J. Zarnowski: State, Society and Intelligentsia

Cover
Titel
State, Society and Intelligentsia. Modern Poland and its Regional Context


Autor(en)
Zarnowski, Janusz
Reihe
Variorum Collected Studies Series 759
Erschienen
Hampshire 2003: Ashgate
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
£ 57.50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Ackermann, Europa Fellows, Collegium Polonicum, Slubice Email:

Der vorliegende Band vereint eine Reihe von bereits publizierten Aufsätzen Janusz Zarnowskis. Der langjährige Mitarbeiter des Historischen Instituts an der Polnischen Akademie der Wissenschaften setzt sich darin mit dem Zusammenhang von Modernisierung, Nationsbildung und der Rolle der Intelligenzija insbesondere in Polen auseinander. Ohne Anspruch auf eine zusammenhängende Analyse zu erheben, hat sich Zarnowski vorgenommen, zum Abschluss seiner akademischen Karriere noch einmal all diejenigen Arbeiten zu vereinen, die nicht auf Polnisch erschienen sind. Daher handelt es sich um eine Sammlung von Faksimiles der auf Englisch, Deutsch und Französisch publizierten Aufsätze, die im Laufe der 1980er und 1990er Jahre, aber auch bereits in den 1970er Jahren publiziert wurden.

So vermag die Lektüre dieser vor allem eines: einen Überblick über die Forschungsinteressen des Autors sowie der Entwicklung der marxistisch geprägten polnischen Sozialgeschichte zu verschaffen. Diese erstrecken sich von der politischen Geschichte der Zweiten Polnischen Republik über eingehende Analysen ihrer sozioökonomischen Struktur hin zu einer Geschichte der Entstehung der Polnischen Intelligenzija als gesonderter gesellschaftlicher Schicht. Dabei gelang es ihm nur selten, die polnischen Spezifika hinter sich zu lassen und die eigenen Forschungen in einem breiteren ostmitteleuropäischen Kontext zu verorten. Dies schlägt sich z.T. auch in den Fußnoten der jeweiligen Aufsätze nieder. So zitiert Zarnowski nur selten andere als polnische Sekundärliteratur.

Der Mangel einer überzeugenden Struktur wird im Einzelnen durch anregende Ausführungen zu speziellen Aspekten der polnischen Geschichte gelindert. So geht Zarnowski näher auf den Übergang von der Adelsnation hin zu einem breiter gefassten nationalen Konzept unter den Bedingungen der Teilung und der zunehmenden Modernisierung der Region im Laufe des 19. Jahrhunderts ein. Er betont die Übernahme überlebenswichtiger Funktionen für den Bestand der Nation durch die Intelligenzija. Dieser Prozess ging einher mit der Urbanisierung und der Verarmung weiter Teile des Adels. Im Aufsatz über die Rolle der polnischen Kultur für die Befreiungskämpfe aus dem Jahre 1979 vertritt Zarnowski die These, dass diese einmalig und unentbehrlich während des Nichtbestands eines Staates gewesen sei. So war es seiner Meinung nach die als Hochkultur gefasste Kultur in Verbindung mit der Religion, die eine Neugründung der Polnischen Republik nach dem 1. Weltkrieg ermöglichte. Hier arbeitet er recht schlüssig heraus, dass die Werke der Intelligenzija erst mit der Einführung eines modernen Bildungssystems breitere Bevölkerungskreise erfassten. Dennoch wird die verständliche Faszination für die Leistungen der Ahnen nur an wenigen Stellen problematisiert. Es bleibt offen, warum trotz der Teilungen und des starken Assimilierungsdrucks die Mythen und Visionen der Dichter und Denker auf fruchtbaren Grund fielen. Ein wichtiges Bindeglied, die Religion, wird hingegen genannt, aber nicht näher ausgeführt. Der Begriff Intelligenzija wird dabei als Konzept selbst kaum in Frage gestellt.

Zwei Aufsätze thematisieren die Entstehung der mitteleuropäischen Nationalstaaten nach Pariser Vororteverträgen. Der Autor nimmt eine Bestandsaufnahme vor und schildert die Rahmenbedingungen, die durch den Zusammenbruch des Habsburger- und des Russischen Reiches sowie durch die russische Revolution gekennzeichnet waren. Seine Analyse der Versailler Verhandlungen und der zur Verfügung stehenden Konzepte, bietet wenig Neues, vor allem ist sie Ausdruck einer polnisch nationalen Sichtweise. So bemerkt der Autor zwar, dass alle neuen Staaten schwache Konstrukte waren, betont aber vor allem die Schwächen der Zweiten Polnischen Republik: deren ethnische Komplexität, den mangelnden Schutz gegenüber Deutschland und die Bedrohung durch die Bolschewiki.

In den Texten über die polnische Arbeiterbewegung erscheint der Nationalismus vor allem als Prinzip der Armutsbewältigung. Zarnowski stellt fest, dass vor dem Zweiten Weltkrieg nicht die gesamte Arbeiterschaft Polens in die polnische Nation integriert war. Auf eine explizite Erwähnung der jüdischen Arbeiter verzichtet er. Sein in weiten Strecken marxistischer Deutungsansatz gerät ins Straucheln, wenn es gilt, die Verluste des Krieges auf verschiedene Klassen umzurechnen. So konstatiert er, die polnischen Arbeiter wären von den deutschen Repressalien nicht in dem Maße betroffen gewesen wie die Intelligenzija, aber durch Armut und Not wären sie dennoch enger in die Reihen der Nation aufgerückt. Im nach 1945 neu erstehenden Polen habe die Arbeiterschaft dann einen wichtigen Anteil an der Schaffung des Parteistaats gehabt, während die Verbindung zur Zwischenkriegszeit unterbrochen wurde Zarnowski interpretiert die Krisen der Volksrepublik immer auch als Krisen der Arbeiterklasse. So lässt sich Solidarnosc als nationalistisch und religiös konnotierte Arbeiterkampforganisation gegen den autoritären Staat lesen. Zarnowski hebt hervor, dass sie damit aber auch grundlegende Züge und Funktionen einer Gewerkschaft abgelegt habe, was die Rolle der post-sozialistischen Gewerkschaften gestärkt habe. Interessant ist, dass Zarnowski für die 1990er Jahren einen Mangel eigener Ideen der Arbeiterklasse konstatiert. Die Sieger von 1989 seien heute arbeitslos und hätten keine prägnante Alternative zum Nationalismus in seiner kapitalistischen Ausprägung hervorgebracht.

Die Neuveröffentlichungen der Beiträge Zarnowskis zur Debatte über die Entstehung autoritärer Staaten in der Zwischenkriegszeit sowie die Entstehung von Gewaltherrschaft im 20. Jahrhundert ermöglichen mit einem Abstand von 20 Jahren, die Rezeption westlicher Konzepte wie dem Totalitarismus in Polen nachzuvollziehen. Interessant sind hier insbesondere die Ausführungen über die soziale Struktur der Zwischenkriegszeit und die demographischen Folgen des Zweiten Weltkrieges für die polnische Gesellschaft. Qualitativ werden diese gänzlich in marxistischen Kategorien gedeutet, aber die Argumentation mit statistischem Material vermittelt einen guten Überblick, der seit dem nur in wenigen Arbeiten geschärft wurde. Zum Nachdenken regen die Akzente an, die der Autor bezüglich der regionalen Differenzen und der graduellen Veränderung setzt. Er vermag die verheerenden Auswirkungen der Shoa für die polnische Gesellschaft mit einigen Zahlen sehr deutlich zu machen. Auch die mit der deutschen Besatzungspolitik einhergehenden Verluste auf Seiten der Intelligenzija, der Geistlichkeit und der sonstigen Bürgerschaft lassen sich in neutrale Zahlen und marxistische Begriffe fassen. Dieser Teil des Buches ist am aufschlussreichsten, die Problematik der marxistischen Kategorisierung wird hier vom Autor selbst reflektiert. Die folgenden Artikel über neue Technologien im Polen der Zwischenkriegszeit scheinen so etwas wie das Steckenpferd des Autors zu sein, sie sollen an dieser Stelle nicht weiter kommentiert werden.

So bleibt als einzige Konstante des Buches die Auseinandersetzung Zarnowskis mit der Bildung und Rolle der polnischen Intelligenzija. Er schildert im Einzelnen den Anteil der sich im 19. Jahrhundert herausbildenden, zunächst nur schwach umrissenen Gruppe städtischer Intelligenzija an der Modernisierung Polens. Ihre Geschichte lasse sich in drei Phasen einteilen: die Herausbildung bis zum 1. Weltkrieg, die Blüte in der Zweiten Republik, als ihre Vertreter staatstragende Funktionen übernahmen und die Zwitterstellung in der Volksrepublik, wo sich eine neue technische Intelligenzija nach sowjetischem Vorbild herausbildete, alte Werte aber zum großen Teil erhalten blieben und wichtige Funktionen für die Bewahrung nationaler Narrative erneut übernommen wurden. Die Hauptthese Zarnowskis besagt, dass die Intelligenzija in Zeiten der Modernisierung die Rolle von Übersetzern gespielt habe, die westliche kulturelle Paradigmen in polnische Realia übertrugen. Dies gilt für die Romantik genauso wie für den Realismus oder die Strömungen des 20. Jahrhunderts.

Abschließend ist festzustellen, dass der Titel des Buches als Diskussionsbeitrag zum Zusammenhang zwischen Modernisierung und der Rolle der Intelligenzija nicht alle durch den Titel geweckten Erwartungen erfüllt. Die lose Folge der zum Teil veralteten Abhandlungen hat daher vor allem einen historiographiehistorischen Wert. Da er sich in die Bemühungen des Verlages Ashgate um die Publikation solcher Sammlungen einreiht, in deren Rahmen u.a. auch die Arbeiten der Ungarin Magda Ádám erschienen sind, sollte der vorliegende Band auch als solches Dokument betrachtet werden. Neben wichtigen Einsichten in die Sozialgeschichte Polens lassen sich in Zarnowskis Denken die Rezeption und Weiterentwicklung westlicher Impulse in der marxistischen Forschung unter den Bedingungen der Volksrepublik Polen nachvollziehen.

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