Titel
Alte Landschaftsküchen im Sog der Modernisierung. Studien zu einer historischen Ernährungsgeographie Deutschlands zwischen 1860 und 1930


Autor(en)
Lesniczak, Peter
Reihe
Studien zur Geschichte des Alltags 21
Erschienen
Stuttgart 2003: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
411 S.
Preis
€ 85,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Bodenstedt, Institut für Agrarsoziologie und Beratungswesen, Justus-Liebig-Universität Giessen

Ernährungsgeografie ist bereits über eine bemerkenswert lange Zeit hindurch betrieben worden. Ihren Anfang markiert das Werk Heinrich Wilhelm Riehls, insbesondere seine Untersuchung "Die Pfälzer" (1857, über das sich König Max II. von Bayern auf seiner Alpentour gegenüber R. sehr zuvorkommend geäußert hat, wie F.v. Bodenstedt schreibt). Kennzeichnend für die Disziplin ist ihre enge Verbindung, um nicht zu sagen Vermischung, mit anderen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen wie Geschichte, Volkskunde, Wirtschaftswissenschaft, Soziologie. Die Vielfalt disziplinärer Annäherungen an das Phänomen menschliche Ernährung hat allerdings auch dazu geführt, dass niemals eine präzise abgegrenzte und strukturierte Lehr- und Forschungsdisziplin auf geisteswissenschaftlicher Grundlage entstanden ist. Dies haben erst die sich im 19.-20. Jahrhundert entwickelnde Ernährungswissenschaft geleistet, die sich jedoch streng naturwissenschaftlich orientiert haben.

Ein Puzzle aus vielen Einzeldaten

Die Natur der Sache Ernährung bringt es mit sich, dass die sichtbaren Einzelheiten der individuellen und gemeinschaftlichen Ernährungsvorgänge verstreut erscheinen und nur schwer auf übergreifende Theoreme oder umfassende Hypothesen zu bringen sind. Allein die systematische Sammlung ernährungsbezogener Fakten ist vergleichsweise aufwendig und mühselig. Daher kommt der Arbeit von Lesniczak besondere Aufmerksamkeit zu. Er hat eine eindrucksvolle Menge an empirisch belegten Daten quantitativer Art aus vergangenen Perioden akribisch gesammelt, gesichtet und ausgewertet. Dabei wurden nicht nur große Lücken sichtbar, sondern auch eine problematische Unterschiedlichkeit der Datenqualität und -Menge in Bezug auf bestimmte Untersuchungsräume und -Perioden. Das gilt vor allem für den ersten der von ihm gewählten drei Beobachtungszeiträume (1860-1895). Im zweiten (1910) und dritten (1927/28) Beobachtungszeitraum wird die Datenlage besser und die Statistik verlässlicher.

Lesniczak hat seine Daten aus drei Quellenbereichen zusammengestellt:

a) aus Wirtschafts- und Haushaltsrechnungen, Erhebungen und Statistiken mit Bezug auf Einzelhaushalte, Städte oder administrative Gebiete,

b) aus regionalen und anderen Kochbüchern und Aufsätzen zur Thematik der Speisenzubereitung,

c) aus so genannten narrativen Quellen, d.h. Monografien, Autobiografien, Menukarten und ähnlichen Materialien. Alles in allem eine eindrucksvolle Leistung, die er auf über 300 eng bedruckten Seiten vorlegt. Das aus den Quellen sich ergebende Bild gleicht allerdings nicht einmal einem vollständigen Patchworkteppich, sondern eher einem unvollständigen Puzzle mit Mosaiksteinen unterschiedlicher Größe und Qualität. Schmerzhafte Lücken und Inkonsistenzen sind in Kauf zu nehmen. Lesniczak weist selbst auf diese quellenbedingte Unvollständigkeit und Fragwürdigkeit der vorhandenen Unterlagen hin. Er wagt es trotzdem, Aussagen zu machen, indem er alle Quellendaten aus vergleichbaren Zeiten und Räumen miteinander abgleicht und daraus mit gebotener Vorsicht qualitativ begründbare Schlussfolgerungen und Verallgemeinerungen über den hinter ihnen stehenden Sachverhalt zieht. Angesichts des Charakters und der Beschaffenheit seines Gegenstandes, des menschlichen Ernährungsverhaltens, bleibt ihm nicht anderes übrig.

Der übergreifende Prozess: die Industrialisierung

Um so größer ist natürlich die Neugier des Lesers - nachdem er den erstaunlichen Umfang der gewonnenen Datensammlung zur Kenntnis genommen hat - auf die von Lesniczak gewagten Schlussfolgerungen (Schlussgedanken und Thesen, S. 345-352). Sie besagen: Der Prozess der Industrialisierung hat einen grundlegend umwälzenden Wandlungsvorgang ausgelöst, den wir als Modernisierung und Urbanisierung bezeichnen. Die tief greifenden soziokulturellen Veränderungen haben natürlich auch die Umstände der menschlichen Nahrungsaufnahme betroffen und einbezogen, und, im Verein mit den technologischen Neuerungen des Transportierens (Eisenbahn, später Kfz und Flugzeug) und des Konservierens (Konservendose, Pasteurisieren, Dehydrieren) von Nahrungsmitteln bewirkt, dass das Ernährungsverhalten sich in umfassender Weise von einer tendenziell eintönigen und fleischarmen Ernährungsweise zum Massenangebot des heutigen Marktgeschehens hin verändert und entwickelt hat. Diese Feststellungen sind allerdings nicht neu, vor allem die Forschungen des Münsteraner Instituts für Geschichte der Wirtschaft haben hier jahrzehntelang bereits Pionierarbeit geleistet. Was Lesniczaks Arbeit auszeichnet und was sie dem bisherigen Wissensstand hinzufügt, ist der Nachweis, dass dieser säkulare Prozess keineswegs uniform und gleichartig verlaufen ist, sondern sich in unübersehbar viele Einzelwege und Einzelvorgänge verzweigt, bis hin zur Aufgliederung nach Alters- und Geschlechtsgruppierungen.

Ernährungsweisen in „Nahrungsräumen“

Lesniczak hat nun die Vorstellung einer räumlichen Gliederung oder Ordnung mit der beeindruckenden Menge der ermittelten Daten zu verbinden versucht und zu diesem Zweck den Begriff des geografisch gemeinten "Nahrungsraumes" gewählt oder geschaffen. Sein überraschender Befund zu möglichen Unterschieden zwischen der Ernährung in städtischen und ländlichen Gebieten: „Innerhalb eines Nahrungsraumes fanden sich zwar verschiedene Typen der Ernährung, die auch große Unterschiede aufweisen, doch besaßen sie alle eine bestimmte gleichartige Zusammensetzung der verschiedenen Lebensmittel zu Speisen, die sie deutlich von anderen Räumen abgrenzen.“ (S. 118) Genau die gleiche Hypothese habe ich 1975 aus Ernährungsdaten aus kolumbianischen barrios ableiten können.1 In gleicher Richtung ist seine Feststellung zu werten, dass Landarbeiter und ländliche Tagelöhner „eine reichhaltige und ausgewogene Ernährungsweise besaßen, die nicht den Vergleich mit städtischen Kostverhältnissen zu scheuen brauchte. Der Unterschied zwischen Stadt und Land bestand hauptsächlich in der Zubereitung der Nahrungsmittel und vor allem in den Tischsitten [...]“ (über Mecklenburg/Lauenburg Mitte 19. Jahrhundert, S. 197).

Dem aus nüchternen Zahlen über Verbrauchsmengen nach dem Homogenitätsprinzip konstruierten Begriff des Nahrungsraumes stellt Lesniczak den normativen Begriff der Regional- oder Landschaftsküche zur Seite, der naturgemäß weit weniger präzisen Abgrenzungen folgt. Lesniczak schließt sich sogar der in der englischen Literatur zur Charakterisierung der Landschaftsküche geprägten Begriff der "erfundenen Tradition" an. Als amalgamierenden Übergangsbegriff benutzt er schließlich die „Bürgerliche Küche". Sie prägt sowohl als empirischer Begriff wie - vor allem in der Untersuchungszeit – als normativ wirksamer Begriff einer „Hochkultur" des Essens das Ernährungsverhalten in den vielfältigen Nuancierungen des sich industrialisierenden und modernisierenden Lebens: "Als historische Bewegungskraft und Katalysator aller Determinanten des Ernährungsverhaltens erwies sich das Phänomen der Verbürgerlichung [...] Der Übergang zur Bürgerlichen Küche [...] bedeutete aber keineswegs die Vereinheitlichung der Ernährungsgewohnheiten, sondern vielmehr gerade ihre wachsende Ausdifferenzierung." (S. 345)

Überraschend Ähnliches hat eine neuere Untersuchung über das Ernährungs- und Integrationsverhalten iranischer Exilant(inn)en in Deutschland ergeben.2 Sie haben sich weit eher an eine "global-moderne" Küche adaptiert als an eine „deutsche“. Was Lesniczak etwas emphatisch als "Sog der Modernisierung" bezeichnet, folgt seinen Überlegungen nach erkennbar den Verbreitungswegen von Innovationen (Zentren, Pfade, Barrieren, Übersprünge), wie sie von der geografischen Diffusionstheorie Hägerstrands ermittelt worden sind.

Ausblick auf zukünftige Forschung

Lesniczak betrachtet die Ergebnisse seiner Arbeit nicht als Abschluss, sondern als Eröffnung weiterer einschlägiger Forschungen. Er endet mit zwei Feststellungen, denen uneingeschränkt zuzustimmen ist:

a) "Der Sog der Modernisierung [...] ist auch in der Gegenwart noch nicht abgeschlossen." (352) Folglich müssen wir den hier wirksamen Paradigmen des Wandels unserer Nahrungsgewohnheiten weiter nachspüren. Ein neuerlich wesentliches Differenzierungsmerkmal, das in der rezensierten Arbeit noch nicht auftaucht, scheint nämlich die Natur und der Anwendungsbereich einzelner Nahrungsmittel, vornehmlich der nach 1945 neu erschienenen zu sein (Getränke wie H-Milch, Coca Cola; Toastbrot, Pizza u.a.).

b) "[...]der Mangel moderner Studien (liegt) in der einseitigen Konzentration auf den Nahrungsmittelkonsum. Die Mahlzeit, als Grundelement der Ernährungsforschung, wird jedoch vernachlässigt." (ebd.) Auch dieser Gesichtspunkt wird z. B. in den jüngsten Arbeiten von C. Brombach berücksichtigt.3

Anmerkungen:
1 Bodenstedt, A. Andreas, Das Ernährungsverhalten ländlicher und städtischer Bevölkerung in Kolumbien, Sarbrücken 1979.
2 Daneshjoo, Shahriar, Der Grad der sozialen Integration iranischer MigrantInnen in der Bundesrepublik Deutschland in Abhängigkeit von ihren Lebensgewohnheiten, Giessen 2003.
3 Brombach, Christine; Bodenstedt, Andreas, Food and everyday life in Copenhagen, Frankfurt-Giessen, London und Stockholm, Giessen 2003.

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