty bei dem Bemühen, um jeden Preis den Größenvorsprung Londons gegenüber der Rivalin Paris zu belegen, die methodische Stringenz hintanstellte. 7

Die London-Paris-Frage wurde zwar nicht entschieden, aber doch letztgültig zusammengefasst von dem preußischen Statistiker Johann Peter Süßmilch. 8 Nur wer diesen Namen bereits kennt, wird bei Rusnock darauf aufmerksam, dass Süßmilch auch in der französischen Medizinalstatistik eine wichtige Referenz darstellte (S. 80, 82). Hätte man dieser Tatsache, diesem Mann nicht etwas mehr als einen Nebensatz widmen müssen? Es geht nicht darum, die zweitrangige Rolle Deutschlands für die politische Arithmetik in Zweifel zu ziehen. Doch gerade die Frage, warum sich hier keine vergleichbare Theorieentwicklung vollzog, warum Süßmilch vielmehr eine Ausnahmeerscheinung darstellte, müsste aufgeworfen werden, um die Prozesse in England und Frankreich zu profilieren und zu erklären. Umgekehrt wäre zu diskutieren gewesen, warum in Deutschland, erst recht aber in Schweden während des 18. Jahrhunderts ein staatliches Interesse an Statistik entstand - und politische Berechnungen hier entsprechend auch in konkrete (gesundheits)politische Maßnahmen umgesetzt wurden. 9 Entwicklung und Durchsetzung der Statistik waren ein gesamteuropäisches Phänomen und lassen sich nur als solches gewinnbringend problematisieren.

Anmerkungen:
1 Rusnock, Andrea A, The Weight of Evidence and the Burden of Authority: Case Histories, Medical Statistics and Smallpox Inoculation, in: Porter, Roy (Hg.), Medicine in the Enlightenment, Amsterdam 1995, S. 289-315; Dies., Hippocrates, Bacon and Medical Meteorology at the Royal Society, 1700 to 1750, in: Cantor, David (Hg.), Reinventing Hippocrates, Burlington 2001, S. 144-161; Dies. (Hg.), The Correspondence of James Jurin (1684-1750), Physician and Secretary to the Royal Society, Amsterdam 1996.
2 Pearson, Karl, The History of Statistics in the 17th and 18th Centuries: Against the changing background of intellectual, scientific and religious thought, London 1978, S. 8f.
3 Zum medizingeschichtlichen Hintergrund zuletzt: Völker, Arina, Die Anfänge der Pockenschutzimpfung in den mitteldeutschen Territorien des 18. Jahrhunderts, in: Donnert, Erich (Hg.), Europa in der Frühen Neuzeit 6, Köln 2002, S. 561-572.
4 Leider rezipiert die Autorin nicht die glänzende Darstellung der Debatte durch Whelan, Frederick G., Population and Ideology in the Enlightenment, in: History of Political Thought 12 (1991), S. 35-72.
5 Brian, Eric, La mesure de l’Etat. Administrateurs et géomètres au XVIIIe siècle, Paris 1994, hier S. 15, 20.
6 Buck, Peter, People who counted: Political Arithmetic in the Eighteenth Century, in: Isis 73 (1982), S. 28-45.
7 Dupâquier, Jacques, Londres ou Paris? Un grand débat dans le petit monde des arithméticiens politiques (1662-1759), in: Population 1-2 (1998), S. 311-326. Auch diese Publikation wurde von Rusnock nicht rezipiert.
8 Ebd., S.322f.
9 Johannisson, Karin, Society in Numbers: the Debate over Quantification in Eighteenth Century Political Economy, in: Frängsmyr, Tore; Heilbron, J. L.; Rider, Robin E. (Hgg.), The Quantifying Spirit in the 18th Century, Berkeley 1990, S. 343-362, bes. S. 353 ff.; Tedebrand, Lars-Göran, Historische Demographie in Schweden, in: Matheus, Michael; Rödel, W. G. (Hgg.), Landesgeschichte und Historische Demographie, Stuttgart 2000, S. 135-152.

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