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Titel
Feindschaft.


Herausgeber
Brehl, Medardus; Platt, Kristin
Reihe
Genozid und Gedächtnis
Erschienen
Paderborn 2003: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
279 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ferdinand Brüngel

Eine klassische Auffassung des Übels artikuliert die These: „Malum est privatio boni“, das Übel sei das Fehlen des Guten. Analog ließe sich von daher einleuchtend behaupten, Feindschaft sei nichts anderes als das Fehlen von Freundschaft. In der abendländisch europäischen Geschichte des Aristotelismus spricht die Nikomachische Ethik zwar von Charaktereigenschaften der Unbeherrschtheit, die man meiden muß, aber viel zentraler und ausführlicher ist jedoch die Freundschaft als Tüchtigkeit. Die sprachlichen Zugänge zum Phänomen der Feindschaft geben freilich nur Hinweise und Richtungen an, ohne sich der wirklichen Bedeutung der Feindschaftskategorie zu stellen.

Von daher ist es den Herausgebern zu verdanken, die „Feindfigur“ wissenschaftlich fokussiert und untersucht zu haben. In der Moderne werden Gewalt, Krieg und Vernichtung über aktualisierte Muster und Figuren von „Feind“ und „Feindschaft“ legitimiert. Es geht den Herausgebern zentral um die Frage einer möglichen Dekonstruktion dieses Denkens. Es sollen verborgene kognitive Strukturen aufgedeckt werden, die Menschheits- Katastrophen wie Genozide, Massaker und geplante Exklusionen mitverursachen. Die Beiträge modifizierten und differenzieren die These von einer nur aus Privationen bestehenden Feindschaftsbegrifflichkeit in bedenkenswerter Weise.

Der umfangreiche Einleitungsartikel der Herausgeberin Kristin Platt – überschrieben „Feindmuster, Kriegsmuster, Profile“ – ist bemüht, „die Feindfigur nicht außerhalb ihrer historischen Codierungen zu denken“. Sie weist darauf hin, dass dem Feind in anderen Diskursen, z. B. in der anthropologischen Rede, eine positive Realität zukommt. Der Feind ist als solcher existent und gefährlich. In verschiedenen Anläufen und Szenarien versucht die Autorin differenzierende Exklusionen zu beschreiben. Feindschaft und Krieg werden analysiert. Was das Profil des Feindes angeht, so ist der Feind eine „eindimensionale Setzung, eine Positionierung, die die Spannung aus Binarität und Ambivalenz aufhebt“ und somit eine Dynamik unmöglich macht. Setzung, Positionierung, schließlich Konstruktion betonen die subjektive Seite im Konzept der Feindschaft. Die Fülle der behandelten Aspekte macht aber deutlich, dass hier keine Reifizierung stattfindet, sondern dem unterschiedlichen „fundamentum in re“ nachgegangen wird.

Aus der Fülle der auf hohem Differenzierungsniveau stehenden Einzelbeiträge seien hier nur einige inhaltliche Aussagen und repräsentative Formulierungen aufgegriffen, die den Aktualitätsgrad dieser Publikation unterstreichen. Am Beispiel Carl Schmitts wird gezeigt, dass „Freund-Feind-Gruppierungen“ als Träger des Politischen fungieren. Innerstaatliche Feinderklärungen lassen bestimmte Bevölkerungsgruppen als „heterogen“ erscheinen. Auch die Berufswissenschaft der Jurisprudenz verstrickt sich in den Prozeß des Rückganges des Rechtlichen. Der Feindschaftsdiskurs wird auch durch seine Bezüge zum Mythischen gekennzeichnet. „Solidarität nach innen und Feindschaft nach außen“ bilden einen ersten Richtwert in der Aufdeckung gemeinsamer mythischer Wurzeln. Der sozialpsychologisch viel zu wenig aufgearbeitete Sündenbockmechanismus, der nach René Girard aus mimetischer Rivalität hervorgeht, bildet einen ersten Ansatz zur Entmythologisierung von Gewalt- und Feindschaftsverhältnissen.

Beobachtung zweiter Ordnung bildet ein zentrales Strukturmerkmal der modernen Gesellschaft. Die Sondierungen, die mit der Luhmannschen Kategorie der Beobachtung zweiter Ordnung unternommen werden, sollen dazu verhelfen, Spaltungen in der Beobachtung erster Ordnung wahrzunehmen und gegebenenfalls zu korrigieren. Der Frage nach dem Wesen der Feindschaft wird auch über den Weg einer geschichtlichen Untersuchung der ältesten Schriftkultur der Welt nachgegangen. Lexikalische Befunde belegen Feindschaftsbegrifflichkeit bereits Jahrtausende vor der christlichen Zeitenwende. Es wird nachgewiesen, dass Feindschaft nicht nur eine Erscheinung der äußeren Politik meint.
Am Beginn des bürgerlichen Zeitalters entstehen über literarische Produktionen spezifische Formen der Loyalitätsstiftung. Es kommt so zur Erregung niederer Instinkte und zu Hassgefühlen. Der Feind wird als derjenige definiert, „der außerhalb der Grenzen eines emotional und familial homogenen Gefüges" steht. Die Absetzung Königs Ludwigs II. von Bayern fügt eine neue Facette in das Repertoire der Feindschaftserklärungen ein. Es handelt sich nicht mehr nur um ein Außerhalb eines emotional homogenen Gefüges, sondern um den administrativen Bann, der einen Menschen oder eine Gruppe zum Feind oder zur Feindin der Vernunft erklärt. Infolgedessen müssen andere als blutige Zwangsmaßnahmen erfunden werden, da die herkömmlichen Abwehr- und Angriffswaffen nicht mehr greifen. Die Feinde der Vernunft werden zu Opfern der administrativen Vernunft.

Im deutschen Kolonialdiskurs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tauchen "eingeborene Feinde" auf. Die semantische Trennschärfe zwischen den Begriffen „Anderer“, „Fremder“ und „Feind“ wird aufgehoben. Die fatale Konstruktion lautet: Um Identität zu erlangen bedarf es eines „existentiellen Feindes.“ Bestimmte Anteile eines Ichs (eines Volkes, einer Nation) werden wegen ihrer Homogenität und Selbstähnlichkeit abgestoßen und zu einem dauerhaften Gegner stilisiert, zu einem "Feind", den man zu besiegen hofft. Es handelt sich um eine Art „Selbstverfeindung“. Eine besondere Beleuchtung erfahren die im Nationalsozialismus investierten Emotionen, die geradezu eine Sucht nach Feinden hervorgerufen haben. Die Feindschaftsagenda wird durch einen weiteren Aspekt ergänzt; den "malaiischen Amok". Es handelt sich um einen unscharfen Titel für eine okzidentale Kriminalfigur. Der Amoklauf vollzieht dabei einen Gestaltwandel von einem kriegerischen Ritual hin zu einem psychiatrischen Vorfall. Ausgehend von bestimmten Reizen wird das unterscheidende Bewußtsein aufgehoben und auf ur-instinktive Regungen reduziert. Es kommt zu einem "Massenreflex", der durch Abwesenheit von Distinktion und Verortung charakterisiert ist. Kriege und Feindschaften scheinen von einem zivilisatorischen Außen ins Innere der Psyche einzuwandern. Dadurch entsteht so etwas wie "beliebige Feindschaft", in der man immer und überall zum Feind aller werden kann, wo der Unterschied der Verschuldung nicht mehr greift. Es bleibt natürlich fraglich, ob kollektive Katastrophen ein solches Erklärungsmuster zulassen. Daß Hitler neuerdings unter Suggestionsverdacht geraten ist und als Fall einer abgebrochenen Hypnosebehandlung mit posthypnotischem Auftrag plausibel gemacht werden soll (Vgl. Horstmann: Hitler in Pasewalk) rückt in die Nähe eines solchen amokähnlichen Musters beliebiger Feindschaft.

Scipio Sighele stellt in seiner Abhandlung zur "Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen" einen besonderen Bezug zum Konstrukt „Masse“ heraus. „Masse“ meint einen Topos, der als ideengeschichtliche Konstante in Erzählungen und Diskursen erscheint. Die personalisierte „Masse“ und der vermasste Durchschnittsmensch sind Metaphern der Feind-Mobilisierung. Hier scheinen in der Tat Bezüge zum Amoklauf wirksam zu werden. Der „primitive“ Amokläufer gilt als Massenmensch oder stellt gleichsam eine „personifizierte“ Masse dar.

Ein abschließender Beitrag bemerkt, dass Feindschaft ebenso wie „das Böse“ ein universelles Phänomen sei, dessen Geschichte mit der Geschichte der Menschheit zusammenfalle. In der Geschichte der europäischen Neuzeit wird deutlich, dass zumindest seit der Aufklärung die Zähmung und fortschreitende Eliminierung der Feindschaft thematisch wurden. Die damit verknüpften Erwartungen wurden aber nicht nur nicht erfüllt, sondern mit dem Verschwinden einer Feindschaftsform ergaben sich neue und angesichts des technologischen Fortschritts gefährlichere Feindschaftsformen.

Zum Schluß kehrt die anfangs gestellte Frage nach der "Ontologie" von Feindschaftsverhältnissen zurück. Als Vorschlag zur Ergänzung und Vereinheitlichung der überaus differenzierten und niveauvollen Arbeiten sei eine Formel verwendet, die man als „Sosein in-über Dasein“ bezeichnen könnte. Das Feindschaftskonstrukt geht einerseits über die erfahrene und erlebte Wirklichkeit hinaus, andererseits ist es immer nur in der daseinsnahen Verwirklichung anzutreffen. Es ergeben sich zwei Extreme in den Feindschaftsdiskursen: die über Wirklichkeit hinaus konstruierte Idealität eines Feindschaftskonzeptes und eine in bloßen Faktizitäten aufgehende Sichtweise. In analoger Begrifflichkeit hingegen sind das „Ja“ und „Nein“ weder univok zu vereinheitlichen noch äquivok zu trennen.

Über diesen begrifflichen Ergänzungsvorschlag hinaus sei hervorgehoben, dass die Publikation einen wertvollen Beitrag zur qualitativen Verbesserung Europäischer Erinnerungsgemeinschaften leistet. Auch wenn noch nicht alle Beiträge zu einer Syntheseeinheit zusammengeführt sind, wird ein prüfendes Sichten der Einzelbeiträge doch zum Ergebnis kommen, dass Fundamente für eine aufbauende Weiterführung der Thematik gelegt wurden.

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