S. Noethen: Alte Kameraden und neue Kollegen

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Titel
Alte Kameraden und neue Kollegen. Polizei in Nordrhein-Westfalen 1945–1953


Autor(en)
Noethen, Stefan
Reihe
Villa ten Hompel, Schriften 3
Erschienen
Anzahl Seiten
567 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Roth, Bonn

Die historische Polizeiforschung hat sich in den letzten Jahren vermehrt der "Nachkriegszeit" und frühen Bundesrepublik zugewandt. Ausgehend von der Frage nach den Hinterlassenschaften der NS-Zeit sind mittlerweile mehrere Untersuchungen entstanden, die die institutionelle Entwicklung im Schnittfeld von Besatzungs- und Vergangenheitspolitik behandeln.1 Stefan Noethen, Mitarbeiter an der Villa ten Hompel in Münster, stellt sich mit seiner voluminösen Untersuchung in diese Reihe. In der als Kölner Dissertation entstandenen Studie untersucht er personelle Erneuerung und Kontinuität in den Polizeibehörden der ehemaligen preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen bis zum neuen NRW-Polizeigesetz. Er greift dabei schwerpunktmäßig auf Unterlagen der britischen Besatzungs- wie der sich neu konstituierenden deutschen Polizeibehörden zurück und verschränkt die allgemeine Polizeipolitik mit den Lebensläufen einzelner Beamter. Vom Ansatz her ähnelt "Alte Kameraden" den Untersuchungen Stephan Lincks (zu Schleswig Holstein) oder Frank Lieberts (über Niedersachsen) und stellt sich - im Unterschied zu der zeitgleich erschienenen Studie Klaus Weinhauers, die sich als "kulturhistorisch erweiterte Sozial- und Organisationsgeschichte der Polizei" präsentiert - als sozialhistorisch erweiterte Organisations- und Personalstudie vor.2

Nach einer Einleitung zum Stand der Forschung und einem "grundierenden" Kapitel zur Polizei des NS-Staates folgt eine ausführliche Darstellung der besatzungspolitischen Rahmenbedingungen. Der knapp 300-seitige Hauptteil widmet sich der personellen Entwicklung der "Nachkriegspolizei" im Wechsel von chronologischen und systematischen Zugriffen: von der Entnazifizierung und Entmilitarisierung bis zu den verschiedenen Wiedereinstellungswellen, von den Polizeichefs bis zu den Hilfspolizisten, von den ersten durchgreifenden Säuberungsversuchen bis zur Unterbringung ausgeschiedener Polizeibeamter nach Artikel 131 des Grundgesetzes Anfang der 50er-Jahre.

Im Anschluss an frühere Untersuchungen betont Noethen die Versäumnisse der britischen Besatzungsmacht, die ihre anfänglichen Bemühungen um einen Umbau des deutschen "Polizeikörpers" sukzessive abschwächte und damit auch wichtige Eckpfeiler der geplanten Polizeireform relativierte (Dezentralisierung, Demilitarisierung, Denazifizierung). Verantwortlich für diese Linie war zunächst das aus der Kolonialverwaltung stammende Konzept des "Indirect rule", das auf eine möglichst weitgehende Einbeziehung vorhandener Ressourcen und eine Minimierung der Besatzungskosten zielte. Überdies passten die Briten ihre Reformpolitik flexibel an die jeweils aktuellen Sicherheitsinteressen an. Die Furcht vor inneren Unruhen nach der Besetzung und die neue Frontziehung im Anfang der 50er-Jahre eskalierenden Ost-West-Konflikt führten zu Zugeständnissen an die deutschen Behörden.

Noethen problematisiert zudem den "schiefen Blick" der britischen Administration auf die deutsche Polizei. Obgleich die Verbrechen nationalsozialistischer Polizeieinheiten bekannt waren, hatten diese Kenntnisse für die Besatzungspolitik nur geringe Bedeutung. Die Säuberung wurde weitgehend formalisiert betrieben und ließ die konkrete Belastung der Akteure oft außer Acht. Während Angehörige der Kriminalpolizei aufgrund ihrer unterstellten fachlichen Kompetenz häufig geschont wurden, betrachtete man ehemalige Wehrmachtsoffiziere, die das britische Feindbild des "Polizei-Soldatens" bedienten, ungleich misstrauischer.

Doch natürlich wird auch die Haltung der "deutschen Seite" thematisiert. Neben den politischen Widerständen gegen Reform und Entnazifizierung rückt Noethen vor allem die Praxis der örtlichen Polizeibehörden in den Blick, die sich angesichts von Personalmangel und finanziellen Engpässen bald für die Wiedereinstellung früherer Beamter einsetzten und eine zunehmende Indifferenz gegenüber deren NS-Vergangenheit zeigten. Auf diese Weise wurden bereits in den 40er-Jahren die Kontinuitätslinien zur NS-Zeit verstärkt. Die in den 50er-Jahren vorgenommene Wiedereingliederung der "131er", von Norbert Frei zurecht als "deprimierende" vergangenheitspolitische Wegmarke gekennzeichnet3, bedeutete somit personalpolitisch nur eine "Abrundung": Die Polizei hatte zu diesem Zeitpunkt bereits wieder einen Großteil der ehemaligen NS-Beamten in Dienst genommen.

So zeigt Noethens Arbeit eine doppelte Entwicklung. Auf der einen Seite steht die 1945 vorgenommene Auswechslung der lokalen Polizeichefs sowie die Rekrutierung einer Generation "neuer Kollegen", die zwar in Wehrmacht und HJ gedient hatten, jedoch nicht in die "nationalsozialistischen Traditionen" des Polizeiapparates eingebunden waren. Auf der anderen Seite steht jedoch eine zunehmende Präsenz von "alten Kameraden" unter den Oberbeamten (1948 ca. 55%). Überdies gelangte eine Reihe von NS-Verbrechern wieder in die Polizei - seien es Kriminalbeamte, die sich an den Massenmorden der Einsatzgruppen beteiligt hatten, seien es Angehörige von Polizeibataillonen oder sogar Polizisten, die wegen Endphaseverbrechen vorbestraft waren. Vertreter einer "anderen", dezidiert von NS-Bezügen "gesäuberten" Polizei blieben dagegen vereinzelt und isoliert.

Aus der Arbeit herauszuheben ist das äußert instruktive Schlusskapitel. Es verdeutlicht die Demokratisierungsdefizite der nordrhein-westfälischen "Nachkriegspolizei" mit Blick auf polizeiliche Ausbildung, die Haltung der Beamtenschaft und die innerpolizeiliche "Vergangenheitsbewältigung". Noethen zeigt, wie schnell man auf deutscher Seite die britischen Reformvorstellungen abstreifte und zum "Weimarer Polizeimodell" zurück kehrte. Dieses Modell appellierte zwar einerseits an eine staatsbürgerlich gefestigte Polizei, bedeutete andererseits aber eine Wiederbelebung militärähnlicher und männerbündischer Traditionen. Die politische Erziehung in den Polizeischulen war überdies oberflächlich, und die Verpflichtung der Beamtenschaft auf den demokratischen Staat dürfte sich zunächst in äußerlichen Zugeständnissen erschöpft haben. Dies verdeutlicht ein Bild aus dem Alltag der Polizeischule Düsseldorf: hier wickelte man den staatsbürgerlichen Unterricht ordnungsgemäß vor den Überwachungsmikrofonen der Briten ab, aufkommende Einwände und Zweifel wurden allerdings für die "abhörsicheren" Räume aufgespart (S. 424).

Dem eher schwachen Bekenntnis zur neuen Staatsform entsprach eine meist unkritische Haltung zur NS-Zeit. Noethen greift hier die zahllosen Entlastungs- und Entschuldungsformeln auf, die sich nicht nur in den Personal- und Entnazifizierungsakten niederschlugen, sondern zu allgemeinen "Unschuldslegende[n]" (S. 487) verfestigten und schließlich in einer exkulpatorischen Polizeihistoriografie tradiert wurden: vom "Befehlsnotstand" bis zur "erzwungenen SS-Dienstgradangleichung", von der bloß "formalen Parteimitgliedschaft" bis zur innerlich "korrekt" gebliebenen Polizei. Auch hier findet der Autor ein treffendes Bild: Nach den Selbstauskünften der Duisburger Polizeibeamten während der Entnazifizierung hatten immerhin 60 Prozent 1932 für die Sozialdemokratie gestimmt; und noch im März 1933 waren angeblich 59 Prozent Wähler von Zentrum und SPD (S. 479) - die Polizei als "republiktreue" Imagination.

Noethens "Fazit" (S. 497f.) verzichtet leider darauf, die Ergebnisse der Studie systematisch darzustellen und vor dem Hintergrund der Forschung zu diskutieren. (Überdies hat es der Verlag versäumt, dem Buch ein Register zu spendieren, mit dem man besser auf die biografischen und lokalhistorischen "Mikrogeschichte(n)" hätte zugreifen können.) "Alte Kameraden" bestätigt jedoch weitgehend die Befunde der jüngeren NS-Elitenforschung: Demnach hätten Mängel der Aufarbeitung und "Entnazifizierung" die Gründung der Bundesrepublik moralisch belastet, die ehemaligen NS-Eliten seien jedoch auf politisch-institutionellem Wege "gebändigt" und langfristig "zivilisiert" worden. Einen neuen Akzent setzt der Autor im Bezug auf die Reorganisation des NS-Personals in den staatlichen Institutionen. Zwar finden sich auch bei ihm zahlreiche Hinweise auf "Kameradschaftshilfe" und Ehemaligen-Netzwerke, wie sie in den Untersuchungen von Ulrich Herbert oder Patrick Wagner betont werden.4 Noethen bewertet diese Hinweise aber eher (m.E. zu) vorsichtig. Er verweist dagegen auf die Vielfalt der Faktoren, die sich bei der "Restauration vor Ort" auswirkten: nicht nur "Schweigekartelle" und "Korpsgeist", sondern auch politische Profilierungsversuche, vermeintliche Sachzwänge und konkurrierende Strategien von Public Safety Officers, Polizeiausschüssen und Polizeichefs. Neben funktionierenden Seilschaften macht er "Naivität" und "Nachlässigkeit" (S. 182, 407f.) für manch fragwürdige Personalentscheidung verantwortlich - eine Vermutung, die wiederum bei politisch "unverdächtigen" Polizeichefs oder den "fachfremd" besetzten Polizeiausschüssen plausibel erscheint. Überdies macht Noethen die Informationsbeschaffung als zentrales Problem aus. Die gezielte Löschung der örtlichen Datenspeicher durch die NS-Behörden erschwerte den Nachweis von politischen Belastungen; allerdings unterließen die deutschen und britischen Stellen auch vielfach die Heranziehung von Ersatzüberlieferungen. Man vermied kritische Nachfragen, "glaubte" die Selbstauskünfte der ehemaligen NS-Beamten und "verließ" sich auf verschleiernde Sprachregelungen wie "auswärtiger Einsatz" oder "Bandenbekämpfung" - eine präventive, subkutane Verdrängung.

Bleibt der Blick auf zukünftige Forschungen. Hier wäre zum einen eine stärkere Verknüpfung der institutionengeschichtlichen Perspektive mit der Alltagspraxis geboten. Zum anderen bieten sich nun allmählich Synthesen und Vergleiche an - sei es hinsichtlich verschiedener Bundesländer, Polizeieinheiten und Berufsgruppen, sei es hinsichtlich der unterschiedlichen Felder der "Entnazifizierung" (personelle "Säuberung", Internierung, Strafverfolgung). Zur Kontinutät polizeilicher Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster hat der Autor bereits eine ergänzende Studie angekündigt; zu den anstehenden Synthesen hat seine vorliegende Arbeit einen wesentlichen Baustein geliefert.

Anmerkungen:
1 Vgl. Fürmetz, Gerhard; Reinke, Herbert; Weinhauer, Klaus (Hgg.), Nachkriegspolizei. Sicherheit und Ordnung in Ost- und Westdeutschland 1945-1969, Hamburg 2001; Groh, Christian (Hg.), Öffentliche Ordnung in der Nachkriegszeit, Ubstadt-Weiher 2002; Linck, Stephan, Der Ordnung verpflichtet: Deutsche Polizei 1933-1949. Der Fall Flensburg, Paderborn 2000; Wagner, Patrick, Hitlers Kriminalisten. Die deutsche Kriminalpolizei und der Nationalsozialismus zwischen 1920 und 1960, München 2002; Weinhauer, Klaus, Schutzpolizei in der Bundesrepublik. Zwischen Bürgerkrieg und Innerer Sicherheit: Die turbulenten sechziger Jahre, Paderborn 2003.
2 Vgl. Linck, Der Ordnung verpflichtet (wie Anm. 1); Liebert, Frank, "Die Dinge müssen zur Ruhe kommen, man muss einen Strich dadurch machen". Politische "Säuberung" in der niedersächsischen Polizei 1945-1951, in: Fürmetz; Reinke; Weinhauer (Hgg.), Nachkriegspolizei (wie Anm. 1), S. 71-103; zu Weinhauers Arbeit (wie Anm. 1, Zitat S. 12) auch die Rezension in: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-3-021. Da die Arbeiten von Noethen und Weinhauer nahezu zeitgleich erschienen sind, nehmen sie trotz mehrerer möglicher Anknüpfungspunkte leider nur lose Bezug aufeinander.
3 Vgl. Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1999, S. 88, 98.
4 Zu Reintegration, Anpassung und networking der ehemaligen NS-Eliten Herbert, Ulrich, Deutsche Eliten nach Hitler, in: Mittelweg 36 (1999), H. 8, S. 66-82; ders., Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, 3. Aufl., Bonn 1996, S. 434ff., 491ff.; zu den Netzwerken in der Kriminalpolizei Wagner, Hitlers Kriminalisten (wie Anm. 1), S. 149-171.

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