K. Heinsohn u.a. (Hgg.): Zwischen Karriere und Verfolgung

Titel
Zwischen Karriere und Verfolgung. Handlungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland


Herausgeber
Heinsohn, Kirsten; Vogel, Barbara; Weckel, Ulrike
Reihe
Geschichte und Geschlechter 20
Erschienen
Frankfurt/Main 1997: Campus Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eifert, Christiane

Untersuchungen ueber die Handlungsraeume von Menschen im Nationalsozialismus und ueber die Verantwortung, die sie mit ihrem Handeln jeweils uebernahmen, koennen noch immer eine grosse oeffentliche Aufmerksamkeit erlangen. Je radikaler die vorgetragenen Thesen, desto aufgeregter das interessierte Publikum. Dies gilt nicht erst fuer Goldhagen. Auch die historische Frauenforschung kann hier Beispiele bieten. Ueber ihre Grenzen hinaus wurden der "Historikerinnen-Streit" oder auch die Opfer-Taeterinnen-Debatte zur Kenntnis genommen. Der Mitteilung, dass Frauen im Nationalsozialismus - ebenso wie Maennern - mehr Handlungsoptionen als lediglich die des Opfer oder die der Taeterin zur Auswahl standen, kommt jedoch noch immer Neuigkeitswert zu. Daher ist es sehr begruessenswert, in dem anzuzeigenden Sammelband eine Auswahl von zwoelf Beitraegen (darunter neun Originalbeitraegen) zu finden, die eine differenzierte Perspektive einnehmen. Praezise werden hier zunaechst die Handlungsraeume von Frauen an ausgewaehlten Beispielen ergruendet und dann auch die Wahrnehmungen der handelnden Frauen von ihrem jeweiligen Entscheidungsspielraum erfragt. Auf ueberzeugende Weise koennen die drei Herausgeberinnen mit dem vorgelegten Buch demonstrieren, welchen Erkenntnisgewinn der Verzicht auf Polemik, auf pauschale Anklagen oder Apologien eroeffnet. Sie reden damit, wie sie in ihrer Einleitung unterstreichen, keinem moralischen Relativismus das Wort, sondern suchen in praezisen Untersuchungen des unterschiedlichen Handelns von Frauen die Grundlage fuer differenzierte moralische Urteile: "Falls der Blick auf unterschiedliche Handlungsraeume von Frauen schliesslich nur eine geringe Zahl von ueberzeugten Nationalsozialistinnen zu Tage foerdern sollte, dafuer aber zahlreiche Spielarten von Opportunismus, Streben nach persoenlichem Vorteil und mangelnder Zivilcourage, waere dies weder in moralischer Hinsicht eine Entschuldigung noch als politische Diagnose beruhigend." (S. 14)

Dieses Anliegen unterstuetzen die biographischen Portraits von zwei Publizistinnen, die den Band unter der Ueberschrift "Lebensbilder" eroeffnen, auf vollendete Weise: der dem Nationalsozialismus zustimmenden einstigen Demokratin tritt die kaempferische voelkische Antidemokratin gegenueber. Angelika Schaser weist am Beispiel der jahrzehntelang fuer die liberale Partei und den Bund deutscher Frauenvereine taetigen Gertrud Baeumer nach, wie weit deren Uebereinstimmung mit dem NS-Regime ab 1933 ging. Die Autorin lotet insbesondere die Kluft aus, die zwischen der Wahrnehmung von Baeumers politischen Freundinnen, die deren zunehmende Uebereinstimmung kritisierten, und Baeumers Selbstwahrnehmung lag, als alleinige Herausgeberin der Zeitschrift "Die Frau" eine schwere Buerde zu tragen, naemlich das Erbe der buergerlichen Frauenbewegung zu bewahren - was ihr bis 1944 gelang. In scharfem Kontrast hierzu steht das Beispiel der Sophie Rogge-Boerner, das Eva-Maria Ziege beisteuert. Rogge-Boerner ist eine der wenigen Frauen, die seit den zwanziger Jahren offensiv fuer voelkische und frauenrechtlerische Rassenpolitik warb. Sie forderte Macht fuer eine sozial-rassistisch definierte weibliche Elite und eine radikale Rassenpolitik zur Bekaempfung von "falscher Maennlichkeit" und Maennerbuendelei. Ab 1933 vertrat sie ihre Positionen in ihrer Zeitschrift "Die deutsche Kaempferin"; mit deren Verbot 1937 endet ihre Wirksamkeit als Publizistin.

Der Abschnitt "Lebensfuehrung unter staatlichen Normen" bietet einen Beitrag von Gabriele Czarnowski zur nationalsozialistischen Ehepolitik und einen Aufsatz von Birthe Kundrus ueber die erwuenschte Moral deutscher Soldatenfrauen. In beiden Texten werden nationalsozialistische Interventionen in das 'Privatleben' dokumentiert, naemlich die Versuche, Eheschliessung und Ehefuehrung fuer politische Zwecke zu instrumentalisieren.

Unter der Ueberschrift "Umgang mit Entrechtung und Verfolgung" werden die Handlungsraeume der Opfer des Nationalsozialismus thematisiert. Sybille Quack untersucht die Situation juedischer Frauen zwischen 1933 und 1938; sie kommt zu dem Ergebnis, dass die fortdauernde Ausgrenzung und Diskriminierung juedischer Menschen bei diesen zu einer Aufwertung der Familie und der traditionellen Aufgabenverteilung zwischen Frauen und Maennern gefuehrt habe. Annegret Friedrich stellt mit Charlotte Salomons Singespiel "Leben? Oder Theater?" ein Kunstwerk vor, das die Wahrnehmung und Erinnerung einer Familiengeschichte im Exil als aeusserst komplexen Prozess thematisiert. Ulrike Jureit geht den Schuldgefuehlen in den Erinnerungen juedischer weiblicher KZ-Ueberlebender nach. Sie argumentiert, dass diese Schuldgefuehle der Opfer aus der Verweigerung der Taeter und Taeterinnen resultieren, fuer ihre Tat die Verantwortung zu uebernehmen: "So buerden die Taeter und Taeterinnen den Opfern die Last des Erinnerns auf." (S. 163)

Der abschliessende Abschnitt "Mitwirkung und Verantwortlichkeit" enthaelt fuenf Beitraege, die "unterschiedliche Grade von Teilnahme" am NS-Regime analysieren. Beate Meyer bemisst am Beispiel zweier Frauen in qualifizierten Stellen deren Freiraeume, sich in ihrer Erwerbsarbeit immer wieder fuer oder gegen Anpassung und Mitmachen zu entscheiden. Hierbei wird deutlich, dass Mitlaeufertum keinen einmaligen, sondern einen immer wieder neu herzustellenden Konsens mit dem Regime bedeutete. Katrin Doerdelmann arbeitet Verhalten und Motive von Denunziantinnen heraus. Sie kontrastiert die Verfolgerakten, also die Bestaende der Sondergerichte ueber auf Denunziation beruhenden 'Straftaten', mit den Akten aus den Verfahren, die die vormaligen Opfer nach Kriegsende gegen die vormaligen Taeterinnen und Taeter wegen Denunziation anstrengten. An sechs Beispielen, die Denunziation als auf familiaeren, nachbarschaftlichen oder beruflichen Konflikten basierend darstellen, erlaeutert Doerdelmann, dass Frauen lediglich bei innerfamiliaeren Denunziationen die Mehrzahl der Anzeigenden und Maenner mehrheitlich die Angezeigten waren. Diese Faelle heben sich zudem von den anderen ab durch das Fehlen politischer Motivationen und die Haeufung von sexueller Gewalt. Bei nachbarschaftlichen und beruflichen Konflikten hingegen denunzierten ueberwiegend Maenner Maenner. Einen vorrangig von Frauen gestalteten Handlungsraum nimmt Dagmar Reese in den Blick, die eine Typologie von Fuehrerinnen im Bund Deutscher Maedel praesentiert. Diese Typologie beruecksichtigt einerseits die soziale Herkunft der BDM-Fuehrerinnen, andererseits ihre Motive zum Eintritt in die Organisation und zur Uebernahme von Fuehrungsaufgaben. Die Geschichte des weiblichen SS-Korps stellt Gudrun Schwarz vor. Sie arbeitet als erste heraus, "dass die als 'Maennerorden' wahrgenommene Organisation der SS ein 'Sippenverband' mit Frauen und Kindern war" und "dass zur SS-Organisation ein 'Frauenorden' gehoerte". (S. 239) Zum weiblichen SS-Korps zaehlten am Kriegsende etwa 10.000 Frauen, von denen keine je zur Verantwortung gezogen wurde. Das Buch beschliesst ein resuemierender Beitrag von Gisela Bock: "Ganz normale Frauen. Taeter, Opfer, Mitlaeufer und Zuschauer im Nationalsozialismus". Bock stellt zehn Episoden vor, von denen ausgehend sie allgemeinere Schluesse ueber nichtjuedische deutsche Frauen im nationalsozialistischen Deutschland zieht. Hier hebt sie "die Politisierung des Privaten im spezifischen Kontext einer Diktatur" hervor, wodurch "die Verteidigung eines privaten Raumes zu einer Form von Widerstand" werden konnte (S. 256f.) Sie unterstreicht weiter, dass es die ausserhaeuslichen Taetigkeiten von Frauen waren, die bei ihnen wie bei Maennern die Unterstuetzung des Regimes und seiner Rassenpolitik bewirkten und praegten. Fuer wesentlich haelt Bock daher "die qualitative Aehnlichkeit der Verantwortung, die Identitaet der Motive, Einstellungen und Handlungen der Taeter beiderlei Geschlechts." (S. 258)

In einer Ausstellung ueber "Ungleiche Schwestern", die das Bonner Haus der Geschichte gegenwaertig praesentiert, wird die Geschichte von 'bewegten Frauen' seit der Weimarer Republik dargestellt. Nach den Weimarer Anfaengen "stockt und staut sich" diese Geschichte von bewegten Frauen "in der finsteren Abteilung 'Maennerstaat und Muetterkult' und trennt sich schliesslich nach zwei Seiten", wie die FAZ berichtete (4.11.1997, S. 47). Das Klischee, der Nationalsozialismus habe Frauen zu blossen Hausfrauen und Gebaermaschinen erniedrigt, hat an Wirkungsmacht offenbar noch nicht verloren, der Aufklaerungsbedarf ist noch immer unglaublich gross. Ich wuensche dem Buch daher eine moeglichst weite Verbreitung und Kenntnisnahme, ich wuensche ihm viele engagierte Diskussionen ueber die engen Grenzen der Zunft hinaus.

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