Titel
Stalin's Outcasts. Aliens, Citizens, and the Soviet State, 1926-1936


Autor(en)
Alexopoulos, Golfo
Erschienen
Anzahl Seiten
243 S.
Preis
€ 45,48
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maike Lehmann, Berlin

Klassenfeinde auszumerzen und gleichzeitig den Neuen Menschen zu erschaffen, waren die erklärten Ziele der bolschewistischen Partei. Sie selbst verstand sich als Avantgarde mit einer Mission, die die Bevölkerung des neuen Arbeiter- und Bauernstaates unter Ausschluss von so genannten ‚Parasiten’ und ‚Ausbeutern’ auf den Heilsweg des Kommunismus führen sollte. Die Formen der Gewalt und Repression, welche aus dem Versuch der Umsetzung dieser Mission entstanden, nehmen in der Historiografie zur Sowjetunion traditionell einen zentralen Platz ein. Seit einigen Jahren wird in der Stalinismusforschung jedoch zunehmend thematisiert, welche Erfolge Mobilisierungskampagnen sowie Identifikations- und Aufstiegsangebote von Seiten der Partei bei der sowjetischen Bevölkerung erzielten. Mit „Stalin’s Outcasts“ bereichert nun Golfo Alexopoulos die Diskussion um sozialistisch definierte Identitäten und populäre Interpretationen der bolschewistischen Heilsmission um weitere wichtige Aspekte. Anhand der Selbstrepräsentationen und Argumentationsstile der Individuen, denen unter dem sowjetischen Regime die Wahlrechte aberkannt wurden (lyschenzi), erschließt sie zum einen die Exklusionsmechanismen, die mit dieser Mission einhergingen. Zum anderen kann Alexopoulos in „Stalin’s Outcasts“ diverse Formen der Inklusion aufzeigen, welche die als Klassenfeinde marginalisierten und aus der Sowjetgemeinschaft ausgeschlossenen lyschenzi bis in die dreißiger Jahre nutzen konnten.

Der Reiz, der von Alexopoulos präsentierten Studie besteht zunächst darin, dass sie sich nicht auf die Auffassungen und Reaktionen klassischer Zielgruppen wie Arbeiter oder Bauern konzentriert. Vielmehr setzt sie sich mit der äußerst heterogenen Gruppe der lyschenzi auseinander, deren Petitionen sie in einem bislang kaum bekannten Archiv in Westsibirien entdeckt hat. Diese Bittschriften wurden von Personen unterschiedlichster gesellschaftlicher Herkunft verfasst, die aufgrund adliger Abstammung, früherer Tätigkeit für zarische Institutionen, eines angeblich ‚ausbeuterischen Lebenswandels’ oder anderweitig unsowjetischen bzw. unmoralischen Verhaltens das Wahlrecht eingebüßt hatten. Damit verloren die Menschen, die unter diese teilweise sehr dehnbare Feindkategorie fielen, schließlich den Zugang zu knappen Ressourcen wie Arbeit, Wohnraum und Lebensmittel. Dies konnte jedoch nicht nur ehemalige Polizisten, Adelige oder Händler samt ihrer Familienangehörigen betreffen.

Hooligans, Angehörige nicht-russischer Nationalitäten oder auch alleinstehende Bäuerinnen, die sich zur Ernte einen Knecht anstellten, konnten ebenso die Wahlrechte verlieren. Dabei hatte im von Alexopoulos gewählten Untersuchungszeitraum das Verhalten der jeweiligen Person das gleiche Gewicht, wie ihre soziale Klassifizierung.

Ähnliches ist zwar in anderen Untersuchungen bereits zur Sprache gekommen. Ebenso ist bekannt, dass die durch die bolschewistische Propaganda propagierten Feindkategorien mit populären Vorstellungen – zum Beispiel von das Volk ausbeutenden Elementen - korrespondierten, diese Kategorien jedoch alles andere als konsistent zur Anwendung kamen und zusammen mit der Entrechtung nach Quoten zu einer Verwässerung der bolschewistischen Missionsziele führten. Diese Ergebnisse anderer, jedoch meist auf einzelne Gruppen beschränkte Fallstudien werden in Alexopoulos’ Studie nachhaltig bestätigt, gerade durch die Bandbreite der sozialen Gruppen, die sich mit ihren Bittschriften an die Vertreter des Regimes wandten.

Doch es ist weniger die Untersuchung der diversen Exklusionskriterien in ihrer Interpretation durch lokale Parteifunktionäre und verschiedene Bevölkerungsgruppen, die den Erkenntnisgewinn von „Stalin’s Outcasts“ ausmachen. Das Herzstück dieser Studie ist eher die Erschließung der mit diesen Exklusionskriterien aufs engste zusammenhängenden Inklusionsstrategien auf Seiten der lischenzi. Alexopoulos kann anhand einer umfassenden Anzahl von Beispielen eindrucksvoll nachzeichnen, wie lischenzi in ihren Bittschriften genau die Kategorien verwandten, die zuvor zu ihrem Ausschluss aus der Sowjetgesellschaft geführt hatten. Wer vorher als untätiger Ausbeuter der mittellosen, werktätigen Massen deklariert und deshalb aus der Sowjetgesellschaft ausgeschlossen wurde, präsentierte sich dann als lischenez oft als Teil gerade dieser besitzlosen, arbeitenden Klasse.

Eingeständnisse eigener Fehler sind dabei Alexopoulos zufolge in diesen Petitionen nicht zu finden. Damit betraten die Bittsteller nicht den Weg der ritualisierten Schuldbekenntnis auf Seiten repressierter Parteimitglieder; ein zentraler Unterschied, gerade dann, wenn es um die Erschließung von Formen der Inklusion und Mobilisierung geht. Anstatt um Absolution für ihre Fehler in der Vergangenheit zu bitten, ist auf Seiten der lischenzi offenbar eher die Überzeugung festzustellen, dass sie tatsächlich alle Voraussetzungen für die Wiedererlangung des Wahlrechtes mitbrächten. Dies gilt erstaunlicherweise vor allem für Gulaghäftlinge, die sich durch ihre Strapazen im Lager als Arbeiter und somit als Teil der primären Zielgruppe der bolschewistischen Mission präsentierten. Mit dieser Redefinition ihrer selbst, vom ‚Klassenfeind’ zum Anwärter auf alle staatsbürgerlichen Rechte des Sowjetstaates, beschritten die lischenzi einen Inklusionsweg, der zu einem erstaunlich hohen Prozentsatz von den bearbeitenden Parteifunktionären akzeptiert und somit legitimiert wurde.

In diesem Zusammenhang ermittelt Alexopoulos die verschiedenen Argumentationsstile, mittels derer lischenzi ihren Fall vorbrachten. Unter anderem ist in den Petitionen ritualisiertes Wehklagen über die eigene verzweifelte Situation ein häufig angewandtes Stilmittel, welches an traditionelle Appellationsstile des vorrevolutionären Russlands erinnert. Leiden, so Alexopoulos, stellte ebenso eine sowjetische Tugend dar wie harte Arbeit und wurde quasi als Berechtigung zur Erlangung staatsbürgerlicher Rechte aufgefasst (siehe vor allem Kapitel 4). Zudem ist die Präsenz von Loyalitätsbekundungen, Arbeitseifer und die Deklaration einer sowjetischen Identität in den Petitionen erstaunlich präsent für eine Gruppe von ‚Klassenfeinden’, die aufgrund ihrer negativen Erfahrungen mit sowjetischen Institutionen andere Gefühle hätte hegen können. Dies ist bemerkenswert angesichts dessen, dass sich den lischenzi offensichtlich auch andere Inklusionsmöglichkeiten boten als derartige Bekundungen. Alexopoulos lässt sich dabei glücklicherweise nicht auf eine Diskussion über wahre und strategische Identitäten ein. Dies ist angesichts des Charakters der von ihr analysierten Quellen wohl auch kaum möglich. Die in den Briefen an die sowjetischen Instanzen zur Sprache kommenden Narrative konstituieren Alexopoulos zufolge die politische Identitäten der Petenten, wobei Strategie und wahre Identifizierung für sie in keinem Widerspruch zueinander stehen.

Die Zahl und Überzeugungskraft der von Alexopoulos präsentierten Beispiele sowie ihre überzeugende Art der Analyse machen diese Studie des vielfältigen und oft ambivalenten Prozesses der Aberkennung und Wiedererlangung von Wahlrechten zu einer anregenden Lektüre. „Stalin’s Outcasts“ zeigt die diversen Vorstellungen und die Multilateralität der Aushandlung von Inklusions- wie Exklusionskriterien auf. Dabei werden nicht nur die Mittel erschlossen, derer sich rechtlich und sozial marginalisierte Gruppen bedienten, um wieder Teil der sowjetischen Bürgerschaft zu werden. Vor allem tritt zu Tage, wie sehr als Klassenfeinde marginalisierte Individuen selbst aktiv die Definition eines vollwertigen Sowjetbürgers, des Neuen Menschen und damit der bolschewistisch verfassten Gesellschaft beeinflussten und bestätigten. Dieser Möglichkeit wurde erst durch den stalinistischen Terror der dreißiger Jahre ein Ende gesetzt, als nicht mehr das Verhalten eines Individuums, sondern nur noch ausschließlich seine soziale Herkunft als Klassifikationskriterium zur Anwendung kam.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension