Titel
Die Mythen des alten Japan. Übersetzt und erläutert von Nelly Naumann


Autor(en)
Naumann, Nelly
Erschienen
Muenchen 1996: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
231 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Astrid Brochlos, Zentrum für Sprache und Kultur Japans, Humboldt-Universität Berlin

Die uns heute bekannten aeltesten Niederschriften der japanischen Mythen finden sich im Kojiki (Aufzeichnungen alter Geschehnisse) und im Nihongi bzw. Nihon shoki (Annalen Japans). Beide Werke wurden im fruehen 8. Jahrhundert kompiliert (Thronvorlage 712 bzw. 720). Ob dabei ausschliesslich auf muendliche Ueberlieferung zurueckgriffen oder auch bereits vorhandenes japanisches Schriftgut - welches zumindest im Nihongi Erwaehnung findet - verarbeitet wurde, ist ungeklaert. Fest steht jedoch, dass die Aufzeichnung aus bestimmten politischen Absichten heraus erfolgte, naemlich zur Legitimation des Machtanspruchs der herrschenden Dynastie und zur Darstellung Japans in Nachbarschaft des hochentwickelten China mit seinem "Himmelskaiser", dem man moeglichst wenig nachstehen wollte. Die Mythen wurden dazu fest verknuepft mit historischen Ereignissen, Prozessen und Personen; sie wurden niedergeschrieben als Teil der Geschichte und - speziell im Nihongi - in den Rahmen einer teilweise fiktiven Chronologie eingepasst, die bis in das Zeitalter der Goetter zurueckreichte. (S. 8) Die Zweckbestimmung der Aufzeichnung bewirkte ein Aufweichen der urspruenglich religioesen Funktion der Mythen. Sie wurden von unpassenden oder stoerenden Elementen "gesaeubert" und im Bedarfsfall durch fehlende Elemente ergaenzt. Wenn man sich mit den japanischen Mythen auseinandersetzt, muss man zwar auf Kojiki und Nihongi zurueckgreifen - auch Naumanns Arbeit fusst auf diesen Werken -, man muss sich aber gleichfalls des besonderen Hintergrundes ihrer Niederschrift bewusst sein. Naumann hat diese Problematik in der Einfuehrung ihres Buches sehr genau herausgearbeitet und durch Ausfuehrungen zum Umgang mit den japanischen Mythen und zu den Mythen als Gegenstand der Forschnung seit dem 18. Jahrhundert ergaenzt. Dabei wird deutlich, dass nach Basil Hall Chamberlain, William George Aston und Karl Florenz, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten westlichsprachigen Uebersetzungen des Kojiki und Nihongi lieferten, "von ausserjapanischer Seite wenig zur Erforschung der japanischen Mythen beigetragen worden" ist (S. 21), was ein Blick in die Literaturliste der Autorin bestaetigt. An neueren Veroeffentlichungen, die Naumann noch nicht beruecksichtigen konnte, waere fuer Interessierte noch ein umfangreicheres Werk von John S. Brownlee unter dem Titel "Japanese historians and the national myths, 1600–1945: the age of the gods and Emperor Jinmu" (1997) zu erwaehnen, und an der Universitaet Canterbury wurde erst in diesem Jahr die 186seitige Magisterarbeit "A comparative study of Japanese and Polynesian mythology with particular reference to selected cosmology and trickster myths: a thesis" von Yasuko Tsuji herausgegeben. In Anbetracht der Forschungssituation ist eine Arbeit wie die vorliegende also von vornherein aeusserst begruessenswert. Wenn sie dann noch in so kompetenter und anschaulicher Weise von einer seit Jahrzehnten ausgewiesenen Kennerin der Materie verfasst wurde, kann man nur noch den einen Rat geben: Lesen!

Anders als Aston, Chamberlain und Florenz, denen es in ihren klassischen Standardarbeiten vordergruendig um eine kommentierte Uebersetzung ging, versucht Naumann eine inhaltliche Analyse der japanischen Mythen. Sie bedient sich dabei u. a. des von Franz Vonessen vertretenen Mythos-Begriffes, der in ihm die "Uebersetzung der Sprache des Seins" sieht (S. 2). Naumanns Anliegen ist es, den Mythos aus sich heraus zu verstehen, indem man ihn selbst sprechen laesst, anstatt ihn nur zu erklaeren. (S. 2, 21) Diesem Ziel entspricht der Grundaufbau des Buches: Die einzelnen Abschnitte werden jeweils durch Uebersetzungen der relevanten Texte aus Kojiki und Nihongi eingeleitet, um sie dann komparativ und unter verschiedenen Fragestellungen (religionsgeschichtlich, kulturhistorisch, philologisch-etymologisch u. a. m.) zu analysieren. Dabei wird schwerpunktmaessig auf die folgenden, oftmals miteinander verknuepften Probleme eingegangen:

1. Welche Bedeutung kommt den einzelnen mythischen Symbolen zu, wo haben sie ihre Wurzeln, wo gibt es aehnliche Sinnbilder? Bei ihren Erklaerungsversuchen greift Naumann nicht nur auf naheliegende, benachbarte Kulturen und Mythenkreise zurueck, sondern auch auf scheinbar voellig unbeteiligte: so z. B. bei der Deutung der Symbolik der neuen oder uebergezogenen Haut, die sich als Zeichen der Wiederbelebung auch in Mexico und Guatemala findet. (S. 69 ff)

2. Wie wurde diese Symbolik zur Zeit der Aufzeichnung der Mythen, also zu Beginn des 8. Jahrhunderts verstanden oder missverstanden? Wie gestaltete sich infolgedessen ihre Einbettung in die gesamte mythische Erzaehlung?

3. Vor welchem sozial- und kulturhistorischen Entwicklungshintergrund sind bestimmte mythische Elemente zu sehen, z. B. die "Weberin des Lichts" (S. 75 f)?

4. Welche Elemente der japanischen Mythen verdanken sich Einfluessen aus anderen Kulturkreisen bzw. bewussten Rueckgriffen darauf? Im Mittelpunkt stehen dabei natuerlich die Regionen Sibiriens, Ost- und Suedostasiens, speziell China und Korea, die seit der vor- und fruehgeschichtlichen Zeit immer wieder Impulsgeber fuer die Entwicklung in Japan waren. Die japanische Kultur war zur Zeit der ersten Ausformung ihrer Mythen keinesfalls ein homogenes Gebilde, was sich in den mythischen Erzaehlungen gezwungenermassen auch widerspiegelt.

5. Welche Elemente der Mythen sind gezielte spaetere Einflechtungen/Erfindungen und welche zeitgeschichtlichen Gruende gab es fuer diese Einflechtungen? Diesen Fragen geht Naumann besonders intensiv im dritten Kapitel "Der politische Mythos" nach. Deutliche Beispiele fuehrt sie u. a. mit den zwei Kriegern, die den Himmelsenkel Ninigi auf der Erde empfangen, sowie mit seinem Bruder (laut Kojiki) oder Sohn (laut einigen Versionen des Nihongi) an, die allesamt ganz offensichtlich in den Mythos eingebaut wurden, um die Urahnen bestimmter Adelsgeschlechter geschickt und herrschernah zu plazieren (S. 154 f und 170 f).

Gegliedert ist die Arbeit in drei Hauptkapitel, die sich den Themenkomplexen "Theogonie, Kosmogonie, Kosmologie" (S. 23 ff), "Die mythische Weltordnung" (S. 57 ff) und "Der politische Mythos" (S. 130 ff) widmen. Das Schlusskapitel untersucht die "Nachwirkungen des Mythos" (S. 194 ff), also z. B. Fragen der Opfer- und Kulthandlungen im Verlaufe der japanischen Geschichte, des Shinto und des Synkretismus oder auch des Mythos in der Gegenwart. Der Anhang enthaelt ein Glossar der japanischen und chinesischen Termini sowie ein hilfreiches Namens- und Sachregister.

Insgesamt ist das von Naumann vorgelegte Buch eine aeusserst sachkundige, informative und empfehlenswerte Arbeit fuer einen sehr breiten Leserkreis: Interessierte, Studierende und Wissenschaftler der Ostasienwissenschaften (speziell natuerlich der Japanologie), Philosophie, Religions- und Kulturgeschichte, Volkskunde. Sie bietet gleichzeitig eine kompetente Uebersetzung, eine professionelle wissenschaftliche Analyse, einen kritischen und aufschlussreichen Textvergleich zwischen den verschiedenen Varianten der aeltesten erhaltenen Mythenaufzeichnungen (Kojiki und Nihongi) sowie eine Beschreibung offensichtlich vorhandener oder anzunehmender Verwandtschaften und Parallelen zu anderen Kultur- und Mythenkreisen. Und obwohl eigentlich nicht explizit angestrebt, liefert Naumann dadurch automatisch auch eine gute Erklaerung der Mythen. Kein Student (resp. keine Studentin) der Ostasienwissenschaften, insbesondere der Japanologie, sollte das Studium abschliessen, ohne dieses Buch gelesen zu haben. Selbst wenn es wohl gerade aus der Sicht von Studierenden oder allgemein weniger mit der Materie Vertrauten den einen oder anderen Wunsch offenlaesst. So waere beispielsweise eine graphische (tabellarische oder schematische) Uebersicht ueber die Goetternamen, -verwandtschaften, -stammbaeume etc. sicherlich sehr hilfreich. Die vorkommenden Namen sind i. d. R. sehr lang und zahlreich, und sie werden - wohl auf Grund ihrer durch die Laenge bedingten Unhandlichkeit - oft in unterschiedlicher Art und Weise von der Autorin verwendet: mal in voller Laenge, mal gesplittet, aber leider nicht immer einheitlich gesplittet. Das erschwert stellenweise die Aufnahme des Textes. Auch ein paar erlaeuternde Worte zu den unterschiedlichen Versionen des Nihongi waeren wuenschenswert. Und aus der Sicht eines Japan-Historikers koennte man zu der einen oder anderen Aussage kleinere Korrekturen anmelden (ob sich das fruehjapanische Yamato-Reich ein Gebiet im Sueden Koreas einverleibt hatte, ist durchaus umstritten und sollte daher weniger in Form eines historischen Faktums beschrieben werden [S. 4]; der erste Kontakt Japans mit Europaeern datiert bereits 1543, nicht erst 1549 [S. 18]; Darstellungen von Pfahlbauten sind fuer Japan seit 1993 aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. belegt, nicht erst aus dem 1./2. Jahrhundert n. Chr. [S. 35]). Aber dies sind wahrlich kleinere Einwaende. Sie schmaehlern in keiner Weise den Wert, den man dieser Arbeit insgesamt zusprechen darf.

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