L. Mertens (Hg.): Unter dem Deckel der Diktatur

Cover
Titel
Unter dem Deckel der Diktatur. Soziale und kulturelle Aspekte des DDR-Alltags


Herausgeber
Mertens, Lothar
Reihe
Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung 84
Erschienen
Anzahl Seiten
250 S.
Preis
€ 67,40
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Beatrix Bouvier, Studienzentrum Karl-Marx-HausTrier, Friedrich-Ebert-Stiftung

Der von Lothar Mertens herausgegebene Sammelband enthält Beiträge, die auf Vorträge einer Tagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung im April 2001 zurückgehen. Der Band ist teuer, zu teuer für einen Sammelband von 250 Seiten mit Aufsätzen, die zwar unter die Gemeinsamkeit des DDR-Alltags subsumiert werden, inhaltlich freilich unverbunden nebeneinander stehen. Dennoch ist jeder Beitrag für sich interessant und lesenswert. Zusammengebunden werden sie notdürftig durch die Formel „verschiedene Aspekte“. Da die Beiträge aus größeren Arbeiten oder Projekten stammen, haben sie dem Herausgeber zufolge Workshopcharakter und sollen als Zwischenbilanz verstanden werden. Muss jede Zwischenbilanz veröffentlicht werden? So mag der Leser fragen. Diese Bemerkungen richten sich eher grundsätzlich gegen – zumeist eben teure – Sammelbände, in denen heute fast jede Tagung verewigt wird als gegen die in dem anzuzeigenden Band veröffentlichten Beiträge selbst.

Der Herausgeber, Lothar Mertens, ist gleich zweimal vertreten. In einem Beitrag beschäftigt er sich mit vertraulichen Untersuchungsergebnissen aus DDR-Dissertationen über den Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR. Es liegt auf der Hand, dass in derartigen Arbeiten die Frage nach dem tatsächlichen ökonomischen Nutzen nicht gestellt wurde, weil dies dem Willen zur flächendeckenden Durchsetzung der Mehrschichtarbeit hätte entgegenstehen können. In unterschiedlichen ideologischen Wendungen oder Verbrämungen wurde sie als eine im „Sozialismus“ erstrebenswerte Notwendigkeit dargestellt, wohingegen sie im „Kapitalismus“ eine verabscheuungswürdige Methode der Ausnutzung der Menschen darstelle. Die Menschen haben damals die Mehrschichtarbeit allgemein als notwendiges Übel betrachtet, dem mit arbeitsrechtlichen Möglichkeiten kaum zu entrinnen war. Die gleichzeitig damit verbundenen oder sie begleitenden Stimuli in Form von Schichtzulagen und Sonderprämien wurden gerne angenommen. Vor allem für Frauen waren jedoch die Belastungen der Mehrschichtarbeit nur schwer zu kompensieren. Denn sie hatten in der Regel neben der Erwerbstätigkeit noch die Haus- und Erziehungsarbeit zu leisten. Zahlreiche psycho-soziale Konflikte, die offen erst nach der Wende thematisiert wurden, waren die Folgen. Vieles gilt für die Mehrschichtarbeit insgesamt: Weder die ökonomische Fragwürdigkeit der volkswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung oder die gesellschaftlichen und individuellen Belastungen wurden öffentlich thematisiert.

Der zweite Beitrag des Herausgebers beschäftigt sich mit der Rückkehr von in der NS-Zeit vertriebenen Wissenschaftlern in die SBZ/DDR, ein Teilergebnis, das in den Kontext eines bio-bibliografischen Forschungsprojektes über „Vertriebene jüdische Wissenschaftler“ gehört. Dass nur ein geringer Teil von vertriebenen Wissenschaftlern überhaupt nach Deutschland zurückkehrte, ist in der Exilforschung (die sich seit langem auch mit dem Thema der Remigration befasst) bekannt. Es überrascht kaum, dass es hauptsächlich Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler waren, die nach Deutschland zurückkehrten. Viele von ihnen hatten sich auch im Exil mit Deutschland befasst und waren der deutschen Sprache verhaftet geblieben. Die politische Entwicklung der SBZ/DDR hatte verhindert, dass sich aus der großen Gruppe der rassisch Verfolgten viele zur Remigration in die SBZ/DDR entschlossen. Die wenigen, die es taten, hatten schon vor 1933 der KPD angehört oder ihr nahe gestanden. Die weitaus größere Zahl der „bürgerlichen“ Wissenschaftler jüdischer Herkunft konnte sich kaum zur Rückkehr nach Deutschland überhaupt und noch viel weniger in die SBZ/DDR entschließen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. So wichtig diese Aufschlüsselungen auch sein mögen, mit dem Oberthema „Alltag“ haben sie meines Erachtens wenig zu tun.

Annegret Schüle beschäftigt sich mit dem Brigadealltag im VEB Leipziger Baumwollspinnerei. Dieser Beitrag entstammt einer Arbeit über Arbeitserfahrungen von Frauen der Leipziger Baumwollspinnerei, die vor wenigen Jahren veröffentlicht worden ist. Die Untersuchung basiert hauptsächlich auf Erinnerungsinterviews mit ehemaligen Betriebsangehörigen, und dies gilt auch für den vorliegenden Beitrag über den Brigadealltag. Durch diese Interviews unterscheidet sie sich hauptsächlich von anderen Arbeiten über die Brigaden, die sich in der Regel auf Überlieferungen des FDGB und der SED sowie gelegentlich auf Brigadetagebücher stützen. Das Ergebnis der Erinnerungen von Frauen aus einem reinen Frauenbetrieb, wie es sie in der Textilindustrie häufig gab, besteht darin, dass sie hart gearbeitet, aber auch gelacht und gefeiert hätten. Das Betriebsleben mitzubestimmen erschien ihnen als aussichtsloses Ziel. Alltägliche kleine Verbesserungen und ein gutes Betriebsklima in ihrer Schicht waren ihnen allemal wichtiger, weil erfolgreich und beeinflussbar angesichts insgesamt immer wieder erfahrener Machtlosigkeit.

Die Konsumpolitik ist seit vielen Jahren das große Thema von Annette Kaminsky. Das greift sie auch im vorliegenden Band auf, in dem sie sich mit der privaten Einfuhr von Westwaren befasst. Sie geht zeitlich bis zur Ausgangssituation unmittelbar nach Kriegsende zurück, in der überall Hunger und Not herrschte. Doch spätestens mit und nach der Währungsreform lief die Konsumpolitik des Westens der Entwicklung im Osten davon. Kaminsky zeichnet nach, mit welchen – heute absurd wirkenden – Maßnahmen die DDR- und SED-Führung dieser Entwicklung hinterherhinkte und ideologisch entgegenzusteuern versuchte. Das beinhaltete eben auch die Kriminalisierung von Westgeld und -waren , womit nicht nur unerwünschte Warentransfers unterbunden werden sollten, sondern diese diente zugleich der Zerstörung des privaten Handels. Dies sollte nicht in Vergessenheit geraten. Kaminisky gelingt es nicht nur, plastisch vor Augen zu führen, wie die Versorgungsprobleme die DDR begleiteten, sondern auch, dass und wie der Vergleich mit der Bundesrepublik ständig präsent war und der Führung bis zum Schluss zu schaffen machte. Da nutzte es wenig, nach wiederkehrenden Mustern den Versuch zu unternehmen, hausgemachte Probleme externen Ursachen anzulasten.

Von ganz eigener Art ist der Aufsatz von Ilse Nagelschmidt, der den Titel „Alltagsleben in der Belletristik der DDR“ trägt. Dabei bleibt es dem Leser bzw. der Leserin letztlich selbst überlassen, ob und inwieweit Literatur ein wichtiges Auskunftsmittel über Alltag nicht nur gewesen ist, sondern insgesamt ist. Dass sie darüber hinaus natürlich auch als Literatur wahrgenommen werden muss, steht dabei außer Frage. Sie ist keineswegs lediglich ein Substitut für fehlende Öffentlichkeit. Ein wichtiges Thema des Beitrags sind die Tagebücher von Brigitte Reimann, mit denen subjektive Bewältigungsstrategien des Alltags in der DDR der 1950er und 1960er-Jahre aufgezeigt werden sollen. Reflektiert werden etwa zu Depressionen führende Identitätskrisen, weil als „individualistisch“ verschriene Tabuthemen aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein ausgespart blieben.

Mit dem allgemein beachteten Thema der Wehrerziehung befasst sich Christian Sachse. Noch einmal wird dargelegt, dass und in welcher Weise sie ein Herrschaftsinstrument war, als welches die DDR-Bürger sie auch erfuhren. Er skizziert deren Geschichte und pädagogische Praxis mit der ihr innewohnenden Intention der Stabilisierung des gesellschaftlichen Systems. Dabei kann man durchaus von Erfolgen ausgehen. Die Disziplinierung gerade von Jugendlichen im Sinne einer Einordnung in die „sozialistische Gesellschaft“ war bis zu einem gewissen Grad gelungen, und jugendlichem Aufbegehren konnte teilweise die Spitze genommen werden. Doch diese Sozialisation hatte eine Kehrseite: Das Kreativitätspotential der jungen Generation konnte für die intendierte Weiterentwicklung und für dringend benötigte Innovationsschübe nicht nutzbar gemacht werden. Gerade dadurch wird deutlich, dass das Problem und der Begriff „Wehrerziehung“ keineswegs auf die Einführung des Wehrkundeunterrichtes im Jahre 1978 reduziert werden darf. Dies macht der Beitrag deutlich.

Mit einer weitgehend unbekannten Frage befasst sich Tobias Wunschik, nämlich mit oppositionellen Zirkeln der „Kommunistischen Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten“ (KPD/ML), hier der „Sektion DDR“. Besser bekannt ist sie – sofern sich ihrer jemand noch erinnert – als maoistische Gruppe. Es ist sicher richtig, die so genannten K-Gruppen noch einmal in Erinnerung zu rufen. Dass es auch Ableger in der DDR gab, dürfte weitgehend unbekannt sein. Sie waren nicht nur aus dem Westen beeinflusst, sondern von der dortigen Partei wurde auch die Generallinie bestimmt. Die wenigen ostdeutschen Anhänger bemühten sich um die Rekrutierung von Gleichgesinnten oder gar Aktivisten, die sich für maoistisches Gedankengut empfänglich zeigten. Kontakte zur albanischen Botschaft gehörten beispielsweise zu den Aktivitäten, ebenso das Verteilen von kleinen Handzetteln. Dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) blieben diese Grüppchen keineswegs verborgen. Und weil sie als trotzkistische bzw. maoistische Abweichung eingestuft wurden, galt diese „politisch-ideologische Diversion“ als besonders perfide und wurde mit besonderer Vehemenz bekämpft. Gleichwohl hielt sich die Staatssicherheit – wohl aus taktischen Gründen – anfänglich zurück, was Aktivitäten überhaupt erst möglich machte. Im Bedarfsfall konnte sie jederzeit zuschlagen. Dass das MfS überlegen war, steht außer Frage. Dass diese Kleingruppen tendenziell und strukturell mit ihrer ideologischen Ausrichtung auf ähnlicher Basis – theoretisch jedenfalls – zu operieren versuchten, zeigt zwar Parallelen auf. Doch der Autor hat Recht, wenn er einer solchen Auseinandersetzung groteske Züge bescheinigt.

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