Titel
Summerfolk. A History of the Dacha, 1710-2000


Autor(en)
Lovell, Stephen
Erschienen
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 27,31
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Winkler, Zentrum für vergleichende Geschichte Europas, Freie Universität Berlin

Kulturgeschichte boomt, gerade in der russlandbezogenen Historiografie. Zu den wichtigsten Herausforderungen gehört es dabei, die Analysen des „Constructing This“ und des „Imagining That“ nicht frei im Raum schweben zu lassen, sondern eine sozialhistorische Rückbindung möglich zu machen. Stephen Lovells Buch „Summerfolk“ bemüht sich um diese Verknüpfung. Es verfolgt die Geschichte der Datscha über fast 300 Jahre, und wenn der Schwerpunkt der Darstellung auch eindeutig auf dem späten 19. Jahrhundert und der Sowjetzeit liegt, so gelingt es doch auch, interessante Einblicke über das 18. und frühe 19. Jahrhundert einfließen zu lassen.

Das Hauptproblem, das sich aus dieser Betrachtung eines so langen Zeitraumes ergibt, ist die Vereinigung vieler unterschiedlicher Realitäten unter dem Begriff der Datscha. Die Frage stellt sich – und hätte vom Autor wohl etwas expliziter problematisiert werden können – inwiefern das Verfolgen nicht eines Konzeptes, sondern eines Begriffes tragfähig und theoretisch zu legitimieren ist. Vom historischen und etymologischen Ursprung des vom Zaren verliehenen Landes (Datscha von dat’ = geben) bis hin zum Rückzugsort gestresster Hauptstädter und Sommerquartier für von Großmüttern (Babuschkas) gehütete Kinder: zwischen diesen Bildern liegen verschiedene Lebensentwürfe und ökonomische Strategien, städteplanerische Konzepte und intellektuelle Debatten – die Datscha erfindet sich, wie Lovell im schönsten kulturhistorischen Jargon feststellt, als Ort immer wieder neu (S. 39).

Die ersten Datschas entstanden durch die Vergabe von Landstücken um St. Petersburg durch Peter den Großen, der von den Adligen erwartete, sie mögen die Straße nach Peterhof entsprechend französischen Vorbildern als architektonisches Meisterwerk gestalten. Daneben erhielt die außerhalb der Stadt gelegene Datscha schon früh den Charakter eines Ortes der Muße und der gesellschaftlichen Begegnung.

Die ersten Datschas entstanden durch die Vergabe von Landstücken um St. Petersburg durch Peter den Großen und war an mit der Erwartung verknüpft an kulturell engagierte Adlige, den Weg nach Peterhof als ein an französischen Vorbildern orientiertes architektonisches Meisterwerk zu gestalten. Diese Doppelfunktion blieb weitgehend durch die Jahrhunderte erhalten. Die Datschasiedlungen wurden zu einem wichtigen Element der Stadt- und Verkehrsplanung. Es ist gerade die Mittlerfunktion zwischen Stadt und Land, die den Charakter der Datscha deutlich prägte, sozialhistorische mit kulturgeschichtlichen Elementen verbindet und den zentralen Ansatzpunkt für Lovell liefert. Die Problematik der russischen Urbanisierung bildet den Rahmen für einen Großteil seiner Thesen. Architektur und Lebensgestaltung, soziale Struktur und Kritik wurden gleichermaßen von der Besonderheit des kulturellen Raumes Datscha geprägt. Nach und nach öffnete sich dieser Raum mit seiner „own social geography“ immer mehr einer „middle class“.

Die Datscha stand nicht nur zwischen Stadt und Land, sondern sie spiegelte auch die Spannung verschiedener Moden – etwa die exotische Architektur einer die russische Hütte (izba) romantisierenden Idylle – und das bemerkenswerte Nebeneinander von privater, bürgerlich anmutender Abgeschiedenheit und den sozialen Konflikten des engen, eigentümlich öffentlichen Zusammenlebens in der Siedlung. So bildete sie einen geeigneten Ansatzpunkt für verschiedene Sozialkritiker des späten 19. Jahrhunderts, die sich über spießbürgerliche Streitigkeiten ebenso amüsierten wie sie provinzielle Moden und die oberflächliche, weil stadtabhängige Naturnähe belächelten. Diese Kritik verstärkte sich umso mehr, je stärker die Datscha durch die sich verändernden sozialen Strukturen und die Entdeckung der Bauern, dass sie mit der Vermietung von Datschas einträgliche Geschäfte machen konnten, zu einem weit verbreiteten Phänomen wurde.

Während sich im späten 19. Jahrhundert ein aktiver Grundstücksmarkt entwickelte, stellt die Oktoberrevolution hier einen deutlichen Bruch dar. Lovell betont in dem umfangreichen Abschnitt zur Sowjetunion besonders die Bedeutung des politisch-juristischen Rahmens, indem er die unterschiedliche Behandlung von Grundeigentum in der postrevolutionären Zeit und in der Periode der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) kontrastiert. Doch auch nach dem Ende der NEP blieb, wie Lovell schreibt, die Datscha „a rare opportunity for Soviet citizens to enjoy de facto private ownership of immovable property“ (S. 199). „Blat“, die Pflege der inoffiziellen Mechanismen von Gefallen und Gegenleistungen, bestimmte nun die Verteilung der Datschas, die beides waren: elitäres Privileg und Überlebensstrategie.

Lovell endet mit einem Ausblick auf die postsowjetische Zeit, in der ein erneuter Wandel hin zu einem offeneren, kapitalistischen System zu vermuten sei. Doch unklares Eigentumsrecht und das Fortwirken älterer Patronage-Mechanismen stehen dem entgegen. Daneben betont
Lovell die Bedeutung der neuen Eigentumsdiskussion in Russland, in der einem betont freien Kapitalismus ein sich vom Westen abgrenzender Eigentumsbegriff entgegengesetzt wird: der Nutzwert wird stärker als der Marktwert betont, die Bindung von Individuen an Eigentum wird als schädlich und einschränkend gedacht.

Es folgt ein Fazit, in dem theoretische und konzeptionelle Überlegungen ihren Platz finden, die man sich bereits an früherer Stelle gewünscht hätte. Das Buch Lovells umfasst nur gut zweihundert Seiten – angesichts des breiten Zeitraumes und der Komplexität des Themas ist das erstaunlich wenig. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die in deutschen Dissertationen und Habilitationen formal geforderte, in Rezensionen oft belächelte und vom Leser nicht selten verfluchte umfangreiche und oft umständliche theoretische Einleitung, Darstellung des Forschungsstandes und konzeptionelle Abgrenzung fehlen. Das häufig zu vernehmende Lob an britische und amerikanische Autoren, ihre Bücher seien angenehm kurz und knapp, ist in vielen Fällen mehr als berechtigt. Hier allerdings ist die Frage nahe liegend, ob ein wenig mehr Gründlichkeit nicht angebracht gewesen wäre. Beispielsweise fehlt trotz der in diesem Werk zentralen Stellung des Begriffes „middle class“ eine Bezugnahme auf die entsprechende Forschungsdebatte. Die Struktur, ja die bloße Existenz einer solchen Mittelschicht ist für den russischen Fall noch immer stark umstritten. Wenn Lovell also in seinen Quellen die Entwicklung einer „middle class“, die nach und nach die Datschakultur der Aristokratie ablöste, zu erkennen glaubt, dann hätte diese These einer expliziten Diskussion bedurft. Indem „middle class“ undefiniert bleibt und mit vermeintlich „klassischen“ bürgerlichen Werten verknüpft wird, ohne dass diese einem Diskurs zugeordnet würden, bleibt die beschriebene Gruppe merkwürdig vage. Zudem mangelt es der reklamierten sozialhistorischen Rückbindung an Substanz.

Der zweite Aspekt, der einer gründlicheren Würdigung wert gewesen wäre, ist der des europäischen Vergleichs. Lovells Grundperspektive ist komparativ: Er behauptet eine Besonderheit Russlands und argumentiert häufig mit dem Kontrast zu Westeuropa. Doch leider bleibt diese These unbewiesen, der Vergleich wird impliziert, aber nicht eingelöst. Noch gravierender aber fällt ins Gewicht, dass die umfangreiche Literatur über bürgerliches Freizeitverhalten und insbesondere die „Sommerfrische“ im mittel- und ostmitteleuropäischen Kontext offenbar vollkommen außer Acht gelassen wurde. Die Wochenendausflüge von Russen, gleich welcher gesellschaftlicher Schicht und gleich in welchem Jahrhundert, wären, ebenso wie die besonderen sozialen Strukturen und Konflikte der Datschasiedlungen, bei einer Auseinandersetzung mit dieser Forschung wahrscheinlich nicht mehr so eindeutig als „typisch russisch“ erschienen; zumindest hätte die Beschreibung anregende und die Fragestellung differenzierende Impulse erhalten können.

So lässt das Buch in seiner konzeptionellen Anlage und seiner Bezugnahme auf den – internationalen – Forschungsstand deutlich zu wünschen übrig. Andererseits erwarten den Leser stellenweise analytische Glanzleistungen. Lovell bezieht eine große Vielfalt an Quellen in seine Untersuchung ein. Besonders ergiebig und methodisch anregend sind dabei seine Interpretationen literarischer Texte. Hier werden einmal nicht nur „historische Fakten“ aus den Quellen abgebildet, hier wird auch die Literatur nicht nur zur Illustration und Bestätigung von an anderer Stelle herauspräparierten Ergebnissen benutzt. Lovell gelingt es, strukturalistisch inspirierte Textanalysen, in denen insbesondere die Darstellung von Raummotiven eine wichtige Rolle spielt oder in denen er den Gutsbesitz in Gontscharovs Oblomov mit der klaustrophobischen Stadtbeschreibung in Dostojewskijs Schriften kontrastiert, in seine Studie einzubauen. Angesichts der Tatsache, dass die Kulturgeschichte Russlands sich in den letzten Jahren mehr und mehr auf erzählende und immer stärker auch auf künstlerische Texte als Quelle verlässt, die Interpretation aber häufig methodisch wenig innovativ ist, sind diese Ansätze besonders zu begrüßen. Tatsächlich sind, bei aller Kritik an seinem Werk, allein Lovells Literaturanalysen die Lektüre des Buches wert.

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