G. Dutschke: Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben

Titel
Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben. Rudi Dutschke - Eine Biographie


Autor(en)
Dutschke, Gretchen
Erschienen
Anzahl Seiten
512 S.
Preis
€ 10,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Pavel A. Richter, Fakultaet fuer Geschichtswissenschaft und Philosophie, Universitaet Bielefeld

Jetzt geht es also wieder los: Die Bundesrepublik (zumindest ihr westlicher Teil) bereitet sich intensiv auf die 30. Wiederkehr des Jahres 1968 vor. Erste Kongresse finden statt, der "Spiegel" bringt eine grossangelegte Serie, und das Fernsehen wird in den naechsten Monaten sicherlich einige Spielfilme und Dokumentationen ausstrahlen. Hierbei sind die Urteile ueber diese Bewegung so mannigfaltig wie die K-Gruppen der 70er Jahre - das Spektrum reicht von der "Revolution der Gestoerten" (R. Grossarth-Maticek) bis hin zur "letzten Revolution, die noch nichts vom Ozonloch wusste" (Cohn-Bendit/Mohr). Die Republik, und mit ihr ihre Wissenschaftler, sind sich noch keineswegs einig, wie denn "diese Studentenbewegung" einzuordnen ist: War sie nun die Pubertaet der Republik, wie wohlwollendere konservative Politikwissenschaftler haeufig meinen, war sie nur eine Vorbereitung fuer den Terrorismus der 70er Jahre (so die weniger wohlwollenden) oder begann mit ihr die moderne, weltoffene Bundesrepublik erst in den Jahren 1966 bis 1968, nachdem ihre erste Generation mit dem Muff der Adenauer-Aera gebrochen hatte und selbst die Macht uebernahm?

Und so spielt sich alle Jahre wieder, puenktlich zu den jeweiligen Jubilaeen, das gleiche ab: Um zu erfahren, wie es denn damals WIRKLICH war, wendet sich die Oeffentlichkeit nur allzu gerne an die Beteiligten von damals. Gerne laesst sie sich von der damaligen Revoluzzer-Prominenz noch einmal den wohligen Schauer der verrauchten (und verruchten) Vollversammlungen in den AudiMaxen der Universitaeten vermitteln. Die ehemaligen Bewohner der Kommunen koennen noch einmal erzaehlen, wie frei der Sex doch vor dem Aids-Zeitalter war, und jede Lehrerin kann ihre Klasse mit Erzaehlungen ueber die geschlagenen Schlachten vor dem Springer-Hochhaus zumindest kurzzeitig fesseln. Nur einer kann keine Anekdoten mehr beisteuern, ist er doch am Heiligabend 1979 gestorben: Rudi Dutschke.

Dies ist nun anders geworden: Gretchen Dutschke, gebuertige Amerikanerin und Witwe des "Roten Rudi" hat eine Biographie vorgelegt, die Erzaehlung eines "barbarischen, schoenen Lebens". Verspricht der Klappentext eine "offene Auseinandersetzung mit ihrem ermordeten Mann", die sich auf "unzaehlige, bisher nicht veroeffentlichte Briefe, Tagebucheintragungen und Notizen" stuetzt, so wird sehr schnell offensichtlich: Dieses Buch ist schlecht geschrieben, schlecht strukturiert, un-informativ, und, in Teilen, rundweg falsch. Es ist, und dies ist das schlimmste daran: eine verpasste Chance.

Gretchen Dutschkes Biographie folgt dem offenbar unvermeidlichen Aufbau solcher Lebensbeschreibungen: Kindheit und Jugend in der DDR, Uebersiedelung nach West-Berlin, um dort das Soziologiestudium aufzunehmen, welches die Machthaber der DDR Dutschke wegen dessen kritischer Haltung zum Wehrdienst verweigerten, erste politische Gehversuche in der "Frontstadt des Kalten Krieges". Schliesslich dann der Beginn dessen, was spaeter als die Ausserparlamentarische Opposition, die Studentenbewegung oder kurz als "die Apo" bekannt werden sollte. Rudi Dutschke spielte dabei zweifelsohne eine wichtige und, zumindest fuer das Berliner Milieu um den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), auch zentrale Rolle als Ideengeber, fesselnder Redner und Organisator. Zusammen mit Bernd Rabehl und Gaston Salvatore gelang es dieser kleinen Gruppe, die ziemlich verstaubten "Seminarmarxisten" des SDS zu neuen Aktionsformen zu bekehren. Durch sie wurden neue Themenfelder (und hier besonders die "Dritte Welt" und die Rolle der Befreiungsbewegungen) der Bewegung zugaenglich gemacht und, besonders nach der Erschiessung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967, fuer einige Monate die Anliegen und Forderungen der Studenten einer breiteren Oeffentlichkeit bekannt gemacht. Besonders hierbei spielte Rudi Dutschke eine tragende Rolle: Sein durchdringender Blick, seine Redegewandtheit, seine Diskussionsfaehigkeit und sein Aeusseres als "Buergerschreck" mit langen Haaren und schmuddeligen Pullovern machten ihn zu einer von der medialen Oeffentlichkeit gerne gesuchten Figur. Im "Spiegel" ebenso wie bei Guenter Gaus "Im Gespraech" eroeffnete die Person Dutschke den protestierenden Studenten eine Plattform der Darstellung - und der Selbstdarstellung.

Dutschke konnte diese Rolle des Tribuns der Bewegung nicht lange ausfuellen: am Gruendonnerstag 1968 schiesst ein Arbeiter Dutschke in den Kopf. Er wird schwer verletzt und ueberlebt nur knapp - verliert jedoch seine Lese- und Schreibfaehigkeit auf Monate. Erschwert wird die Rekonvaleszenz zusaetzlich noch durch die Umstaende der "Flucht" der Dutschkes, die nicht mehr in Deutschland bleiben wollen und von keinem anderen Land geduldet werden. Nach Italien und England findet sich erst in Daenemark eine neue Heimat. Doch Dutschke kam zeitlebens nicht los von Deutschland, mischte sich immer wieder in die aktuellen Debatten ein, von der Organisationsfrage bis hin zur neuen Oekologiebewegung und der Gruendung der GRUENEN. Allerdings tat er dies vorsichtiger, zoegernder, weniger exponiert. Er wurde gesucht und gefunden von einer Linken, die nach dem schnellen Ende der Ausserparlamentarischen Opposition im Herbst 1968 neue Formen der politischen Aktion und Organisation suchte. Diese Suche nach einer neuen politischen Heimat, fuer die sich auch wieder ein oeffentliches Engagement lohnen wuerde, fand Dutschke erst am Ende seines Lebens bei den neugegruendeten GRUENEN.

All dies ist bereits seit langem bekannt (nicht zuletzt durch die ausgesprochen gelungene Dutschke-Biographie von Ulrich Chaussy), und es haette nicht dieses Buch Gretchen Dutschkes bedurft, um all dies noch einmal zu wiederholen. Dabei haette sich Dutschkes Witwe wirklich verdient machen koennen um die Aufarbeitung dieses hoch interessanten Kapitels der deutschen Nachkriegsgeschichte, wenn sie die bisher nicht veroeffentlichten Teile der Tagebuecher, Briefe und Notizen Dutschkes vollstaendig editiert und veroeffentlicht haette. Damit waere es endlich moeglich gewesen, das politische Wirken Dutschkes konsistent aufzuarbeiten, die Genese seiner Positionen zu wichtigen inhaltlichen Fragen zu erfassen und somit den Mythos "Rudi" zu entzaubern.

Doch ganz offensichtlich will Gretchen Dutschke gerade diesen Mythos um ihren Mann noch weiter pflegen: "Die Existentialisten", so schreibt sie, "hielten Marx und Lukacs fuer ueberholt. Jedoch, ueberholt ist nur das, was nicht gerade in Mode ist. Es ist nur wenigen vergoennt, alte Einsichten fuer die Gegenwart nutzbar zu machen. Rudi war einer von ihnen. Darin bestand sein Genie." (S. 40) Gnadenlos fuehrt Gretchen die Fraktions- und Fluegelkaempfe des SDS weiter, ohne einen Hauch von Objektivitaet oder zumindest kritischer Distanz. Die Fronten sind fuer sie klar: Wer nicht auf Rudis (vermeintlicher) Linie lag, war entweder von der DDR bezahlt oder einfach nur neidisch. Zu Beginn seiner Taetigkeit im SDS bestand die Mehrheit des Bundesvorstandes noch aus sog. Traditionalisten, die eine konventionellere Form der sozialistischen Organisation vertraten, im Gegensatz zu den Antiautoritaeren (zu denen Dutschke zaehlte), deren Aktionismus damals vielen SDSlern suspekt war. Auf der Delegiertenkonferenz des Studentenverbandes 1965 kam es zur offenen Auseinandersetzung zwischen den beiden unterschiedlichen Richtungen. Aber statt sich mit den Positionen der Traditionalisten auseinanderzusetzen, schiesst Gretchen Dutschke scharf: "Im Vordergrund gaben pragmatische Taktierer um den Vorsitzenden Helmut Schauer den Ton an. Hinter sich hatten sie nicht nur die Tradition des SDS, sondern auch Geld aus der DDR. Das wusste man damals natuerlich nicht. Aber Rudi spuerte gleich, dass einiges faul war. [...] Die DDR-Sympathisanten sollten auch in den vom SDS unterstuetzten Schriften mehr zu Wort kommen, um die neue Stroemung, die Rudi repraesentierte, zu bekaempfen." (S. 72/73) Hier wurde also nicht nur eine andere Meinung als die Dutschkes vertreten. Nein, es handelt sich um "pragmatische Taktierer", die lediglich auf Anweisung ihrer Herren und Geldgeber in Ost-Berlin handeln. Sie vertreten scheinbar kein eigenes Konzept (zumindest erfaehrt der Leser hierueber von Gretchen Dutschke nichts), sondern sehen ihre einzige Aufgabe darin, die Antiautoritaeren zu "bekaempfen". Die Unterstellung, Helmut Schauer habe Geld aus der DDR erhalten mag richtig oder falsch sein - nur wussten wir es damals so wenig wie heute. Ein solcher Vorwurf gegen einen Menschen, der heute noch in der Oeffentlichkeit steht (Schauer ist Mitglied der Tarifkommission der IG Metall in Frankfurt a.M.), bedarf der hieb- und stichfesten Beweisfuehrung. Ansonsten ist er nicht nur unredlich, sondern schlicht Rufmord.

Aber warum gab es denn ueberhaupt Richtungsstreite innerhalb des SDS? Warum richtete man sich nicht einfach nach Dutschke? "Was war los mit der SDS-Fuehrung? Warum handelte sie gegen die eigenen Interessen? Warum versank sie im Sumpf des Dogmatismus? Und warum bekaempften die Genossen Rudi mit aller Kraft? Sie waren eitel. Rudi war ihnen weit ueberlegen, sie mussten diese Ueberlegenheit zerstoeren. Rudi war anders als sie, und das verkrafteten sie nicht. Sie anerkannten sein Charisma nicht und hatten selbst keines." (S. 149) Mit einem solchen staatssozialistischen Personenkult schadet Gretchen Dutschke zuerst ihrem Mann selbst: Die durchaus neuen und sehr interessanten Facetten der politischen Position Dutschkes (etwa ueber die Frage einer Wiedervereinigung), die bis heute kaum bekannt waren, gehen unter in einem Meer von Weihrauch und Anekdoten. Und selbst diese Anekdoten sind nicht neu, sie sind alle bereits von Ulrich Chaussy, dessen Buchaufbau Gretchen Dutschke auch gleich mituebernimmt, erzaehlt worden. Mit dem entscheidenden Unterschied freilich, dass er sie lediglich zur Illustration seiner im Quellenmaterial fussenden fundierten Thesen verwendet.

Gretchen Dutschke jedoch hat keine Thesen, sie sucht keine Kontinuitaeten im Leben ihres Mannes, sie versucht auch nicht, die praegenden Ereignisse in seinem Leben (etwa in der DDR) mit seinen politischen Positionen in Verbindung zu bringen. Anstatt die wichtigen ideologischen Positionen geschlossen in ihrer Entwicklung darzustellen - zu denken waere hier etwa an die Organisationsdebatten im SDS, die Gewaltfrage, das Verhaeltnis zu den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt oder die Frage nach einer Wiedervereinigung Deutschlands unter sozialistischen Vorzeichen - folgt sie dem chronologischen Ablauf des Lebens ihres Mannes. Doch selbst hier gelingt ihr kaum je etwas Originelles, etwas, was die bisherige Dutschke-Forschung so noch nicht gewusst hat. Gretchen Dutschke schreibt ueber ihren Mann, ueber ihr Leben mit ihm - und doch erscheint sie seltsam distanziert und uniformiert. Und dies ist eine verpasste Chance, da sicherlich kaum jemand einen solchen Einblick in den Arbeits- und Denkprozess von Rudi Dutschke hatte wie seine Frau. Aber Frau Dutschke laesst sich nicht auf eine solche Analyse ihres Mannes ein, sie erzaehlt lieber die sattsam bekannten, immer gleichen Geschichten.

Der Klappentext des Bandes fasst in einem einzigen Absatz die gesamte Problematik dieser Biographie ungewollt treffend zusammen: "Dieses Buch traegt den Geist der sechziger Jahre: Es ist antiautoritaer und liebevoll, witzig und tragisch, analytisch und spannend. Es ist der letzte Text des Aufstandes von 1968." Und darin laesst sich dann auch wieder etwas Positives sehen, wenn denn das Versprechen eingehalten wird, wirklich der LETZTE Text des Aufstandes von 1968 zu sein. Vielleicht wird es dann endlich moeglich, sich dem Thema "1968" so zu naehern, wie es dem Gegenstand gebuehrt: kritisch, analytisch, systematisch, wissenschaftlich, kurz: historisch.

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