F. Anders u.a. (Hgg.): Białystok in Bielefeld

Cover
Titel
Białystok in Bielefeld. Nationalsozialistische Verbrechen vor dem Landgericht Bielefeld 1958 bis 1967


Herausgeber
Anders, Freia; Kutscher, Hauke-Hendrik; Stoll, Katrin
Erschienen
Anzahl Seiten
221 S., 1 CD-ROM
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Weinke, Berlin

Das im Nordosten des heutigen Polen gelegene Białystok ist einer jener traumatischen Orte, die nach Auffassung des Osteuropahistorikers Karl Schlögel einer historiografischen Neuentdeckung harren. Die Herausgeber des Bandes „Białystok in Bielefeld“ haben diese Forderung aufgegriffen und die westdeutschen Nachkriegsprozesse gegen Verantwortliche des Judenmords in Białystok als Ausgangspunkt genommen, um sowohl regionalgeschichtliche Dimensionen des NS-Terrors während der Besatzungszeit als auch deren justizielle Rezeption nach 1945 nachzuzeichnen. Die reichhaltige Geschichte Białystoks bleibt jedoch nicht auf ein Panorama des Schreckens reduziert; parallel dazu werden vielmehr auch die jahrhundertealten Traditionen einer Gegend in den Blick genommen, die sich durch hohe Mobilität, kulturelle Vielfalt und politische Diskontinuität auszeichnet.

Ursprünglich Teil des Großherzogtums Warschau, wurde die Stadt im Zuge der polnischen Teilungen zunächst preußisch, fiel dann jedoch mit dem Tilsiter Frieden von 1807 für mehr als hundert Jahre an das russische Zarenreich. Die territoriale Neuordnung der Pariser Vorortverträge machte aus Białystok erneut eine polnische Stadt, die seit 1920 auch Sitz der kommunistischen Gegenregierung war. Nach kurzfristiger deutscher Besatzung im September 1939 geriet sie infolge des geheimen Zusatzabkommens des Molotov-Ribbentrop-Paktes vorübergehend unter sowjetische Herrschaft. Als am 27. Juni 1941 deutsche Truppen in Białystok einrückten, wurde es schließlich Sitz des Chefs der deutschen Zivilverwaltung des „Bezirks Białystok“, eines 32.000 Quadratkilometer großen Gebiets mit rund 1,6 Millionen Einwohnern.

Wie Freia Anders und ihre Mitautoren in einem informativen Aufsatz über die historischen Hintergründe der Białystoker Prozesse schreiben, verfügte Białystok im 19. Jahrhundert über den größten jüdischen Bevölkerungsanteil unter den Großstädten Osteuropas (S. 79). Aufgrund ihrer günstigen Lage für den großen russischen Absatzmarkt konnte sich die Region während dieser Zeit zu einem prosperierenden Zentrum der von Juden dominierten Tabak- und Textilindustrie entwickeln. Erst in der Zwischenkriegszeit sank der jüdische Bevölkerungsanteil infolge der starken Abwanderungsbewegung in die USA und nach Palästina auf ca. 107.000 Menschen (60%) ab. Mit der Etablierung als Industriezentrum wurde aus Białystok, ursprünglich eine von mehreren Geburtsstätten der jüdischen Aufklärung („Haskala“), eine Metropole der jüdischen Arbeiterbewegung: Es wurden Schulen, Theater und Krankenhäuser gegründet, die meisten Arbeiter waren bei den sozialistischen Bundisten, eine Minderheit bei den nationalistischen Zionisten organisiert.

Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion gerieten die in der Region ansässigen Juden in den Blickpunkt des rasseideologisch geführten Vernichtungskrieges. Michal Gnatowski und Sara Bender liefern in ihren Beiträgen ein facettenreiches Bild zum Zusammenspiel von Zivilverwaltung, Polizei und Wehrmacht bei der Implementierung einer genozidalen Okkupationspolitik. Gnatowski bestätigt die Befunde neuerer Regionalstudien, wenn er schreibt, dass die beabsichtigte rassepolitische Homogenisierung des Bezirks, die die so genannte „Säuberung von national und rassisch fremden Elementen“ umfasste, die übrigen wirtschafts-, arbeits- und nationalitätenpolitischen Besatzungsziele nach und nach verdrängt habe (S. 167). Bender schildert ausführlich die ersten Erschießungsaktionen von mindestens 7.000 Białystoker Juden und kriegsgefangenen russischen Soldaten, welche noch in den letzten Junitagen des Jahres 1941 stattfanden. Verantwortlich für die Massaker waren hauptsächlich das von Otto Bradfisch geleitete Einsatzkommando 8 und das Einsatzkommando 9 unter Albert Filbert (beide Einsatzgruppe B), Einheiten von Sicherheitspolizei (Sipo) und Sicherheitsdienst (SD) sowie die Bataillone 309, 322 und 316 der deutschen Ordnungspolizei. Beteiligt war offenbar auch die 221. Sicherungsdivision der Wehrmacht, welche das Bataillon 309 zu befehligen hatte. Am 27. Juni 1941 verübte dieses eines der grausamsten Verbrechen des Zweiten Weltkrieges: Unter den Augen der übrigen Bevölkerung trieben Kompanieangehörige etwa 800 Białystoker Juden, darunter auch Frauen und Kinder, in die im Stadtzentrum gelegene Hauptsynagoge und setzten sie mit Handgranaten und Leuchtspurmunition in Brand.1

Insgesamt fielen zwischen Juli und September 1941 rund 31.000 jüdische Einwohner den Erschießungen und brutalen Misshandlungen deutscher Sicherheitsdienst-, Polizei- und Militäreinheiten zum Opfer. Diejenigen polnischen Juden, welche die ersten Vernichtungsaktionen überlebt hatten, wurden in die fünf Ghettos Białystok, Grodno, Pruzana, Sokólka und Krynki verbracht. Ab Januar 1943 begann dann die „Teilräumung“ der Ghettos. Federführend waren die jeweiligen Kommandeure der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) des Bezirks Białystok, welche eng mit dem Referat IV B4 des Reichssicherheitshauptamts kooperierten. Bis August 1943 wurde diese Funktion von Wilhelm Altenloh ausgeübt, danach übernahm Herbert Zimmermann die Leitung. Bis zur endgültigen Auflösung des letzten Ghettos wurden laut Schätzungen etwa 45–50.000 Białystoker Juden in die Vernichtungslager Auschwitz und Treblinka deportiert; 11.000 von ihnen verbrachte man hingegen in die Arbeitslager von Lublin, wo die meisten der „Aktion Erntefest“ zum Opfer fielen (S. 206).

Ein zweiter Schwerpunkt der Publikation befasst sich mit der Bewertung des Judenmords im Raum Białystok durch die bundesdeutsche Nachkriegsjustiz. Symptomatisch für die vielen Blindstellen deutsch-deutscher Vergangenheitspolitik ist, dass in beiden Nachfolgestaaten des „Dritten Reiches“ insgesamt nur 19 Gerichtsverfahren zum Gesamtkomplex der Judendeportationen stattgefunden haben, davon 13 in West- und 6 in Ostdeutschland. Eines dieser Verfahren war der 1966/67 verhandelte Bielefelder Schwurgerichtsprozess gegen die KdS-Mitarbeiter Altenloh, Errelis, Heimbach und Dibus, der im Mittelpunkt des gemeinsam verfassten Beitrags von Anders, Kutscher und Stoll steht. 1960 aufgrund von Ludwigsburger Ermittlungen als Dokumenten-Prozess zustande gekommen, endete das Verfahren 1970 nach Ablehnung der Revision durch den 4. BGH-Strafsenat immerhin mit rechtskräftigen Verurteilungen. Der Artikel liefert eine faktenreiche, analytisch zumeist überzeugende Schilderung von Ermittlungsphase, Verhandlungsverlauf und Urteilsfindung, überrascht jedoch mitunter durch eine ausgesprochen justizfreundliche Sichtweise, welche nicht immer durch entsprechende Inhalte gedeckt scheint.

Zwei Beispiele mögen genügen, um diese Inkohärenz zu illustrieren: Zum Ersten vermerken die Autoren kommentarlos, dass zwischen Anklageerhebung – immerhin ging es hier um die Tötung mehrerer zehntausend Menschen – und dem Erlass des Haftbefehls gegen die Hauptbeschuldigten über ein halbes Jahr verging; zum Zweiten attestieren sie dem Vorsitzenden Richter Witte eine „faire Verhandlungsführung“ (S. 133). Was soll man jedoch von einem derartigen Befund halten, wenn dieser nicht nur den zitierten Verhandlungsprotokollen widerspricht (S. 109), sondern auch von den interviewten Opferzeugen ausdrücklich verneint wird („The chairman Mr. Witte I thought was very uncomfortable with the whole affair. Like being given a job he did not ask for and in turn looking to get it over with. I certainly did not get enough time to tell my experience“; S. 136)? Überhaupt sind es die Interviews mit den Überlebenden, welche eine besonders positive Hervorhebung verdienen, geben sie der Lektüre doch manche neue und überraschende Wendung. Dabei versteht es sich von selbst, dass deren teils hoffnungsvolle, teils skeptische Ansichten zur strafrechtlichen Selbstaufklärung der Deutschen auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Abgerundet wird die solide Publikation durch eine CD-ROM mit Tonbandmitschnitten aus Verhandlungen, Fotos sowie Kopien urkundlicher Beweismittel, welche das Bielefelder Schwurgericht seinerzeit zur Beweisführung heranzog.

Anmerkung:
1 Okroy, Michael, „Man will unserem Batl. was tun...“. Der Wuppertaler Białystok-Prozeß 1967/68 und die Ermittlungen gegen Angehörige des Polizeibataillons 309, in: Kenkmann, Alfons; Spieker, Christoph (Hgg.), Im Auftrag. Polizei, Verwaltung und Verantwortung. Begleitband zur gleichnamigen Dauerausstellung – Geschichtsort Villa ten Hompel, Essen 2001, S. 301-317.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension