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Titel
"Unser Hitler". Der Hitler-Mythos im Spiegel der deutschsprachigen Literatur nach 1945


Autor(en)
Atze, Marcel
Erschienen
Göttingen 2003: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
493 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Zeno Ackermann, Regensburg

Mit seiner ursprünglich als Dissertation vorgelegten Studie bestellt Marcel Atze ein sehr weites Feld. Er legt nicht nur die erste Monografie vor, die sich der Auseinandersetzung mit Hitler in der deutschen Belletristik nach 1945 widmet, sondern bearbeitet sein schwieriges Thema zudem mit besonderer Gründlichkeit. Das Vorhaben, die gesamte relevante Literatur seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Blick zu nehmen, bedingt ein riesiges und sehr heterogenes Korpus. Es reicht von prekären Versuchen der Distanznahme wie den späten historischen Romanen Bruno Brehms (dem Goebbels einst den Nationalen Buchpreis verliehen hatte) bis zu dem experimentell-analytischen Roman „Flughunde“ des 1965 geborenen Marcel Beyer und wird noch vermehrt durch ein Interesse an ungewöhnlichen Texten, die Marcel Atze zum Anlass für erhellende Exkurse nimmt. Freilich will er sich nicht darauf beschränken, diese Materialfülle in den Griff zu bekommen. Atze verfolgt vielmehr eine doppelte Zielsetzung: Er will „den ‚bricoleuren‘ des Hitler-Mythos genauso auf die Finger“ schauen „wie den Arbeitern am Mythos in der deutschsprachigen Literatur nach 1945“ (S. 28). Hier wird also nichts weniger gewagt als eine Simultananalyse, in der die Prozesse der Mythenproduktion und der Mythenrezeption sich wechselseitig erhellen sollen.

Motiviert wird dieses Unterfangen durch die scheinbar unhintergehbare Permanenz des Konstrukts Hitler. Im Vorwort wird Hitler als „einer der wichtigsten deutschen Erinnerungsorte überhaupt“ bezeichnet (S. 13). Ankerpunkt der Untersuchung, die sich gegen die von der nationalsozialistischen Propaganda installierte „Erinnerungstotalität“ (S. 431) richtet, ist dann aber nicht das flexible Konzept der Erinnerung, sondern der eher monolithische und rückbezügliche Begriff des Mythos. Marcel Atze betrachtet nationalsozialistische Hitler-Propaganda und literarische Auseinandersetzung mit der Figur Hitler nach 1945 als verschiedene Phasen eines übergeordneten mythischen Diskurses, dessen strukturierende Meistererzählung Hitler selbst mit „Mein Kampf“ geschaffen habe. Die Diskussion der nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ und nach dem Holocaust entstandenen Texte wird dabei durch Hans Blumenbergs Konzept der „Arbeit am Mythos“ bestimmt. So wie hier die „Arbeit am Mythos“ verstanden und auf die belletristische Auseinandersetzung mit Hitler übertragen wird, können literarische Texte eigentlich nur einen einzigen Weg gehen, um sich von der ideologischen Fiktion zu befreien. Dieser Weg führt mitten durch den Mythos, der aufgenommen und in einer umdeutenden Affirmation destruiert werden muss. Wie Atze zu zeigen versucht, folgt die Destruktion des Mythos immer dem gleichen Grundmuster: Das mythische Idealbild von Hitler wird mit dem Schrecken des Holocaust kurzgeschaltet – der vermeintliche „Erlöser“ wird als „Endlöser“ decouvriert.

Einem analogen Muster folgt auch die Untersuchung selbst. Nach dem Prinzip der „Doppelprojektion“ wird der nationalsozialistische Hitler-Mythos rekonstruiert, um ihn sofort mit seinen Widerspiegelungen in der Literatur nach 1945 zu überblenden. Die Struktur dieser doppelten Arbeit am Mythos gibt freilich dieser selbst vor (S. 42): „Die Gliederung der vorliegenden Untersuchung orientiert sich am Bauplan des mythischen Konstrukts.“ Zunächst setzt Atze sich mit der „mythischen Vita“ auseinander, die sich Hitler in „Mein Kampf“ geschaffen habe. Deutlich wird herausgearbeitet, wie der Anwärter auf die Rolle des „Führers“ seine fiktive Autobiografie nach den Strukturelementen der Heldenerzählung und der Heiligenvita gestaltet hat. Geschickt kontrastiert Marcel Atze ausgedehnte Zitate aus „Mein Kampf“ mit den in einem „Spannungsfeld zwischen Fortschreibung und Destruktion“ (S. 51) operierenden literarischen Gegentexten. Besonders erhellend ist dabei der detaillierte Nachweis der intertextuellen Bezüge zwischen Hitlers Selbstmythisierung und Josef Haslingers Roman „Opernball“ (1995). Aber auch die methodischen Schwächen der Darstellung, die durch die Festlegung auf die Struktur des Mythos verursacht sind, treten hervor. So behindert die Analyse der mythischen Vita Hitlers die kohärente Auseinandersetzung mit dem Bedeutungsspektrum der literarischen Texte. Diese scheinen letztlich als Interpretamente eines propagandistisch-mythischen Prätexts zu fungieren.

Im Hauptteil seiner Arbeit zerlegt Marcel Atze das idealisierte Hitlerbild der Propaganda in verschiedene Mytheme und spürt deren literarischer Verarbeitung nach. Auch bei der Behandlung propagandistischer Bausteine wie dem „Tierfreund-Mythem“, dem „Asketen-Mythem“ oder dem „Künstler-Mythem“ geht die Studie aber kaum über das bis dahin etablierte Muster hinaus (S. 136): „Die Autoren finden mit den genannten Mythemen einen Rahmen, ein Muster vor, innerhalb dessen gespielt und das mythologische Material, die zugrunde liegende Struktur, mit einem neuen Inhalt verbunden werden kann, der, mit dem Ziel der Destruktion, vor unerwarteten Bezugnahmen nicht zurückschreckt.“ Form der Destruktion bleibt stets die Kopplung der Mytheme an das Faktum des Massenmords. Auch in diesem Teil der Arbeit bestimmt die Plot-Struktur des Mythos den Gang der Untersuchung und verhindert ein differenzierteres Eingehen auf literarische Bedeutungsstrukturen. So verweigert Marcel Atze die analytische Auseinandersetzung mit der verstörenden Mimikry von Duktus und Semantik der Sprache Hitlers, die Klaus Stiller in „H. Protokoll“ (1970) betreibt (S. 154): „Dennoch ist die Sprache nur das Vehikel, mit dem Stiller sich der mythisierten Person nähert.“ Diese strukturelle Begrenzung der Analyse muss zu einer vergleichsweise banalen Interpretation führen (S. 155): „Stiller zeigt: Menschen als Krankheitsträger zu bezeichnen war ein Vorbote der Vernichtung. Aus der NS-Volksgemeinschaft wurden ‚Gemeinschaftsfremde‘ wie Juden als ‚krank‘ ausgeschlossen, letztlich ‚selektiert‘.“

Seine wesentlichen Befunde erreicht Marcel Atze eben nicht durch hermeneutische Arbeit an den literarischen Texten – er selbst ist es, der die Strategie der Destruktion als einzige akzeptable Option vorgibt. Die Rückbezüglichkeit auf den Mythos als einzigen Beweger des Diskurses verhindert die Bearbeitung einer sich aufdrängenden Kernfrage: Warum wählen Autoren überhaupt den Hitler-Stoff, wenn sie sich damit doch enormen Schwierigkeiten überantworten? Warum kodieren sie ihre Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und den in seinem Zeichen begangenen Verbrechen über diesen prekären Bezugspunkt? Die Bedeutung Hitlers als eines paradigmatischen deutschen „Erinnerungsorts“ ist sicher ein Teil der Antwort. Das Konzept des „Erinnerungsorts“ müsste den Blick dann aber auch auf die außerhalb des geschlossenen mythischen Diskurses liegenden Motivationen der belletristischen Texte lenken. Würden dann nicht auch subtile Strategien der Verdrängung zutage treten? Wird der propagandistisch verfertigte Mythos häufig darum so ernst genommen, weil man sich hinter ihm verstecken kann?

Zu den zentralen Befunden der Studie gehört es, dass die literarischen Texte – im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft – zu rein intentionalistischen Begründungen des Holocaust neigen: Einen „durchaus vorstellbaren“ Roman „mit funktionalistischem Ansatz – Hitler stürzt 1938 mit dem Flugzeug ab und der Holocaust findet trotzdem statt – hat bislang niemand geschrieben“ (S. 39). Marcel Atze macht durchaus deutlich, wie problematisch die Reduktion des zentralen deutschen Verbrechens auf Hitler als Verantwortungsträger ist. Innerhalb des Ansatzes der Untersuchung erscheint die Tendenz zur intentionalistischen Verschleierung kollektiver Verantwortung aber als unhintergehbares Dilemma der „Arbeit am Mythos“: Die Überblendung mit dem Holocaust wird ja als das einzige wirkungsvolle Mittel der kontra-mythischen Destruktion gesehen. Außerhalb Deutschlands wurde ein „funktionalistischer“ Roman übrigens durchaus geschrieben: In Stephen Frys „Making History“ (1996) führt die Verhinderung der Geburt Hitlers dazu, dass seine Kriegs- und Vernichtungspolitik durch einen kühleren deutschen Machtmenschen mit größerer Perfektion verwirklicht wird.

Am interessantesten ist Marcel Atzes Untersuchung dort, wo sie sich – gleichsam unter der Hand – aus dem Bannkreis des Mythos löst. So stellt ein besonders ausführliches Kapitel zwar das „Redner-Mythem“ in den Mittelpunkt, setzt sich dann aber eher mit medien- als mit mythenkritischen Texten auseinander. Fast unabsichtlich zeigen die ausführlichen Einzelinterpretationen von Texten Erich Kästners, Peter-Paul Zahls, Peter Weiss‘ und Marcel Beyers die Differenz zwischen archaischen Götter- oder Heldenerzählungen und den Produkten totalitärer Medienbeherrschung, zwischen kulturgeschichtlichen Tiefenstrukturen und der sie parasitär ausbeutenden Propaganda. Diesen Unterschied können die genannten Autoren nur darum bewusst machen, weil sie die – von Atze beklagte, aber eben auch fortgeschriebene – „Fixiertheit auf Hitler“ überwinden. So steht im Zentrum von Zahls Drama „Johann Georg Elser“ (1982) eben nicht Hitler, sondern sein Antagonist. Und Peter Weiss‘ gewaltigen Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ nennt Marcel Atze bezeichnenderweise „DAS Monument der Unnennbarkeit“ des Namens Hitler (S. 394). Aus dem Bannkreis des Mythos tritt die Studie in der Auseinandersetzung mit diesen Texten auch insofern, als hier der eigene Zeitkontext der Literatur – namentlich bei Peter-Paul Zahl – eine bedeutendere Rolle spielt.

Dass Marcel Atzes verdienstvolle Untersuchung dort am ergiebigsten ist, wo sie ihren eigenen Ansatz unterläuft, weist noch einmal auf ihre methodischen Defizite hin. Diese werden tatsächlich schon im Untertitel der Studie greifbar („Der Hitler-Mythos im Spiegel der deutschsprachigen Literatur nach 1945“). Hier deutet sich ein Missverhältnis zwischen Untersuchungsgegenstand und Erkenntnisinteresse an: Anker- und Zielpunkt der Analyse bildet der – fast schon als transhistorische Gegebenheit betrachtete – Hitler-Mythos, während die deutsche Literatur nach 1945 als „Spiegel“ dient, in der das Phänomen und seine Langlebigkeit zu fassen sind. Daher werden die literarischen Texte weitgehend aus ihren eigenen historischen Kontexten gelöst und vornehmlich als Medien des Hitler-Mythos und seiner „Vollendung“ (Blumenberg) in der Destruktion gelesen. Unbestritten hat Atze Recht, wenn er feststellt, dass der Götzenkult um Hitler „ein erstaunlich stabiles Konstrukt geblieben“ ist, ja dass sich einzelne Elemente „noch immer als tragfähig“ erweisen (S. 15). Es befriedigt jedoch nicht, wenn diese Permanenz allein aus der pseudo-mythischen Totalität nationalsozialistischer Propaganda erklärt wird. Auf diese Weise mythologisiert Marcel Atze die NS-Propaganda. Mit großer Genauigkeit zeigt die Studie, wie der Hitler-„Mythos“ einst in der propagandistischen Retorte verfertigt wurde. Indem sie aber einen vagen kulturalistischen Mythosbegriff mit allem literaturwissenschaftlichen Ernst bearbeitet, verwischt die Untersuchung dann doch den Unterschied zwischen der Bibel und „Mein Kampf“, zwischen der „Ästhetik des Widerstands“ und der Ästhetisierung der Politik.

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