I. Runde: Xanten im frühen und hohen Mittelalter

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Titel
Xanten im frühen und hohen Mittelalter. Sagentradition - Stiftsgeschichte - Stadtwerdung


Autor(en)
Runde, Ingo
Reihe
Rheinische Archiv 147
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
645 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karsten Igel, Institut für vergleichende Städtegeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Mit dem vorliegenden Band will Ingo Runde die Geschichte des Viktorstiftes und die Stadtwerdung Xantens bis in das 13. Jahrhundert hinein untersuchen und darstellen. Der zeitliche Beginn dieses Unterfanges fällt aber nicht mit der Gründung des Stiftes zusammen, sondern bezieht die Antike und frühmittelalterliche Besiedlung mit ein, um so auch der Frage nach Siedlungskontinuität oder -bruch zwischen der römischen Colonia Ulpia Traiana und dem mittelalterlichen Xanten nachzugehen. Dieser Fragestellung und der Quellenlage entsprechend werden die archäologischen Befunde in größerem Umfang miteinbezogen, ebenso die Rolle Xantens in den frühmittelalterlichen Traditionen und im Nibelungenlied, um auch diese auf den Quellenwert für die Frühgeschichte des Ortes zu untersuchen.

Trotz der Hintergrundfrage nach der Siedlungskontinuität erscheint der Einstieg mit der vorrömischen Besiedlung, beginnend mit dem mittleren Paläolithikum, doch etwas überraschend, zumal es hier bei einem allgemeinen Überblick bleibt. Dieses Vorgehen erklärt Runde zwar selbst mit der Funktion als erster Band einer Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten zur Xantener Stadtgeschichte (S. VII), allerdings bleibt doch die Frage, warum dann die römische Zeit mit den gut untersuchten Römerlagern und vor allem der römischen Stadt keinen eigenen Band verdienen sollte, statt hier auf 36 Seiten (S. 37-71) kurz abgehandelt zu werden. Im Blick auf die frühmittelalterliche Siedlungskontinuität wäre höchstens die Spätphase der Colonia Ulpia Traiana von unmittelbarem Interesse für diese Untersuchung, die urgeschichtliche Besiedlung und die frühe römische Zeit können hierzu wohl kaum etwas beitragen. Gleiches gilt für die Schilderung der römischen Eroberungspolitik in Germanien um Christi Geburt und des Bataver-Aufstands, die zwar beide die strategische Lage des Legionslagers und daraus folgend der römischen Stadt begründen, für die Kontinuitätsfrage aber ohne Bedeutung sind. Angesichts der umfangreichen Ausführungen zur früh- und hochmittelalterlichen Geschichte Xantens sind dies allerdings nur marginale Kritikpunkte, die sich an die Gesamtkonzeption richten.

Das nächste, mit „Frühmittelalter“ betitelte Kapitel, wendet sich in seinem ersten Teil zur Merowingerzeit (S. 72-230) nun vor allem der Frage der Kontinuität zwischen Spätantike und frühem Mittelalter zu. Auf den ersten Blick scheint diese Frage trivial, da das mittelalterliche Xanten neben der römischen Colonia Ulpia Traiana entstand, eine unmittelbare Verbindung nur in der Wiederverwendung des antiken Steinmaterials der zum Steinbruch gewordenen Stadt erkennbar ist. Allerdings ist hier feiner zu unterscheiden und zu fragen, ob die Ursprünge des neuen christlichen Zentrums, des späteren St. Viktor-Stifts, schon in spätrömische Zeit zurückreichen und der Übergang von der überwiegend romanischen zur fränkisch dominierten Bevölkerung fließend war oder ob es einen kulturellen Bruch gab. Und genau dieser Frage geht Runde in einer bemerkenswerten und wohl sehr seltenen Verknüpfung von historischen, archäologischen und germanistischen Quellen nach, indem er der sehr dünnen schriftlichen Überlieferung eine eingehende Diskussion der bisherigen Ausgrabungen, vor allem der frühen Bestattungen im Bereich von St. Viktor, bzw. deren unterschiedlichen Interpretationen gegenüberstellt, um schließlich die früh- und hochmittelalterlichen Sagen und Legenden auf Hinweise auf die Entstehung Xantens in fränkischer Zeit abzuklopfen. Während die historischen Quellen in diesem Zusammenhang keine auch nur annähernd sicheren Belege liefern können, deuten die archäologischen Befunde schon mit größerer Wahrscheinlichkeit auf einen möglichen Bruch der Besiedlung im unmittelbaren Xantener Gebiet, nachdem die römische Besiedlung wohl kurz nach 400 endete. Die aus den 1930er-Jahren stammende These eines spätantiken doppelten Märtyrergrabes unter St. Viktor ist nach den neuerlichen Auswertungen der Grabungsbefunde nicht mehr haltbar, dagegen entstand um die Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert ein kirchlicher Steinbau als Keimzelle der späteren Stiftskirche (S. 125). Zuvor scheint es eine, allerdings letztendlich nicht sicher nachweisbare, Verödung des Ortes gegeben zu haben. Auch die Sagentradition bietet keinen Anlass, eine spätantike Wurzel des Ortes zu vermuten. Dies gilt für die fränkische Troja-Legende, die frühestens um die Mitte des 7. Jahrhunderts in der für Xanten entscheidenden Form fassbar ist, während bei Gregor von Tours noch kein Hinweis auf das niederrheinische Troja (nach dem römischen Colonia Ulpia Traiana) vorliegt, ebenso aber auch für das Nibelungenlied, in das Xanten wohl erst durch hochmittelalterliche Bearbeitungen Eingang fand. Im Blick auf die Nennung im Rolandslied ist eine Verwechslung mit dem aquitanischen Saintes nicht auszuschließen (S. 168). Ähnlich undeutlich sind in diesem Zusammenhang die frühen Märtyrertraditionen für Xanten.

Die folgenden Ausführungen zur karolingischen Zeit (S. 231-314) ordnen den Xantener Raum mangels örtlicher Quellen in die weiteren Zusammenhänge ein, weiten sich mitunter aber leicht zu einer fränkischen Reichsgeschichte aus. Hier hinein fallen die erste in die Mitte des 9. Jahrhunderts zu setzende Erwähnung Xantens und die ebenso den Ort berührenden Normanneneinfälle. Konkreteres bieten dann schon wieder die archäologischen Befunde mit einem Kirchenbau der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts, der zusammen mit Anbauten der Zeit um 800 wohl die Anfänge des erst 865/866 urkundlich belegten Viktorstiftes markiert und schon im Laufe des 9. Jahrhunderts einer dreischiffigen Basilika wich. Ebenfalls kurz nach 800 sind erste dünne Hinweise auf eine Handwerker- und Händlersiedlung im Vorfeld des Stiftes fassbar. Die diesen Abschnitt abschließende Darstellung der Stiftverfassung muss sich natürlich weitgehend auf hochmittelalterliche Belege stützen.

Auch im letzten Hauptkapitel zur hochmittelalterlichen Phase, untergliedert in „Ottonisch-salische Zeit“ (S. 315-425) und „Staufische Zeit“ (S. 426-492), bindet Runge die nun langsam zahlreicher werdenden Quellen zur Stiftsgeschichte eng und sinnvoll in die Entwicklungsströme des Erzbistums Köln aber auch des Reiches ein. Die entsprechenden Abschnitte untergliedert er wie schon für die fränkische Zeit nach der jeweiligen Regierungszeit der Könige. Für das Stift selbst kann er ab dem 11. Jahrhundert erste Belege für die Pröpste anführen und ab dem 12. Jahrhundert für die Besitzungen und deren weiteren Ausbau. In die staufische Zeit fallen zu Beginn des 13. Jahrhunderts die wachsenden Emanzipationsbestrebungen des Stiftskapitels, das andererseits mit der Stadtrechtsverleihung an Xanten durch den Kölner Erzbischof 1228 eine örtliche Konkurrenz erhielt. Dieses Datum bildet denn zugleich auch den Endpunkt der Untersuchung. Ein bauliches Gegenüber von Erzbischof und Kapitel bestand allerdings schon seit dem 10. Jahrhundert, als auf dem westlichen Ende der Immunität gegenüber der ebenfalls in ottonischer Zeit neu errichteten Stiftskirche die erzbischöfliche Burg entstand. Während ausreichende archäologische Befunde für die hochmittelalterliche Stadt Xanten fehlen, verweisen Privilegien und die mögliche Existenz einer jüdischen Gemeinde bereits im 12. Jahrhundert auf eine fruchtbare Entwicklung der als oppidum bezeichneten Siedlung schon vor der Stadtrechtsverleihung.

Auch wenn sich über die Zugehörigkeit der Abschnitte zur vorrömischen und frühen römischen Zeit zu dieser Untersuchung diskutieren lässt, liegt mit dieser von Ingo Runde an der Universität Duisburg vorgelegten Dissertation ein bemerkenswerter Band vor, in dem der Autor aus tiefer Quellenkenntnis schöpfen konnte und zudem auf fruchtbare Weise Archäologie, Germanistik und Geschichte miteinander verwoben hat. Seinen umfangreichen Zettelkasten in Form einer Datenbank, die auch für weitere Forschung zur Verfügung steht, hat er zudem nicht einfach über den Leser ausgeschüttet, sondern in eine angenehm lesbare Sprache gegossen. Der Autor kann wie die Stadt Xanten zu diesem Band nur beglückwünscht werden, gerade weil nun ein etwas nüchternerer Blick an die Stelle einer häufig starken Verklärung der Frühgeschichte dieser Stadt getreten ist.

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